Deutsche Rechtsgeschichte
Ein systematischer Grundriss
der geschichtlichenGrundlagen des deutschen Rechts
von den Indogermanen bis zur Gegenwart
von
Dr. Gerhard Köbler
o. Professor
6., durchgesehene Auflage
Verlag Franz Vahlen München
CIP-Titelaufnahme der Deutschen Bibliothek
Köbler, Gerhard:
Deutsche Rechtsgeschichte: ein systematischer Grundriss
der geschichtlichen Grundlagen des deutschen Rechts
von denIndogermanen bis zur Gegenwart / von Gerhard Köbler. -
6., durchges. Aufl. - München: Vahlen, 2005
(Vahlen-Studienreihe Jura)
Bis 3. Aufl. u. d. T.: Köbler, Gerhard: Rechtsgeschichte
ISBN 3 8006 1387 5
ISBN 3 8006
ã 2005 Verlag Franz Vahlen GmbH, München
Satz und Druck: Presse-Druck, Augsburg
Vorwort
Die Rechtsgeschichte ist innerhalb der Rechtswissenschaft seit dem frühen 18. Jahrhundert ein besonderes Studienfach, dem es wie der Rechtssoziologie, Rechtsphilosophie und Rechtsvergleichung um die Grundlagen der geltenden Rechtsordnung geht.
Mit der ständigen Zunahme des juristischen Wissensstoffes wurde das ebenfalls immer umfangreicher werdende Gebiet der Rechtsgeschichte allmählich in eine Randlage gedrängt. Nur durch das Verstehen des geschichtlichen Werdens des Rechtes kann aber die Bildung geistig selbständiger, kritisch denkender und verantwortlich handelnder Juristen auch tatsächlich gelingen. Deswegen ist die Rechtsgeschichte als Grundlage des geltenden Rechtes unentbehrlich.
Sie jedermann leicht zu eröffnen ist das Ziel dieses Buches. Deswegen fasst es auf seinen rund 300 Seiten entgegen dem Herkommen den gesamten durch Wissenszuwachs und Fächerzersplitterung sehr unübersichtlich gewordenen historischen Stoff, gleich ob öffentliches oder privates Recht, älteres oder neueres, von Anfang an deutsches oder ursprünglich römisches Recht unter Beschränkung auf seine wichtigsten Grundzüge erstmals zu einer geschlossenen, bis an die unmittelbare Gegenwart herangeführten Einheit zusammen. Diese teilt es klar in in drei Teile mit je drei, also insgesamt neun, fast durchweg zeitlich bestimmten Abschnitten (§ 1-9). Die jeweiligen Epochen behandelt es nach einer dem modernen Verständnis entlehnten (und deswegen anachronistischen, aber dem Verständnis der Gegenwart hilfreichen), in allen Perioden ziemlich gleichmäßig eingehaltenen systematischen Gliederung (A) Grundlagen [I. Politik, II. Wirtschaft, III. Gesellschaft, IV. Geistesgeschichte], B) Recht [I. Allgemeines mit 1. Grundsätzlichem, 2. Quellen und 3. Rechtsidee, II. öffentlicher Bereich mit 1. Verfassung, 2. Verwaltung, 3. Verfahren und 4. Strafe sowie III. privater Bereich mit 1. Person, 2. Familie, 3. Erbe, 4. Sache und 5. Schulden]). Schließlich hebt es halbfett gesetzte Kerninhalte (Schlagwörter) und umgebenden Text (Kontext) drucktechnisch von kleingedruckten ergänzenden Ausführungen und weiterführenden Literaturhinweisen besonders ab, so dass (drei bzw. vier) abgestufte Schichten von Informationen für verschiedene Arten vorhandener Leserbedürfnisse zur Verfügung stehen.
Trotz dieser dem Leser dienlichen Vereinfachungen bemüht sich das Buch darum, möglichst wenig gegenwärtige Begrifflichkeit im Wege des Vorverständnisses in die durch Betrachtung der Quellen grunderfahrene Vergangenheit hineinzutragen und auch nur das im jeweiligen Zeitabschnitt belegte Geschehen diesem zuzuordnen. Weiter legt es gesteigerten Wert auf die knappe Umreißung der jeweiligen politischen, wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und geistesgeschichtlichen Voraussetzungen des Rechts, ohne welche dieses sich nicht verstehen lässt. Schließlich versucht es trotz aller räumlichen Beschränkung die möglichst weitgehende Erfassung des gegenwärtigen Forschungsstands.
Seine Grundanlage ist systematisch, so wenig sich das Recht auch für eine wirkliche geometrische Darstellung eignet. Insofern ergänzt dieses schlichte Lernbuch ein alpabetisch geordnetes Wörterbuch der Rechtsgeschichte. Beide haben nebeneinander ihre selbverständliche Berechtigung.
Widmen möchte ich das Buch meinem sehr verehrten Gießener romanistischen Kollegen und lieben Freund Alfred Söllner.
Gießen, den 15. 1. 1977 Gerhard Köbler
Die sechste Auflage bringt das sichere und einfache zeitliche Orientierung für Anfänger wie jederzeitige Vergewisserung für Fortgeschrittene anstrebende Buch auf den neuesten Stand. Darüber hinaus versucht sie eine weitere Vereinfachung des Verständnisses. An zahlreichen Stellen fügt sie vertiefende Hinweise auf grundlegendes Schrifttum ein, wie sie sich konzentriert und vermehrt auch in meinem Zielwörterbuch europäischer Rechtsgeschichte finden..
Erlangen, den 31. 12. 2004 Gerhard Köbler
Inhalt
Abkürzungsverzeichnis........................................................................................................
Zeitliche Übersicht..............................................................................................................
Einführung.........................................................................................................................
A) Begriff...........................................................................................................................
B) Bedeutung.....................................................................................................................
C) Einordnung....................................................................................................................
D) Quellen...........................................................................................................................
E) Gliederung.....................................................................................................................
F) Literaturhinweise...........................................................................................................
Erster Teil: Die alten Völker............................................................................................
§ 1 Indogermanen (um 2000 v. Chr.)..................................................................................
§ 2 Römer (753 v. Chr.-476 n. Chr.)...................................................................................
§ 3 Germanen (2. Jt. v. Chr.?-500 n. Chr.)..........................................................................
Zweiter Teil: Das fränkisch-deutsche Reich (5./6. Jh.-1806)..........................................
§ 4 Frühmittelalter (5./6. Jh.-10./11. Jh.).............................................................................
§ 5 Hochmittelalter und Spätmittelalter (10./11. Jh.-15. Jh.)..............................................
§ 6 Frühe Neuzeit (16. Jh.-18. Jh.)......................................................................................
§ 7 Deutscher Bund (1815-1866) und kaiserliches zweites Reich (1871-1918).................
§ 8 Republikanisches zweites Reich und totalitäres Drittes Reich.....................................
§ 9 Die deutschen Staaten auf dem Weg nach Europa........................................................
Sachregister........................................................................................................................
Abkürzungsverzeichnis
* rekonstruierte Wortform
A. Anfang, Auflage, Archiv
ABGB Allgemeines Bürgerliches Gesetzbuch (1811)
ADHGB Allgemeines deutsches Handelsgesetzbuch (1861)
ahd. althochdeutsch (8.-11. Jh.)
ALR Allgemeines Landrecht (1794)
and. altniederdeutsch
as. altsächsisch (8.-12. Jh.)
a° actio (Klaganspruch)
BGB Bürgerliches Gesetzbuch (1900)
C Codex
Cc Code civil (Frankreich 1804)
CCB Constitutio Criminalis Bambergensis (1507)
CCC Constitutio Criminalis Carolina (1532)
CE Codex Euricianus (476)
CT Codex Theodosianus (438)
D Digesten (530/3)
DA Deutsches Archiv
DRW Deutsches Rechtswörterbuch
E Ende
ET Edictum Theoderici (um 500)
FIRA Fontes Iuris Romani Antejustiniani
FS Festschrift
GA Germanistische Abteilung
germ. germanisch
griech. griechisch
HRG Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte
HZ Historische Zeitschrift
I Institutionen
idg. indogermanisch
IRMAE Ius Romanum Medii Aevi
Jh. Jahrhundert
KA Kanonistische Abteilung
Jt. Jahrtausend
lat. lateinisch
LdR Landrecht
LehnR Lehnrecht
M. Mitte
MGH Monumenta Germaniae Historica
mhd. mittelhochdeutsch (11.-15. Jh.)
MIÖG Mitteilungen des Instituts für österreichische Geschichtsforschung
mnd. mittelniederdeutsch (12.-16. Jh.)
N Novellen
NA Neues Archiv
RA Romanistische Abteilung
RE Realenzyklopädie (Pauly/Wissowa)
RWB s. DRW
Ssp Sachsenspiegel (1221-4)
Swsp Schwabenspiegel (um 1275)
SZ s. ZRG
TRG Tijdschrift voor Rechtsgeschiedenis
VI. Liber Sextus (1298)
X Liber Extra (1234)
ZHF Zeitschrift für historische Forschung
ZNR Zeitschrift für neuere Rechtsgeschichte
ZRG Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte
2. Jt. v. Chr. Aufspaltung der Indogermanen in Einzelvölker
451/450 v. Chr. 12-Tafel-Gesetz (lat. lex XII-tabularum)
150-180 Gaius (Institutiones, Einführungslehrbuch)
190-235 Papinian, Ulpian, Paulus, Modestin (römische Jurisprudenz)
um 350 Sammlung kirchlicher canones (Bestimmungen)
438 Codex Theodosianus (Gesetzbuch des römischen Kaisers Theodosius II.)
475/476 Codex Euricianus (Gesetzbuch des gotischen Königs Eurich)
507/511 Lex Salica oder Pactus legis Salicae (Volksrecht der Salfranken)
528/534 Digesten, Institutionen, Codex(, Novellen) des oströmischen Kaisers Iustinian
768-814 Karl der Große (800 Kaiser)
911 Konrad I. (allmählicher Beginn des [ersten] deutschen Reiches)
996 Erwähnung der Gegend Ostarrihhi bei Neuhofen an der Ybbs (Ostgebiet, „Österreich“)
1073 Investiturstreit zwischen König bzw. Kaiser und Papst
1083 Kölner Gottesfriede
ab 1100 Rechtsunterricht in Bologna (Wiederentdeckung und spätere Rezeption des römischen Rechts)
1140 Decretum (neue Sammlung kirchlicher Regeln) des Mönchs Gratian in Bologna
1156 „Privilegium minus“ (Teilung des Herzogtum der Bayern durch Abtrennung Österreichs)
1180 Sturz Heinrichs des Löwen (Teilung des Herzogtums der Sachsen durch Abtrennung Westfalens)
1215 Magna Charta libertatum (Große Urkunde der Freiheiten) in England
1221/1224 Sachsenspiegel Landrecht und Lehnrecht (Eike von Repgow)
1254-1273 Interregnum (Zwischenreich ohne anerkannten Herrscher)
1274/1275 Deutschenspiegel, „Schwabenspiegel“
1282 Belehnung der Söhne Rudolfs von Habsburg mit Österreich durch Rudolf von Habsburg
1291 Bündnis Schwyzs, Uris und Unterwaldens gegen Habsburg (Gründung der Schweiz)
1348 Universität Prag (erste deutsche Universität)
1356 Goldene Bulle Kaiser Karls IV. aus dem Hause Luxemburg für die 7 Kurfürsten
1358 (gefälschtes) „Privilegium maius“ (Herzog Rudolfs IV.) für Österreich
1363 Erbanfall Tirols an Österreich
1479 Reformation des Stadtrechts Nürnbergs
1492 Entdeckung Westindiens (Amerikas) durch Christoph Kolumbus
1495 Einrichtung des Reichskammergerichts
1517 Reformation Martin Luthers
1526 Erbanfall Ungarns und Böhmens an Österreich
1532 Peinliche Gerichtsordnung Kaiser Karls V. (Constitutio Criminalis Carolina)
1583-1645 Hugo Grotius (Völkerrecht, Naturrecht)
1618 Beginn des Dreißigjährigen Kriegs
1627 Petition of Rights in England
1648 Westfälischer Friede (Niederlande und Schweiz selbständig)
1689 Declaration of Rights in England
1690 Samuel Stryk, Usus modernus pandectarum (Moderner Gebrauch der Pandekten)
1713 Pragmatische Sanktion in Österreich
1748 Charles Montesquieu De l’ésprit des lois (Vom Geist der Gesetze)
1768 Constitutio Criminalis Theresiana (theresianisches Strafgesetz Maria Theresias)
1776 Virginia Bill of Rights (erste formelle Verfassung)
1789 Französische Revolution, Erklärung der Menschenrechte und Bürgerrechte
1794 Allgemeines Landrecht (Preußens)
1795 Entwurf Martini des österreichischen bürgerlichen Rechts
1796 Urentwurf des österreichischen Allgemeinen Bürgerlichen Gesetzbuchs
1797 Westgalizisches Gesetzbuch für das 1795 von Österreich aus Polen gewonnene Galizien
1803 Savigny, Friedrich Carl von, Das Recht des Besitzes
1804 Kaisertum in Frankreich und Österreich
1806 Rheinbund, Ende des Heiligen Römischen Reiches
1811/1812 Allgemeines Bürgerliches Gesetzbuch (Österreichs)
1814 Kodifikationsstreit zwischen Thibaut und Savigny
1815 Vereinbarung des Deutschen Bundes unter den deutschen Staaten (mit Österreich)
1833 Deutscher Zollverein (ohne Österreich), Inkrafttreten 1834
1848 Deutsche Nationalversammlung in der Paulskirche in Frankfurt (gescheiterte Verfassung)
1851 Neoabsolutismus (in Österreich) (Silvesterpatente)
1861 Allgemeines Deutsches Handelsgesetzbuch
1867 Norddeutscher Bund, Ausgleich Österreichs mit Ungarn
1871 (Zweites) Deutsches Reich (ohne Österreich)
1877/1879 Reichsjustizgesetze des deutschen Reiches
1881 Obligationenrecht (Schweiz)
1900 Bürgerliches Gesetzbuch des deutschen Reiches
1907 Zivilgesetzbuch (Schweiz)
1914-1918 Erster Weltkrieg
1918 Republiken in Deutschland und (Deutsch-)Österreich
1919 (Weimarer) Verfassung des (zweiten) Deutschen Reiches
1920 Bundesverfassungsgesetz Österreichs
1933-1945 Diktatur Adolf Hitlers ([Drittes] Deutsches Reich)
1938 Anschluss Österreichs (bis 1945) an das Deutsche Reich
1939-1945 Zweiter Weltkrieg
1945 Teilung des Deutschen Reiches und Österreichs in je 4 Besatzungszonen
1949 Gründung der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik
1951 Montanunion (Frankreich, Deutschland, Niederlande, Belgien, Luxemburg und Italien)
1957 Europäische Atomgemeinschaft, Europäische Wirtschaftsgemeinschaft
1990 Beitritt der Deutschen Demokratischen Republik zur Bundesrepublik Deutschland
1992 Europäischer Binnenmarkt
1993 Europäische Union
1995 Aufnahme Österreichs, Schwedens und Finnlands in die Europäische Union
1999 Europäische Währungsunion (rechnerisch)
2002 Europäische Währungsunion (tatsächlich)
2004 Beitritt zehner Staaten zur Europäischen Union
A. Begriff
I. Rechtsgeschichte
Rechtsgeschichte ist die Geschichte des Rechts. Dabei bedeutet Geschichte die Gesamtheit des Vergangenen im Gegensatz zum Gegenwärtigen und Zukünftigen bzw. die Betrachtung dieser Gesamtheit des Vergangenen sowie (objektives) Recht eine aus einzelnen allgemein geltenden Rechtssätzen bestehende Sollensordnung (z.B. jeder soll Versprechen halten, jeder soll nicht töten usw.), welche die Verhaltensweisen von einzelnen Menschen sowie gesamten Gesellschaften zueinander regelt. Folglich ist Rechtsgeschichte die (Betrachtung einer) vergangene(n) rechtliche(n) Sollensordnung.
II. Deutsche Rechtsgeschichte
Für ein bestimmtes Recht wie etwa das deutsche, englische, französische, italienische, spanische, russische, polnische, tschechische, griechische, ungarische, finnische, europäische, türkische, chinesische, römische, kanonische oder gar universale Recht ist dabei naturgemäß seine eigene Vergangenheit besonders bedeutsam. Dabei beschränkt man sich in Deutschland manchmal auf das vergangene Recht deutscher Herkunft und schließt damit das in Deutschland in erheblichem Umfang aufgenommene, ursprünglich fremde römische Recht sowie das kirchliche Recht aus. Richtiger ist es, von den ersten Anfängen an alles vergangene Recht, gleich welcher Herkunft, das für die Entwicklung in den deutschen Ländern wirksam geworden ist, als einheitliche historische Voraussetzung für das Recht der gegenwärtigen deutschen Länder anzusehen und in der (deutschen) Rechtsgeschichte zu erfassen.
III. Rechtsgeschichte im Rechtsstudium
Die Rechtsgeschichte ist wegen des tatsächlichen geschichtlichen Ablaufs in Deutschland und der unablässigen Zunahme des Forschungswissens in zahlreiche Einzelfächer aufgespalten (römische Rechtsgeschichte, römisches Privatrecht, deutsche Rechtsgeschichte, deutsches Privatrecht, Privatrechtsgeschichte der Neuzeit, Verfassungsgeschichte der Neuzeit u. a. m.). Diese sachlich durchaus begründete, durch die wissenschaftsgeschichtliche Entwicklung bedingte Aufteilung verwirrt und überfordert den Außenstehenden und den Anfänger sehr leicht. Deshalb kann und muss der rechtsgeschichtliche Stoff (auch) als kurze, übersichtliche Einheit aller Rechtsgebiete aller zugehörigen Zeiten dargestellt werden, die in drei logischen Schichten dem Anfänger einen klaren Überblick über die wichtigsten Grundzüge erlaubt, dem stärker Interessierten ein Durchschnittsmaß allgemein anerkannter Informationen vermittelt und die darüber hinaus durch weiterführende Literaturangaben auch den Ausgangspunkt für eine selbständige Beschäftigung mit dem Gegenstand bilden kann.
B. Bedeutung
I. Geschichte als Wesenszug menschlichen Seins
Die Dimension Zeit ist unabdingbares Merkmal allen irdischen Lebens. Von daher gehört es zum Wesen des Menschen und unterscheidet ihn vom Tier, dass er sich zum Zweck der Selbstvergewisserung die Frage nach dem Grund seines Seins stellen kann. Die Geschichte kann ihm im Rahmen ihrer durch den sog. hermeneutischen Zirkel der Unmöglichkeit des Verstehens ohne (nur begrenzt aufhellbares) Vorwissen und Vorverständnis bedingten Erkenntnismöglichkeiten relativ richtige Hinweise auf die Herkunft menschlicher Verhältnisse geben.
II. Geschichte als Element methodischen Verstehens
Jedes Sein ist das Ergebnis eines Werdens. Jede rechtliche Gegebenheit läßt sich deshalb nur bei geschichtlicher Betrachtungsweise voll verstehen. Darum ist die historische Auslegung seit langem als eine von mehreren methodischen Möglichkeiten anerkannt.
Beispiele: Föderalismus, Haftgründe, Gefährdungshaftung
III. Geschichte als Grundlage der Suche nach Gerechtigkeit
Jede menschliche Gegebenheit ist durch ihre geschichtlichen Voraussetzungen bedingt. Die Kenntnis der historischen Bedingungen einer rechtlichen Regel ermöglicht ihre Überprüfung auf ihren Gerechtigkeitsgehalt. Das Wissen um abweichende geschichtliche Lösungsversuche vermag zu einer besseren Lösungsmöglichkeit zu führen.
Beispiel: Zweikammersystem, Strafvollzug, Mitbestimmung
C. Einordnung im System der Wissenschaft
Die Rechtsgeschichte ist eine interdisziplinäre Wissenschaft.
Die Rechtsgeschichte hat wie Rechtsphilosophie, Rechtssoziologie oder Rechtsvergleichung das Recht zum Gegenstand. Sie erfasst den historischen Aspekt des Rechts (nur) als einen besonderen Aspekt des Rechts. Darum muss sie sich grundsätzlich aller rechtswissenschaftlichen Erkenntnisse und Methoden bedienen und deswegen versteht der historisch gebildete Jurist die Rechtsgeschichte und damit auch das Recht besser als der nicht am Recht erzogene Historiker.
II. Verhältnis zur Geschichtswissenschaft
Die Rechtsgeschichte ist wie Religionsgeschichte, Sprachgeschichte, Wirtschaftsgeschichte, Sozialgeschichte, Medizingeschichte, Kunstgeschichte oder Technikgeschichte aber (zugleich auch) ein Teil der Geschichtswissenschaft. Sie erfasst den rechtlichen Ausschnitt nur als einen besonderen Ausschnitt der Vergangenheit. Darum muss sie bei der Betrachtung der rechtlichen Bedeutsamkeit eines Gegenstandes in der Vergangenheit sich grundsätzlich auch aller geschichtswissenschaftlichen Erkenntnisse und Methoden - insbesondere der geisteswissenschaftlichen Methode des Verstehens und Erfassens eines Ereignisses in seiner Einmaligkeit - bedienen.
Dies gilt insbesondere auch für den allgemein anerkannten Kanon der geschichtlichen Hilfswissenschaften (historische Geographie, Chronologie, Genealogie oder Familienkunde, allgemeine Quellenkunde, Paläographie oder Schriftkunde, Urkundenlehre und Aktenlehre, Heraldik oder Wappenkunde, Sphragistik oder Siegelkunde sowie Numismatik oder Münzkunde).
Dementsprechend versteht der geschichtlich gebildete Jurist die Rechtsgeschichte und damit auch das Recht besser als der nicht mit der Geschichte konfrontierte juristische Dogmatiker.
III. Verhältnismäßige Eigenständigkeit der Rechtsgeschichte
Das Recht ist - ähnlich wie Religion, Sprache, Wirtschaft, Gesellschaft, Medizin, Natur, Kunst oder Technik - ein besonderer Teil menschlichen Lebens. Es ist einerseits mit allen anderen Teilen menschlichen Lebens zu einer unlösbaren Einheit verwoben und doch zugleich von diesen in gewisser Weise abhebbar. Dies rechtfertigt eine selbständige wissenschaftliche Behandlung der Rechtsgeschichte, in der aber doch zugleich auch die wichtigsten Entwicklungsvorgänge anderer Bereiche menschlicher Existenz wie etwa der Politik, der Wirtschaft, der Gesellschaft oder des Geisteslebens als Grundlagen des Rechts angesprochen werden müssen.
D. Quellen
Erkenntnisquelle der Rechtsgeschichte ist jedes Moment, das im Augenblick seiner Existenz irgendeine rechtliche Bedeutung hat. Es kann sowohl absichtlich und mittelbar über einen Umstand Kenntnis geben (sog. Tradition) wie auch unabsichtlich und unmittelbar (sog. Überrest). Von diesen zahlreichen Rechtserkenntnisquellen sind die wenigen Rechtsgeltungsquellen eindeutig zu unterscheiden.
I. Allgemeine Rechtsregeln
Die allgemeinen Rechtsregeln entstehen vor allem aus den beiden Rechtsgeltungsquellen Gesetz und Gewohnheitsrecht, deren schriftlicher Niederschlag zugleich die wichtigste (mittelbare) Rechtserkenntnisquelle ist.
1. Gesetz
Gesetz ist im weitesten Sinne jede durch bewusste Setzung (des dazu als befugt Angesehenen) entstandene Regel (z.B. römisches Zwölftafelgesetz 451/450 v. Chr., Halsgerichtsordnung Kaiser Karls V. 1532 n. Chr., Bürgerliches Gesetzbuch des deutschen Reiches 1900 n. Chr.). Die Bedeutung dieser bewusst gesetzten, zumindest logisch nicht notwendigerweise schriftlich aufgezeichneten und auch nicht zwangsläufig inhaltlich neuen Regeln hat im Laufe der Geschichte ständig zugenommen. Seit der Neuzeit werden dabei die Voraussetzungen (z. B. Gesetzgebungsverfahren des ausschließlich dazu Befugten mit notwendiger Veröffentlichung in einem [gedruckten] Gesetzblatt) erkennbar präzisiert.
2. Gewohnheitsrecht
Gewohnheitsrecht ist das von einer menschlichen Gesamtheit (z. B. Volk) durch längere Übung (lat. longa consuetudo, lange Gewohnheit) in dem Bewusstsein, dadurch recht zu handeln (lat. opinio iuris, Überzeugung des Rechts), geschaffene Recht. Seine in den älteren Zeiten überragende Bedeutung ist mit dem Vordringen des Gesetzes allmählich weitgehend geschwunden. Mangels geringer formaler Voraussetzungen (z. B. Schriftlichkeit entbehrlich) ist es oft nur schwer erkennbar und meist schlecht überliefert (z. B. germanisches Recht, hochmittelalterliche dörfliche Weistümer, moderner Handelsbrauch).
3. Sonstiges allgemeines Recht
Sonstiges allgemeines Recht entsteht in von Gesetzgebung und Gewohnheitsrechtsbildung verschiedener Weise (z.B. Juristenrecht, Richterrecht, im Einzelnen streitig).
II. Sonstiges rechtliches Schriftgut
Das sonstige rechtliche Schriftgut ist neben den überlieferten Gesetzen und Gewohnheitsrechtssätzen die wichtigste (mittelbare) Erkenntnisquelle für Recht. Dabei ist vor allem zwischen Urkunden, Formularen und der juristischen Literatur zu unterscheiden.
1. Urkunden
Urkunden sind unter Beobachtung bestimmter Formen ausgefertigte Schriftstücke über einzelne (rechtliche) Vorgänge (verkörperte Gedankenerklärungen). Obwohl sie nur das tatsächlich geübte Recht und auch dieses nur mittelbar erkennen lassen, können sie, wo bessere Quellen fehlen, für die Erkenntnis des Rechts sehr wichtig sein. Zu beachten sind dabei ihre förmliche Gepflogenheiten und ihre Beschränkung auf bestimmte Wirklichkeitsausschnitte (z.B. Grundstücksgeschäft, Ehevertrag, Testament).
Mehrere Urkunden können zu einer Akte vereinigt sein oder durch ein Register erschlossen werden.
2. Formulare
Formulare oder Formeln sind typisierte Urkunden(muster) bzw. Gedanken(muster) (in der Elektronik verwendbare Textbausteine).
3. Juristische Literatur
Juristische Literatur ist die Gesamtheit der Äußerungen von Juristen zu rechtlichen Fragen. Sie hat die Existenz von Jurisprudenz überhaupt zur Voraussetzung. Sie tritt erstmals im antiken Rom auf und erscheint dann als Rechtswissenschaft wieder mit der Aufnahme (Rezeption) des römischen Rechtes seit dem hohen Mittelalter (etwa 1100).
III. Sonstige Rechtsquellen
Auch nichtjuristische Literatur (z.B. Annalen, Chroniken, Karten, Statistiken, Theaterstücke, Reisebeschreibungen, Sprichwörter, Einzelwörter), Brauchtum (z. B. Richtfest, Fastnachtsgericht, Kirchweih) oder sonstige Gegenstände und Handlungen (z.B. Gewichte, Münzen, Strafwerkzeuge, Gerichtsstätten, Rathäuser, Burgen, Kirchen, Flurformen, Grenzzeichen, Moorleichen, Hauspfostenlöcher, Gebärden, Bilder) können Aufschlüsse über Recht gewähren.
E. Gliederung
I. Zeitliche Gliederung
Geschichte ist ein andauerndes Geschehen in der Dimension Zeit von den ersten erkennbaren Anfängen bis zur ununterbrochen zur Vergangenheit werdenden Gegenwart. Eine zeitliche Aufteilung dieses Kontinuums Geschichte zerreißt daher notwendig Zusammenhänge. Sie ist aber, wie seit langem allgemein anerkannt ist, im Interesse des besseren Verständnisses gleichwohl erforderlich.
Angesichts der neuartigen Zusammenfassung des gesamten für das gegenwärtige Recht wichtigen geschichtlichen Stoffes wie der besonderen Bedeutung der unmittelbaren Vergangenheit erscheint dabei nach dem Vorbild von Christoph Cellarius’ [Keller] (1634-1707) Historia tripartita (Geschichte dreigeteilt) eine Dreiteilung in eine ältere Periode (Anfänge bis 476/500 n. Chr.), eine mittlere Periode (476/500-1789/1800 n. Chr.) und eine neuere Periode (1789/1800 bis zur Gegenwart) am geeignetsten.
II. Sachliche Gliederung
Das menschliche Sein ist eine sachlich zusammengehörige Einheit. Eine sachliche Aufteilung zerstört deshalb notwendigerweise inhaltliche Zusammenhänge. Sie ist aber, wie seit langem gleichfalls allgemein anerkannt ist, im Interesse des besseren Verständnisses der komplexen Verhältnisse gleichwohl erforderlich.
Darum wird zwischen den allgemeinen außerrechtlichen (politischen, wirtschaftlichen, sozialen und geistesgeschichtlichen) Grundlagen des Rechtes und dem Recht selbst grundsätzlich geschieden und innerhalb des Rechtes in Anlehnung an die moderne, selbst aber historisch gewachsene Systematik (in allgemeine Gegebenheiten und einzelne besondere Rechtsgebiete) gegliedert.
III. Zeitlich-sachliche Gliederung
Im Verhältnis von zeitlicher Gliederung und sachlicher Gliederung gebührt der zeitlichen Gliederung der Vorrang (sog. synchronische Betrachtungsweise im Gegensatz zur diachronischen Betrachtungsweise). Dementsprechend wird in erster Linie zeitlich und innerhalb der einzelnen Zeiten sachlich geteilt. Da die menschliche Existenz sich im Laufe der Zeit – wenn auch nicht gleichmäßig, so aber insgesamt doch - mehr und mehr ausdifferenziert, wird mit der dadurch bedingten Zunahme des Rechtsstoffs auch eine immer feinere Untergliederung erforderlich.
F. Literaturhinweise
I. Quellen
Die Zahl der Rechtsquellen ist unübersehbar. Eine Zusammenfassung gibt Stobbe, O., Geschichte der deutschen Rechtsquellen, Bd. 1f. 1860ff., Neudruck 1965; vgl. weiter Handbuch der Quellen und Literatur der neueren europäischen Privatrechtsgeschichte, hg. v. Coing, H., Bd. 1ff. 1973ff., die unter (4.) Bibliographien angegebene Literatur sowie Ebel, W., Geschichte der Gesetzgebung in Deutschland, 2. A. 1958, Neudruck 1988; Neuere und vollständigere Sammlung der Reichsabschiede, hg. v. Koch, E., Teil 1f. 1747, Neudruck 1967; Zeumer, K., Quellensammlung zur Geschichte der deutschen Reichsverfassung in Mittelalter und Neuzeit, 2. A. 1913; die wichtigsten mittelalterlichen Quellen sind in der Serie Monumenta Germaniae Historica (1819 gegründet) abgedruckt, viele andere Urkunden in den vielen territorialen Urkundenbüchern.
1. Lehr- und Handbücher
a) Allgemeine Geschichte
Deutsche Geschichte, hg. v. Leuschner, J., Bd. 1ff. 1974, z.T. 2. A. 1975ff. (Kleine Vandenhoeck-Reihe); Deutsche Geschichte (Siedler), Bd. 1ff. 1982ff.; Deutsche Geschichte im Überblick, hg. v. Rassow, P., 3. A. hg. v. Schieffer, T., 1973; Die neue deutsche Geschichte, hg. v. Moraw, P. u. a., Bd. 1ff. 1984ff.; Gebhardt, B., Handbuch der deutschen Geschichte, Bd. 1ff. 9. A. 1970ff.; Geschichte Deutschlands, hg. v. Groh, D., Bd. 1ff. 1983ff.; Grundriss der Geschichte (Oldenbourg), hg. v. Bleicken, J. u.a., Bd. 1ff. 1982ff.; Heuss, A., Römische Geschichte, 4. A. 1976; Mildenberger, G., Sozial- und Kulturgeschichte der Germanen, 2. A. 1977; Titze, H., Datenbuch zur deutschen Bildungsgeschichte, Bd. 1ff. 1987ff.
b) Allgemeine Rechtsgeschichte
Bader, K./Dilcher, G., Deutsche Rechtsgeschichte, 1999; Baltl, H./Kocher, G., Österreichische Rechtsgeschichte, 10. A. 2004; Brunner, G., Einführung in das Recht der DDR, 2. A. 1979; Brunner, H., Deutsche Rechtsgeschichte, Bd. 1f. 2. A. 1906, 1928, Neudruck 1958/61 (klassisch, unvollendet); Carlen, L., Rechtsgeschichte der Schweiz, 3. A. 1988; Coing, H., Epochen der Rechtsgeschichte in Deutschland, 4. A. 1981; Conrad, H., Deutsche Rechtsgeschichte, Bd. 1 2. A. 1962, Bd. 2 1966 (neuestes Handbuch, unvollendet); Dulckeit, G./Schwarz, F./Waldstein, W., Römische Rechtsgeschichte, 9. A. 1995; Ebel, F./Thielmann, G. Rechtsgeschichte, Bd. 3. A. 2003; Eichhorn, K., Deutsche Staats- und Rechtsgeschichte, Bd. 1ff. 1808ff., 5. A. 1843/4, Neudruck 1983 (grundlegend); Eisenhardt, U., Deutsche Rechtsgeschichte, 4. A. 2004; Europäische Rechts- und Verfassungsgeschichte, hg. v. Schulze, R., 1991; Gerbenzon, P./Algra, N., Voortgangh des Rechtes, 5. A. 1979; Gmür, R./Roth, A., Grundriss der deutschen Rechtsgeschichte, 10. A. 2003 (1. A. 1978); Hattenhauer, H., Europäische Rechtsgeschichte, 4. A. 2004; Hattenhauer, H., Die geistesgeschichtlichen Grundlagen des deutschen Rechts, 3. A. 1983; Hoke, R., Österreichische und deutsche Rechtsgeschichte, 2. A. 1996; Honsell, H., Römisches Recht, 5. A. 2002; Köbler, G., Bilder aus der deutschen Rechtsgeschichte, 1988 (bebilderte Rechtsgeschichte); Kroeschell, K., Deutsche Rechtsgeschichte, Bd. 1 11. A. 1998, Bd. 2 1973, 9. unv. A. 1995, Bd. 3 2. A. 1993 (Lehr- und Arbeitsbuch); Kroeschell, K., Rechtsgeschichte Deutschlands im 20. Jahrhundert, 1992; Kunkel, W., Römische Rechtsgeschichte, 10. A. 1988; Laufs, A., Rechtsentwicklungen in Deutschland, 5. A. 1996 (exemplarisches Arbeitsbuch); Liebs, D., Römisches Recht, 6. A. 2004; Meder, S., Rechtsgeschichte, 2002; Mitteis, H./Lieberich, H., Deutsche Rechtsgeschichte, 19. A. 1992 (Kurzlehrbuch); Planitz, H./Eckhardt, K., Deutsche Rechtsgeschichte, 4. A. 1981; Robinson, O./Fergus, D./Gordon, W.., European Legal History, 1994; Schroeder, R./Künssberg, E. Frhr. v., Lehrbuch der deutschen Rechtsgeschichte, 7. A. 1932, Neudruck 1966; Schwerin, C. Frhr. v./Thieme, H., Grundzüge der deutschen Rechtsgeschichte, 4. A. 1950; Seagle, W., Weltgeschichte des Rechts, 3. A. 1967; Senn, M., Recht – Gestern und Heute, 2002; Senn, M., Rechtsgeschichte, 3. A. 2003; Söllner, A., Einführung in die Römische Rechtsgeschichte, 5. A. 1996; Wesel, U., Geschichte des Rechts, 1997
c) Verfassungsrecht
Boldt, H., Deutsche Verfassungsgeschichte, Bd. 1ff. 1984ff.; Brauneder, W.., Österreichische Verfassungsgeschichte, 9. A. 2003; Conrad, H., Der deutsche Staat, 2. A. 1974; Europäische Rechts- und Verfassungsgeschichte, hg. v. Schulze, R., 1991; Europäische Verfassungsgeschichte, hg. v. Willoweit, D. u. a., 2003; Forsthoff, E., Deutsche Verfassungsgeschichte der Neuzeit, 4. A. 1972; Friedrich, M., Geschichte der deutschen Staatsrechtswissenschaft, 1997; Frotscher, W./Pieroth, B., Verfassungsgeschichte, 4. A. 2004; Hartung, F., Deutsche Verfassungsgeschichte vom 15. Jahrhundert bis zur Gegenwart, 9. A. 1969; Heusler, A., Schweizerische Verfassungsgeschichte, 1920, Neudruck 1968; Huber, E., Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, Bd. 1-8 1957ff., 2. A. 1967ff., z.T. 3. A. 1988; Kaiser und Reich, hg. v. Buschmann, A., 2. A. 1994; Kimminich, O., Deutsche Verfassungsgeschichte, 2. A. 1987; Kölz, A., Neuere schweizerische Verfassungsgeschichte, 1992ff.; Menger, C., Deutsche Verfassungsgeschichte der Neuzeit, 8. A. 1993; Mommsen, T., Abriss des römischen Staatsrechts, 2. A. 1907; Mommsen, T., Römisches Staatsrecht, Bd. 1-3 3. A. 1887, Neudruck 1963, Stellenregister bearb. v. Malitz, J., 1982; Peyer, H., Verfassungsgeschichte der alten Schweiz, 1978, Neudruck 1980; Reinhard, W., Geschichte der Staatsgewalt, 1999; Scheyhing, R., Deutsche Verfassungsgeschichte der Neuzeit, 1968; Staatsdenker in der frühen Neuzeit, hg. v. Stolleis, M., 3. A. 1996; Stolleis, M., Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland, Bd. 1ff. z. T. 2. A. 1992ff.; Willoweit, D., Deutsche Verfassunggeschichte, 5. A. 2005; Ziegler, K., Völkerrechtsgeschichte, 1994; Zippelius, R., Geschichte der Staatsideen, 9. A. 1994; Zippelius, R., Kleine deutsche Verfassungsgeschichte, 6. A. 2002
d) Verwaltungsrecht
Deutsche Verwaltungsgeschichte, hg. v. Jeserich, K. u.a., Bd. 1ff. 1983ff.; Stolleis, M., Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland, Bd. 1ff. z. T. 2. A. 1992ff.
e) Verfahrensrecht
Bethmann-Hollweg, M. v., Der germanisch-romanische Zivilprozess im Mittelalter, Bd. 1ff. 1868ff., Neudruck 1959; Döhring, E., Geschichte der deutschen Rechtspflege seit 1500, 1953; Große Prozesse, hg. v. Schultz, U., 1996; Kaser, M., Das römische Zivilprozessrecht, 1966; Kern, E., Geschichte des Gerichtsverfassungsrechts, 1954; Planck, J., Das deutsche Gerichtsverfahren im Mittelalter, Bd. 1f. 1879, Neudruck 1973
f) Strafrecht
His, R., Das Strafrecht des deutschen Mittelalters, Bd. 1f. 1920ff.; Mommsen, T., Römisches Strafrecht, 1899, Neudruck 1961; Rüping, H., Grundriss der Strafrechtsgeschichte, 4. A. 2002; Schmidt, E., Einführung in die Geschichte der deutschen Strafrechtspflege, 3. A. 1965; Sellert, W./Neef, F., Studien- und Quellenbuch zur Geschichte der deutschen Strafrechtspflege, Bd. 1f. 1987ff.; Wilda, W., Das Strafrecht der Germanen, 1842, Neudruck 1960 (grundlegend)
g) Privatrecht
Coing, H., Europäisches Privatrecht, Bd. 1f. 1985ff.; Coing, H./Wilhelm, W., Wissenschaft und Kodifikation des Privatrechts im 19. Jahrhundert. Studien zur Rechtswissenschaft des 19. Jahrhunderts, Bd. 1ff. 1974ff.; Eichhorn, K., Einleitung in das deutsche Privatrecht mit Einschluss des Lehnsrechts, 1823, 5. A. 1845; Floßmann, U., Österreichische Privatrechtsgeschichte, 4. A. 2001; Gierke, O. v., Deutsches Privatrecht, Bd. 1ff. 1895ff.; Handbuch der Quellen und Literatur der neueren europäischen Privatrechtsgeschichte, hg. v. Coing, H., Bd. 1ff. 1973ff.; Hattenhauer, H., Grundbegriffe des bürgerlichen Rechts, 1982; Hedemann, J., Die Fortschritte des Zivilrechts im 19. Jahrhundert, Teil 1f. 1910ff., Neudruck 1958; Heusler, A., Institutionen des deutschen Privatrechts, Bd. 1f. 1885f.; Hübner, R., Grundzüge des deutschen Privatrechts, 5. A. 1930, Neudruck 1969 (neuestes Handbuch); Kaser, M., Das römische Privatrecht, 16. A. 1992 (Kurzlehrbuch); Luig, K., Neuerscheinungen zur europäischen Privatrechtsgeschichte, ZHF 7 (1980), 423ff.; Mitteis, H./Lieberich, H./Luig, K., Deutsches Privatrecht, 10. A. in Vorb. (Kurzlehrbuch); Schlosser, H., Grundzüge der neueren Privatrechtsgeschichte, 9. A. 2001; Wesenberg, G./Wesener, G., Neuere deutsche Privatrechtsgeschichte, 4. A. 1985; Wieacker, F., Privatrechtsgeschichte der Neuzeit, 2. A. 1967, Neudruck 1996; Willoweit, D., Historische Grundlagen des Privatrechts, JuS 1977, 292ff.
h) Kirchenrecht
Erler, A., Kirchenrecht, 5. A. 1983; Feine, H., Kirchliche Rechtsgeschichte, Bd. 1 Die katholische Kirche 5. A. 1972; Plöchl, W., Geschichte des Kirchenrechts, Bd. 1ff. 1953ff., 2. A. 1960ff.
i) Rechtswissenschaftsgeschichte
Juristen http://www.köbler.de; Juristen in Österreich (1200-1980), hg. v. Brauneder, W., 1987; Juristen. Ein biographisches Lexikon, hg. v. Stolleis, M., 1995; Kleinheyer, G./Schröder, J., Deutsche und europäische Juristen aus neun Jahrhunderten, 4. A. 1996; Schulz, F., Geschichte der römischen Rechtswissenschaft, 1961; Stintzing, R./Landsberg, E., Geschichte der deutschen Rechtswissenschaft, Abt. 1ff. 1880ff., Neudruck 1957, 1978; Wohlhaupter, E., Dichter-Juristen, Bd. 1ff. 1954ff.; Wolf, E., Große Rechtsdenker der deutschen Geistesgeschichte, 4. A. 1963
k) Wirtschafts- und Sozialgeschichte
Aubin, H./Zorn, W., Handbuch der deutschen Wirtschafts- und Sozialgeschichte, Bd. 1ff. 1971ff.; Deutsche Wirtschaftsgeschichte, hg. v. North, M., 2000; Hauser, A., Schweizerische Wirtschafts- und Sozialgeschichte, 1961; Henning, F., Handbuch der Sozial- und Wirtschaftsgeschichte Deutschlands, Bd. 1ff. 1991ff.; Henning, F., Wirtschafts- und Sozialgeschichte, Bd. 1ff. 1973.; Kellenbenz, H., Deutsche Wirtschaftsgeschichte, Bd. 1 1977ff.; Lamprecht, K., Deutsches Wirtschaftsleben im Mittelalter, Teil 1ff. 1885f., Neudruck 1969; Lütge, F., Deutsche Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, 3. A. 1966, Neudruck 1976, 1979; Sandgruber, R., Ökonomie und Politik, 1995; Tremel, A., Wirtschafts- und Sozialgeschichte Österreichs von den Anfängen bis 1955, 1969; Wehler, H., Deutsche Gesellschaftsgeschichte, Bd. 1ff. 1987ff.; Wirtschaftsgeschichte der deutschsprachigen Länder, hg. v. Schäfer, H., 1989
l) Sprachgeschichte
Deutsche Philologie im Aufriss, hg. v. Stammler, W., Bd. 1-3 2. A. 1966ff.; Einleitung in die lateinische Philologie, hg. v. Graf, F., 1997; Kalb, W., Wegweiser in die römische Rechtssprache, 1912, Neudruck 1961; Kurzer Grundriss der germanischen Philologie, hg. v. Schmitt, L., Bd. 1f. 1970f.; Maurer, F./Rupp, H., Deutsche Wortgeschichte, Bd. 1f. 3. A. 1974; Die deutsche Literatur des Mittelalters, Verfasserlexikon, 2. A. hg. v. Ruh, K. u.a., 1978ff.; Sonderegger, S., Grundzüge deutscher Sprachgeschichte, Bd. 1 1979
m) Historische Hilfswissenschaften
Bischoff, B., Paläographie des römischen Altertums und des abendländischen Mittelalters, 1979; Brandenburg, E., Die Nachkommen Karls des Großen, 1935, Neudruck 1964; Brandt, A. v., Werkzeug des Historikers, 16. A. 2003; Bresslau, H., Handbuch der Urkundenlehre für Deutschland und Italien, Bd. 1f. 4. A. 1968ff.; Briquet, C., Les filigranes, Bd. 1ff. 2. A. 1923, Neudruck 1966; Caenegem, R. van/Ganshof, F., Kurze Quellenkunde des westeuropäischen Mittelalters, 1964; Capelli, A., Dizionario di abbreviature latine, 6. A. 1961, deutsche Ausgabe 2. A. 1928; Classen, P., Kaiserreskript und Königsurkunde, 1977; Einleitung in die lateinische Philologie, hg. v. Graf, F., 1997; Ewald, W., Siegelkunde, 1914, Neudruck, 1969, 1975; Forst De Battaglia, O., Wissenschaftliche Genealogie, Bern 1948; Galbreath, D., Handbüchlein der Heraldik, 2. A. 1948; Grierson, P., Münzen des Mittelalters, 1976; Grotefend, H., Zeitrechnung des deutschen Mittelalters und der Neuzeit, 1891ff., Neudruck 1970; Grotefend, H., Taschenbuch der Zeitrechnung des deutschen Mittelalters und der Neuzeit, 11. A. 1971; Hassinger, H., Geographische Grundlagen der Geschichte, 2. A. 1953; Jäger, H., Historische Geographie, 2. A. 1973; Köbler, G., Historisches Lexikon der deutschen Länder, 5. A. 1995; Lietzmann, H., Zeitrechnung der römischen Kaiserzeit, des Mittelalters und der Neuzeit, 3. A. 1956; Luschin v. Ebengreuth, A., Allgemeine Münzkunde und Geldgeschichte, 2. A. 1926; Meisner, H., Urkunden- und Aktenlehre der Neuzeit, 2. A. 1952; Oesterley, H., Historisch-geographisches Wörterbuch des deutschen Mittelalters, 1883, Neudruck 1962; Orbis latinus, hg. v. Plechl, H., 1973; Potthast, A., Bibliotheca historica medii aevi, Bd. 1f. 2. A. 1896, Neudruck 1954; Prinz v. Isenburg, W., Die Ahnen der deutschen Kaiser, Könige und ihre Gemahlinnen, 1932; Putzger, F., Historischer Weltatlas, 1911, Neudruck 1967, 103. A. 2001; Rudolph, H., Vollständiges geographisch-topographisch-statistisches Ortslexikon von Deutschland, 1859ff.; Siebmacher, J., Großes und allgemeines Wappenbuch, 1856ff., Neudruck 1970ff.; Thompson, E., An Introduction to Greek and Latin Paleography, 2. A. Oxford 1912; Wattenbach, W., Das Schriftwesen im Mittelalter, 4. A. 1958, Neudruck 1966; Wattenbach, W., Deutschlands Geschichtsquellen im Mittelalter bis zur Mitte des 13. Jahrhunderts, Bd. 1ff. 5./7. A. 1894ff.; Wattenbach, W./Levison, W., Deutschlands Geschichtsquellen im Mittelalter, Heft 1ff. 1952ff., Beiheft: Buchner, R., Die Rechtsquellen, 1953
2. Sachwörterbücher
Biographisches Wörterbuch zur deutschen Geschichte, hg. v. Bosl, K./Franz, G./Hofmann, H. u. a., 2. A. Bd. 1-3 1973ff.; Dictionnaire de droit canonique, Bd. 1ff. 1935ff.; Geschichtliche Grundbegriffe, hg. v. Brunner, O./Conze, W./Koselleck, R., Bd. 1ff. 1972ff., z.T. Neudruck 1979; Haberkern, E./Wallach, J., Hilfswörterbuch für Historiker, 6. A. 1980; Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte (HRG), hg. v. Erler, A./Kaufmann, E., Bd. 1ff. 1964ff., 2. A. 2004ff.; Der Kleine Pauly. Lexikon der Antike, hg. v. Ziegler, A./Sontheimer, W., Bd. 1ff. 1979ff.; Köbler, G., Lexikon der europäischen Rechtsgeschichte, 1997; Köbler, G., Zielwörterbuch europäischer Rechtsgeschichte, 2. A. 2004; Lexikon des Mittelalters, Bd. 1ff. 1980ff.; Österreichisches Staatswörterbuch, hg. v. Mischler, E./Ulbrich, J., Bd. 1ff. 2. A. 1905ff.; Pauly, A./Wissowa, G., Realenzyklopädie der klassischen Altertumswissenschaft, Bd. 1ff. 1894ff., Neudruck 1958ff.; Reallexikon der germanischen Altertumskunde, hg. v. Hoops, J., Bd. 1ff. 1911ff., 2. A. Bd. 1ff. 1968ff.; Rotteck, C. v./Welcker, C., Staatslexikon oder Enzyklopädie der Staatswissenschaften, Bd. 1ff. 3. A. 1856ff.; Rössler, H./Franz, G., Sachwörterbuch zur deutschen Geschichte, 1958, Neudruck 1978; Weiske, J., Rechtslexikon für Juristen aller teutschen Staaten, 1839ff., Neudruck 1984; Zedler, J., Großes vollständiges Universallexikon aller Wissenschaften und Künste, Bd. 1ff. 1732ff., Neudruck 1961
3. Sprachwörterbücher
Deutsche Rechtsregeln und Rechtssprichwörter, hg. v. Schmidt-Wiegand, R., 1996; Deutsches Rechtswörterbuch, hg. v. u.a. d. Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Bd. 1ff. 1914ff. (noch unvollendet); Ducange, C./Favre, L., Glossarium mediae et infimae Latinitatis, Bd. 1ff. 1882f., Neudruck 1954; Frühneuhochdeutsches Wörterbuch, hg. v. Anderson, R. u.a., Bd. 1 1986ff.; Georges, K./Georges, H., Ausführliches lateinisch-deutsches Handwörterbuch, Bd. 1f., 14. A. 1976 (Neudruck); Götze, F., Frühneuhochdeutsches Glossar, 7. A. 1967; Grimm, J./Grimm, W., Deutsches Wörterbuch, Bd. 1ff. 1854ff., Neudruck 1971ff.; Habel, E., Mittellateinisches Glossar, 2. A. 1971; Haltaus, C., Glossarium Germanicum medii aevi, 1758; Heidelberger Index zum Theodosianus, hg. v. Gradenwitz, O., 1925ff., Neudruck 1970; Heumann, G./Seckel, E., Handlexikon zu den Quellen des römischen Rechts, 10. A. Graz 1958 (Neudruck); Holthausen, F., Altsächsisches Wörterbuch, 2. A. 1967; Kluge, F., Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache, 22. A. 1988; Köbler, G., Althochdeutsch-lateinisches Wörterbuch, 2. A. 1984; Köbler, G., Altniederdeutsch-neuhochdeutsches und neuhochdeutsch-altniederdeutsches Wörterbuch, 1982; Köbler, G., Etymologisches Rechtswörterbuch, 1995; Köbler, G., Germanisches Wörterbuch, 2. A. 1982; Köbler, G., Indogermanisch-neuhochdeutsches und neuhochdeutsch-indogermanisches Wörterbuch, 3. A. 2005; Köbler, G., Lateinisch-germanistisches Lexikon, 2. A. 1984; Köbler, G., Gotisches Wörterbuch, 1989; Köbler, G., Wörterbuch des althochdeutschen Sprachschatzes, 1993; Köbler, G., Taschenwörterbuch des althochdeutschen Sprachschatzes, 1994; Latein für Jurastudenten, hg. v. einem römischen Bürger (Adomeit, K.), 1997; Levy, E., Ergänzungsindex zu ius und leges, 1930; Lexer, M., Mittelhochdeutsches Handwörterbuch, Bd. 1-3 1872ff.; Lexer, M., Mittelhochdeutsches Taschenwörterbuch, 1869, seitdem zahlreiche weitere Auflagen, 35. A. 1979; Lieberwirth, R., Lateinisches Fachausdrücke im Recht, 3. A. 1995; Liebs, D., Lateinisches Rechtsregeln und Rechtssprichwörter, 6. A. 1997; Niermeyer, J., Mediae Latinitatis Lexicon Minus, 1954ff.; Pokorny, J., Indogermanisches etymologisches Wörterbuch, Bd. 1ff. 1959ff.; Schiller, K./Lübben, A., Mittelniederdeutsches Wörterbuch, Bd. 1ff. 1875ff.; Schützeichel, R., Althochdeutsches Wörterbuch, 5. A. 1995; Wörterbuch der mittelhochdeutschen Urkundensprache, Bd. 1ff. 1986ff.
Weitere Hinweise s. Köbler, G., Lexikon, HRG 2, 1979ff.
4. Bibliographien
Alphabetischer Katalog der Bibliothek des Max-Planck-Instituts für europäisches Rechtsgeschichte, Bd. 1ff. 1981, 2. A. 1984ff.; Bibliographie juristischer Festschriften und Festschriftenbeiträge, bearb. v. Dau, H., Bd. 1ff. 1962ff., z.T. Neudruck 1982; Caes, L./Henrion, R., Collectio bibliographica operum ad ius Romanum pertinentium, Brüssel 1949ff.; Camus, A./Dupin, A., Profession d’avocat, Bd. 2 5. A. 1832, Neudruck 1833; Dahlmann, F./Waitz, G., Quellenkunde der deutschen Geschichte, 9. A. 1931/2, 10. A. im Erscheinen seit 1969; Dölemeyer, B., Quellenbibliographien zur französischen Rechtsgeschichte, ZHF 4 (1977), 339ff.; Enslin, T./Engelmann, W./Wuttig, G./Rossberg, L., Bibliotheca iuridica. Handbuch der gesamten juristischen und staatswissenschaftlichen Literatur, Hauptband und 3 Supplemente, 2. A. 1840ff., Neudruck 1968; Fahnenberg, E., Literatur des kaiserlichen Reichskammergerichts und Reichshofrats, 1792; Feenstra, R., Bibliographie zum römischen Recht im Mittelalter, in: Das römische Recht im Mittelalter, hg. v. Schrage, E., 1986, Wege der Forschung 365; Fontana, A., Amphitheatrum legale, Bd. 1ff. 1688, Neudruck 1961; Heit, A./Voltmer, E., Bibliographie zur Geschichte des Mittelalters, 1997; Hofmann, G., Bibliographie der deutschen Rechtsbibliographien, 1994; Keyser, E., Bibliographie zur Städtegeschichte Deutschlands, 1969, 2. A. 1982; Köbler, G., Bibliographie der deutschen Hochschulschriften zur Rechtsgeschichte (1945 bis 1964), 2. A. 1972; Köbler, G./Kumpf, J., Bibliographie der deutschen Hochschulschriften zur Rechtsgeschichte (1885-1945), 1976; Köbler, G., Einfache Bibliographie zur europäisch-deutschen Rechtsgeschichte, 1990; König, H., Lehrbuch der gemeinen juristischen Literatur, 1785; Kühn, P., Deutsche Wörterbücher. Eine systematische Bibliographie, 1978; Lansky, R., Bibliographisches Handbuch der Rechts- und Verwaltungswissenschaften, Bd. 1 Allgemeines und Europa 1987; Lipenius, M., Bibliotheca realis iuridica, Bd. 1f. 1757, Neudruck 1970; Planitz, H./Buyken, T., Bibliograpie zur deutschen Rechtsgeschichte, 1952; Pütter, J., Literatur des teutschen Staatsrechts, Teil 1ff. 1776ff., Neudruck 1965; Rassegna bibliografica in der romanistischen Zeitschrift Iura (seit 1950); Struve, B., Bibliotheca iuris selecta, 8. A. 1756, Neudruck 1970; Stubenrauch, M., Bibliotheca iuridica austriaca, 1847; Thieme, H./Leiser, W./Diestelkamp, B., Deutschland (1970), Grass, N., Österreich (1979), Gilliard, F., Suisse (1963), in: Bibliograpische Einführung in die Rechtsgeschichte und Rechtsethnologie, hg. v. Gilessen, J.
5. Exegeseanleitungen
Dilcher, G., Der Grundlagenschein in der Rechtsgeschichte, JuS 1977, 236ff.; Hattenhauer, H., Die deutschrechtliche Exegese, 1975; Schlosser, H./Sturm, F./Weber, H., Die rechtsgeschichtliche Exegese, 2. A. 1993
6. Zeitschriften
Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte, Bd. 1ff. 1880ff., erscheint in germanistischer, kanonistischer und romanistischer Abteilung; Tijdschrift voor Rechtsgeschiedenis, Bd. 1ff. 1918ff.; Zeitschrift für neuere Rechtsgeschichte Bd. 1ff. 1979ff.; Forschungen zur Rechtsarchäologie und zur rechtlichen Volkskunde, Bd. 1ff. 1978ff.
§ 1 Indogermanen
Vielleicht ist es zehn Millionen Jahre her, dass die Vorfahren des Menschen sich von den Vorläufern der höheren Affen trennen. In den ersten fünf Millionen Jahren dieser Zeit erlernen sie wahrscheinlich den aufrechten Gang und entwickeln die Hand. Der sich vor rund 2½ Millionen Jahren von diesen Hominiden abspaltende homo habilis („geschickte Mensch“) verwendet möglicherweise bereits eine Art Sprache und später Werkzeuge und das Feuer. Vor etwa 100000 Jahren entsteht der homo sapiens („wissende Mensch“) mit größerer Kreativität und der Möglichkeit von Ethos. Vielleicht vor 10000 Jahren beginnt er zwischen Mittelmeer und Zweistromland mit der Sesshaftwerdung. In der zweiten Hälfte des vierten Jahrtausends vor Christi Geburt entdeckt er die Bearbeitbarkeit von Metall (Kupfer) und erfindet im späteren Mesopotamien, Anatolien und Syrien die Zinnbronze als dem Knochen und Stein überlegenen Werkstoff.
Als früheste erkennbare Vorläufer der Deutschen lassen sich von der Wissenschaft für die Zeit um 2000 v. Chr. die Indogermanen erschließen.
I. Politische Verhältnisse
Die als Urvolk vermuteten Indogermanen sind die Vorläufer aller zur indogermanischen Sprachfamilie gehörenden späteren Einzelvölker.
Die Zusammengehörigkeit der Sprachen ist seit W. Jones (1786) erkannt. Die Verwandtschaft betrifft Formenbildung und Wortschatz. Zugehörig sind vierzehn Sprachgruppen der keltischen, italischen, germanischen, baltischen, slawischen, illyrischen, thrakischen, albanischen, griechischen, hethitischen, armenischen, iranischen, indoarischen und tocharischen Sprachen (vom Atlantik bis zum heutigen Westchina) mit einer jeweils ältesten Überlieferung zwischen dem 14. Jh. v. Chr. und dem 16. Jh. n. Chr. Die gemeinsame Sprache des indogermanischen Urvolkes, deren rekonstruierter Wortschatz neben den Rückschlüssen aus den sachlichen Verhältnissen der späteren Einzelvölker die einzige Erkenntnisquelle für die Lebensverhältnisse der Indogermanen ist, setzt eine längere Zeit einer gewissen Abgeschlossenheit vor Erscheinen der ersten Einzelvölker (A. 2. Jt. v. Chr.) voraus. Der Ort der Urheimat zwischen Atlantik und Zentralasien (Osteuropa?) ist umstritten.
II. Wirtschaft
Ausgeschlossen sind bloßes Nomadentum und Stadtkultur. Wahrscheinlich werden nach Ausweis von Sprachgemeinsamkeiten Viehzucht (Rind, Schaf, Schwein, Pferd, Butter, Wolle) und Ackerbau (Pflug, Säen, Gerste, Mahlen) betrieben. Der Handel scheint wenig entwickelt (*ues- [8] »kaufen«, *kurei- »kaufen?«).
III. Gesellschaft
Vielleicht besteht eine Gliederung in (Priester,) Krieger und Bauern. Vermutlich erst später entsteht infolge kriegerischer Überlagerung ein Gegensatz zwischen Freien und Unfreien.
IV. Geistesleben
Nach dem rekonstruierten indogermanischen Wortschatz gibt es Götter (»Himmlische« wie z. B. »Himmel«, »Feuer«, »Sonne«), denen der Mensch als »Sterblicher«, »Irdischer« gegenübersteht. Schriftzeichen fehlen den Indogermanen im Gegensatz zu anderen Völkern (3000 v. Chr. mesopotamische [Bilder-] Keilschrift, ägyptische Bilderschrift, 11. Jh. v. Chr. phönizische Buchstabenschrift) noch.
B) Recht
Ein bei den Indogermanen zu vermutendes Recht kann ebenfalls nur mittelbar aus den Wörtern der Einzelsprachen erschlossen werden.
Diesen fehlt ein gemeinsamer Ausdruck für »Recht«.
II. Allgemeinheit
1. Verfassung (im Sinne einer materiellen Grundordnung)
Das Volk *teuta ist vielleicht ein Siedlungsverband. Sein Führer ist der *teutonos.
2. Verwaltung
Untergliederung des Volkes könnten *genti- »Geburt«, »Familie«, *ueik- »Haus«, »Siedlung« und *dem- »Haus« sein, denen vielleicht jeweils ein Einzelner als Führer vorsteht (z. B. *dem-s-potis »Hausherr«).
3. Verfahren
Über die Organisation und den Ablauf von Verfahren lässt sich nichts Sicheres aussagen. *ueiduots »Zeuge« erklärt sich als »der gesehen hat«.
4. Strafe
Ein sichere Aussage ist nicht möglich. *kuei- (1) bedeutet »achten«, »ehren«, »strafen«, »büßen«, »rächen«.
III. Einzelner
1. Person
Im Haus (*dem-) ist der Vater (dems)*potis »Herr«. Die *potni »Hausherrin« ist ihm vielleicht gleichgestellt. Kind, Braut und Gast bedürfen vermutlich einer besonderen Aufnahme in das Haus. Der Fremde ist grundsätzlich Feind (lat. hostis), kann aber zum *ghostis »Gast« werden und ist dann besonders geschützt.
2. Ehe
Die Verwandtschaftsnamen ergeben die besondere Bedeutung des Mannes für den Sitz und die Zuordnung der Familie. Der Vater gibt (*do-) die Tochter dem Mann, der sie (in das eigene Haus) führt (*uedh- [2]), aber zu den Eltern der Frau in keine verwandtschaftliche Beziehung tritt. Während Kinder von Bruder und Schwester heiraten können, ist dies für Kinder von (im gleichen Haus lebenden) Brüdern nicht möglich.
3. Erbe
Gegenstände werden beim Tod des Familienvaters, soweit man sie ihm nicht in geringem Umfang in ein Grab mitgibt, ohne weiteres von den vorhandenen Söhnen weiterbenützt worden sein. Fehlen Söhne, so betrachtet man die Güter als verwaist. Deshalb sind sie dann Erbe (*orbho- »verwaist«, vgl. lat. orphanus Waise) und fallen an Brüder oder Vatersbrüder des Familienvaters.
4. Sachen
Über die Zuordnung von Sachen lassen sich keine sicheren Aussagen machen, doch dürften jedenfalls bewegliche Sachen (Geräte, Tiere) einzelnen Menschen oder Familien fest zugehört haben. Mit der Aufnahme des Ackerbaues stellt sich auch die Frage der Zuordnung von Ackerflächen (unbeweglichen Sachen).
5. Schulden
Vielleicht ist ein schädlicher Erfolg durch eine (Natural-)Leistung (*kuoino »Strafe«, »Wert«) auszugleichen. Womöglich werden Gelöbnisse mit einem Trank oder Trankopfer (*spend- »opfern«, »geloben«, lat. spondere) bekräftigt. Möglicherweise kann später ein in Unfreiheit geratener Mensch durch eine Leistung befreit werden (*bheugh- [2] »wegtun«, »reinigen«, »befreien«).
Lit.: Bachofen, J., Das Mutterrecht. Eine Auswahl, hg. v. Heinrichs, 3. A. 1980; Dumézil, G., L’ideologie tripartie des Indo-Européens, 1958; Herzog, R., Staaten der Frühzeit, 1988; Schlerath, B., Die Indogermanen, 1972; Leist, B., Altarisches ius gentium, 1889, Neudruck 1978; Wesel, U., Frühformen des Rechts in vorstaatlichen Gesellschaften, 1985; Wolf, E., Griechisches Rechtsdenken, Bd. 1ff. 1950ff.
§ 2 Römer
Mit der Aufspaltung des wissenschaftlich erschlossenen indogermanischen Urvolkes beginnt für die neu entstehenden Einzelvölker (z. B. Griechen, Kelten, Italiker, Germanen, Slawen) grundsätzlich eine besondere selbständige Entwicklung. Dennoch beeinflussen einzelne von ihnen andere auf bestimmten Gebieten sehr stark, wie z. B. die Griechen die abendländischen Völker in der Philosophie oder allgemeiner in den freien Künsten Grammatik, Rhetorik und Dialektik, die das gesamte abendländische Wissenschaftswesen nachhaltig prägen. Für das Recht werden dabei die Römer so wichtig, dass ihre Rechtsgeschichte als wesentliche Grundlage der deutschen Rechtsgeschichte behandelt und ihrem hohen Entwicklungsstand wie ihrem erheblichen Gewicht entsprechend ziemlich ausführlich – eingeteilt in drei zeitliche Abschnitte - dargestellt werden muss.
A) Altrömisches Recht (6. - 3. Jh. v. Chr.)
Das altrömische Recht als die älteste erkennbare Entwicklungsstufe des römischen Rechts weist bereits sehr viele unterschiedliche, im einzelnen aber noch altertümlich gestaltete Rechtseinrichtungen auf. Sie wirken in abgeänderter Form teilweise bis in die Gegenwart fort.
I. Grundlagen
1. Politische Verhältnisse
Die Römer erscheinen als ein aus Sabinern und Latinern zusammengesetztes kleines indogermanisches Einzelvolk italischer Sprache am Anfang des 1. Jt. v. Chr. im mittleren Italien, wo angeblich (am 21. 4.) 753 v. Chr. Romulus und Remus - tatsächlich vielleicht die nichtindogermanischen Etrusker um 600 v. Chr. - Rom gründen. Archäologische Untersuchungen haben in Rom außer bronzezeitlichen Scherben des 14. Jh. v. Chr. Hüttenreste des 8. oder 7. Jh. v. Chr. ans Licht gebracht. Vermutlich stehen die Römer anfangs unter etruskischer Fremdherrschaft. Nach deren Lockerung (509 v. Chr.) verstricken sie sich in wechselvolle Kleinkriege mit den Nachbarn.
2. Wirtschaft
Die Wirtschaft ist trotz der Ausrichtung auf Rom als den Mittelpunkt gänzlich bäuerlich geprägt. Im Gefolge der ständigen Kriege wird die anfangs vorhandene Kleinbauernschaft jedoch zerrüttet. Es entsteht Großgrundvermögen (Latifundien) verhältnismäßig weniger Grundherren, der mit Hilfe der im Krieg erlangten Sklaven (servi) bewirtschaftet wird. Tauschmittel ist anfangs das Vieh (pecus ® pecunia, Geld). Dann wird Rohkupfer zuerst gewichtsmäßig gehandelt und im 4. Jh. in feste Größen mit zugehörigen Gewichtsangaben gebracht. Um 300 werden Münzen von 330 g (1 Pfund, libra) geschaffen.
3. Gesellschaft
Schon früh ist ein sich allmählich ausgleichender Unterschied zwischen den anfangs streng getrennten reicheren Patriziern und ärmeren Plebejern vorhanden. Unter beiden stehen die bereits im 5. Jh. genannten Sklaven (servi). Zeitweise gibt es ein Klientelwesen, bei dem freien Männern Land und Schutz gegen Dienst und Hilfe gewährt wird. Später bilden die nach Rom strömenden ehemaligen Kleinbauern des Umlandes eine vermögenslose Unterschicht (Proletariat, von proletarius, der dem Staat nur durch proles [Nachkommen] Dienende).
4. Geistesleben
Von erheblicher Bedeutung sind altrömische Religion und die Sitte der Väter (mores maiorum). Allmählich übt das griechische Bildungswesen einen gewissen Einfluss aus.
Lit.: Alföldy, G., Römische Sozialgeschichte, 3. A. 1984
II. Recht
1. Allgemeines
Rechtserkenntnisquellen dieser Zeit sind im Original nicht erhalten.
Vielmehr stammen alle Angaben aus der im 2. Jh. v. Chr. einsetzenden literarischen Überlieferung (Plautus 254-184, Varro 116-27, Cicero 106-43, Gellius 150 n. Chr., Festus 200 n. Chr. sowie die allgemeine Geschichtsschreibung). Sie berichtet zunächst von zweifelhaften Königsgesetzen (leges regiae), die am Ende des 6. Jh. der pontifex Papirius (® ius Papirianum) veröffentlicht haben soll.
Grundlegend wird das Zwölftafelgesetz (duodecim tabulae legum, zwölf Tafeln Gesetze) von 451/450 v. Chr.
Es ist zu etwa einem Drittel in Fragmenten in Gesetzesform
hauptsächlich durch Varro, Cicero, Gellius und Festus überliefert und aus
diesen Bruchstücken von der neuzeitlichen Wissenschaft rekonstruiert. Nach den
Vorbildern Lykurgs (Sparta 8. Jh. v. Chr.), Drakons Drakons und Solons
(Athen 621, 594) legt es in seinen erst 10 (451 v. Chr.), dann 12 (450 v. Chr.)
Tafeln, die eine sich bei den Griechen erkundigende Zehnmännerkommission (decemviri)
dem Volk (Zenturiatkomitien) zur Annahme als Gesetz (lex) vorbringt, das
Recht in sehr verschiedenen Angelegenheiten für alle erkennbar fest. Es wird
auf Holz (, Bronze oder Elfenbein?) auf dem Forum aufgestellt. Seine Auslegung
(interpretatio) betreibt die Priesterschaft als Geheimwissenschaft. Es
ist nie formlich außer Kraft gesetzt worden.
Abgesehen von dem Zwölftafelgesetz ist sachlich anerkannt auch ein mehr oder weniger fester Bestand von Regeln, deren Geltung selbstverständlich ist und nicht auf göttliche Herkunft gegründet wird (»Gewohnheitsrecht«). Diese Ordnung wird als ius bezeichnet. Dieses ius (»Recht, Gericht, Berechtigung«) kann durch eine Einzelentscheidung konkreter oder abstrakter Art (lex, Gesetz) in der Volksversammlung besonders gestaltet werden.
Inhaltlich erfasst das Recht bereits viele Bereiche. Seine Einrichtungen sind vielfach noch ziemlich eigentümlich und zeitbedingt. Einzelheiten sind wegen der beschränkten Quellen zweifelhaft und umstritten.
Lit.: Bretone, M., Geschichte des römischen Rechts, 1992; Daube, D., Forms of Roman Legislation, 1966; Flach, D., Die Gesetze der frühen römischen Republik, 1994; Kaser, M., Das altrömische Jus, 1949; Westrup, C., Introduction to Early Roman Law, Bd. 1ff. 1954ff.; Wieacker, F., Römische Rechtsgeschichte, Bd. 1 1988
2. Öffentlicher Bereich
a) Verfassung
An der Spitze steht anfangs der (etruskische) König, nach seinem Sturz und dem Übergang zur Republik (res publica, »öffentliche Sache«) im Jahre 509 v. Chr. ein ehrenamtlich tätiger Prätor, dann zwei Konsuln (Grundsatz der Kollegialität) als Magistrat.
Die Konsuln erlangen die Führung der Republik durch eine Wahl auf Grund des Vorschlags ihrer Vorgänger (nur) für ein Jahr (Grundsatz der Annuität). Zu ihrer unbeschränkten Amtsgewalt (imperium) gehört auch die Zuchtgewalt (coercitio). Seit 367 können Plebejer Konsul werden (lex Licinia).
Neben König bzw. Konsuln steht die Versammlung der Alten (senes) oder Väter (patres) der patrizischen Geschlechterverbände (Senat). Diesem Senat gehören allmählich alle ehemaligen höchsten Amtsträger nach Ablauf ihrer Amtszeit (z. B. Konsuln, Prätoren) an. Sein Ratschlag (consilium), der in wichtigeren Angelegenheiten einzuholen ist, erlangt praktisch Gesetzeskraft (senatus consultum).
Über wichtige Angelegenheit entscheidet die Volksversammlung.
Das aus den Geschlechterverbänden (gentes) gebildete Volk (populus) versammelt sich anfangs in den comitia curiata (3 Bezirke [tribus] zu je 100 Reitern und 1000 Fußsoldaten in 10 Kurien [curia = coviria, Männergemeinschaft]). Neben sie treten wohl am Ende der Königszeit comitia centuriata (21 tribus mit insgesamt 193 centuriae, Hundertschaften). Die Art und Weise der Aufteilung sichert bei Abstimmungen, zu denen die Volksversammlung berufen ist (Krieg und Frieden, Magistratswahl, Gesetzgebung, Strafurteilsprovokation), den Patriziern die Mehrheit. Sonderorgane der Plebejer sind der seit 494 anerkannte Volkstribun (tribunus plebis) und die plebejische Versammlung. Der unverletzliche Volkstribun leitet die Plebsversammlung, hat ein Einspruchsrecht gegen Handlungen eines Magistrats (z. B. Konsuls) gegen einen Bürger (Interzessionsrecht) und ein Vetorecht gegen Senatsbeschlüsse. Die Entscheidungen der Plebsversammlung (plebiscita) erlangen später Gesetzeskraft (287 lex Hortensia).
b) Verwaltung
Das allmähliche Wachstum der Republik erfordert mehr verschiedene Magistrate, die sich außerdem bis gegen 300 auch den Plebejern voll eröffnet (zuletzt lex Ogulnia für Priesterämter). Dabei werden ab 447 Quästoren zur Verwaltung der öffentlichen Kasse und wohl seit 443 Zensoren für die Aufsicht über die Sitten und die Vermögensveranlagung zuständig.
Seit dem Jahr 367 erlangt der Prätor (später praetor urbanus, Stadtprätor) die Zuständigkeit für Streitverfahren.
Ädile, die ursprüngliche plebejische Tempelhüter sind, später aber sowohl aus Plebejern wie Patriziern (kurulische Ädile) vom Gesamtvolk gewählt werden, erhalten im gleichen Jahr die Aufsicht über den Markt und die öffentlichen Spiele.
Im übrigen gelingt es Rom, sein ständig erweitertes Reich ohne bürokratischen Apparat mit den Mitteln aristokratischer Herrschaftstechnik zu verwalten.
c) Verfahren
aa) Zivilverfahren
Dem einzelnen Hausvater untersteht sein Haus. Darüber hinaus muss und darf er auch seine sonstigen privaten Angelegenheiten selbst verfolgen (Selbsthilfe). Die Gemeinschaft verlangt hierbei aber, dass in allen nicht ganz eindeutigen Fällen eine Überprüfung in einem öffentlichen Verfahren (Erkenntnisverfahren) stattfindet und dass der verfolgende Zugriff (Vollstreckungsverfahren) nur in bestimmten Formen erfolgt. Kennzeichnend ist dabei die wohl der Entlastung der Höchstmagistrate (Prätor) und zugleich der Rechtssicherheit der Betroffenen dienende Zweiteilung des Verfahrens in zwei Abschnitte (in iure, vor Gericht bzw. in der Verfahrensstätte, apud iudicem, vor dem Richter).
Das Verfahren beginnt mit dem Rechtsruf des Verfolgers (Klägers), der den Gegner notfalls mit Gewalt zur Verfahrensstätte (in ius) führen kann. Auf der Verfahrensstätte (in iure), die sich auf dem Markt (forum) befindet, bringen die Beteiligten vor dem Magistrat (Prätor) in einem ersten Verfahrensabschnitt regelmäßig in der jeweils erforderlichen Verfahrensform (legisactio) ihr Vorhaben vor. Unterschieden werden dabei (5) verschiedene Legisaktionen, zu denen genau vorgeschriebene Spruchformeln gehören. Die legis actio sacramento bzw. legis actio per sacramentum (Legisaktion durch Eid), die entweder in rem (auf eine Sache d. h. ohne Unrechtsvorwurf gegen eine Person rein sachverfolgend, reipersekutorisch) oder in personam (auf eine Person) gerichtet ist, erfordert das Setzen einer feststehenden Summe (je nach dem Streitwert von über oder unter 1000 As beträgt sie 500 oder 50 As d. h. 5 Rinder oder 5 Schafe) durch jeden Streitteil, die der Unterliegende als Sühne für den nachträglich durch den Ausgang als falsch erwiesenen Eid, mit dem er ursprünglich seine Behauptung bekräftigte, an den Staatsschatz verliert. Die legis actio per iudicis arbitrive postulationem (Legisaktion durch Begehren eines Entscheiders oder Schlichters), die etwa bei der sponsio-stipulatio (Versprechen) oder der Erbengemeinschaftsteilung zur Verfügung steht, ermöglicht sofort nach dem Erheben der gegenseitigen Behauptungen das Begehren nach einer Entscheidungsperson (iudex, arbiter). Die etwas jüngere legis actio per condictionem (Legisaktion durch Ansage), die beispielsweise für Stipulation, Darlehen oder Litteralkontrakt auf eine bestimmte Leistung (certum) eröffnet ist, geschieht durch Ansagen eines neuen Termines zur Einsetzung einer Entscheidungsperson innerhalb von 30 Tagen (Frist für eine freiwillige Erfüllung) vor dem Prätor.
Nach dem Vorbringen des Verfolgers entscheidet der (König bzw. der) Magistrat (367 v. Chr. Prätor) darüber, ob die Rechtsordnung für das Begehren einen Schutz (actio, Klaganspruch) enthält. Bejaht er dies und ist der Gegner zur Verhandlung freiwillig oder nach Zwangsmaßnahmen wie Privathaft oder Vermögensvollstreckung bereit, so ermittelt der Magistrat unter Auswahl oder Auslosung seitens der Parteien den die Verhandlung durchführenden und die Entscheidung treffenden Richter (iudex).
Danach stellt der Magistrat das Verfahrensprogramm fest. Schließlich setzt er den Streit ein (litiscontestatio, Zeugenanrufung, Streitbefestigung), womit sich die Parteien gegenüber dem Magistrat dem Spruch des Richters (iudex) unterwerfen (Vertrag, str.) und ein zweiter Streit über das geltend gemachte Recht ausgeschlossen ist (Klagenkonsumtion).
Im zweiten, möglichst auf einen Tag beschränkten Verfahrensabschnitt vor dem iudex (in iudicio), der meist ein (senatorischer) Geschworener (ehrenamtlich tätiger Honoratior), manchmal auch ein Kollegium von mehreren recuperatores (»Wiederbeschaffern«) oder von centumviri (»Hundertmännern« bzw. deren Ausschüsse, decemviri) ist, versucht jede Partei ihre Behauptung zu beweisen. Der iudex würdigt frei die mit beliebigen Mitteln vorgebrachten Beweise. Er trifft dann entsprechend dem vorgegebenen Verfahrensprogramm, soweit er sich dazu in der Lage sieht, die Entscheidung, die endgültig ist.
Die Vollstreckung geschieht vor allem mit Hilfe der zwei restlichen (der insgesamt 5) Legisaktionen.
Die legis actio per manus iniectionem (Legisaktion durch Handanlegen) dient der Vollstreckung in die Person aus einer legis actio in personam und geschieht dadurch, dass der Verfolger 30 Tage nach einem Urteil oder Anerkenntnis dem nicht leistenden Gegner unter einer festen Formel vor dem Prätor die Hand auflegt und ihn, falls der Magistrat die Voraussetzungen erfüllt findet, zugesprochen erhält (addictio). Er darf ihn 60 Tage in Haft halten und nach dreimaligem vergeblichem Ausbieten zur Auslösung töten oder ins Ausland verkaufen oder ab 326 (lex Poetelia) als Schuldknecht die Summe abarbeiten lassen. Allerdings kann ein gleichbegüterter Dritter für den Ergriffenen als vindex (»Gewaltsager«) auftreten und die angelegte Hand wegschlagen, wodurch es zum Streit zwischen Verfolger und Drittem kommt, bei dessen Verlust durch den Dritten sich die Summe, gegen die der Ergriffene ausgelöst werden kann, verdoppelt (Litiskreszenz, Streitanwachsen). Die legis actio per pignoris capionem (Legisaktion durch Pfandergreifen) steht für die Vollstreckungen in Sachen in einigen wenigen anderen Fällen zur Verfügung. Im übrigen besteht für die legis actiones in rem (Klagansprüche auf eine Sache) weder ein Zugriff auf die Person des Unterlegenen noch ein eigenes Vollstreckungsverfahren, sondern nur der eigenmächtige Zugriff auf die Sache.
bb) Strafverfahren
In bestimmten Fällen befindet vielleicht anfangs der König über Unrechtshandlungen. Jedenfalls später entscheiden einzelne Magistrate (Konsul, duoviri »Zweimänner«, Quästor, Volkstribun, Ädil) nach einer Untersuchung über eine Tat, wobei ihr Spruch nur auf Tod oder Freispruch lauten kann (magistratisches Strafverfahren). Zumindest in späterer Zeit kann jeder männliche freie Bürger hiergegen die Volksversammlung (meist Zentruriatkomitien ® komitiales Verfahren) mit aufschiebender Wirkung anrufen (sog. valerische provocatio). Diese trifft dann in zunächst mündlicher öffentlicher Abstimmung eine ablehnende oder bestätigende endgültige Entscheidung.
d) Strafe
Unrechtstaten werden überwiegend mit den Mitteln der Hauszucht, des Kriegsrechts, der allgemeinen magistratischen Zuchtgewalt (coercitio) und des Zivilverfahrens verfolgt und nur in einigen seltenen Fällen mit einer öffentlichen Strafe belegt. Hierzu gehört vor allem Volksverrat (perduellio »arger Krieg«, Landesverrat, crimen laesae maiestatis »Verletzung des größeren Ansehens« zunächst der plebejischen Magistrate). Rechtsfolge ist ursprünglich allein die Todesstrafe (Enthauptung mit einem Beil), neben welche die Vermögenseinziehung tritt, später auch die vielleicht aus dem plebejischen Bereich stammende Geldstrafe.
Lit.: Behrends, O., Der Zwölftafelprozess, 1985; Völkl, A., Die Verfolgung der Körperverletzung im frühen römischen Recht, 1984; Wenger, L., Hausgewalt und Staatsgewalt im römischen Altertum, 1942; Wolf, J., Die litis contestatio im römischen Zivilprozess, 1968
3. Privater Bereich
a) Person
Vollberechtigt ist zunächst nur der freie römische Bürger (civis Romanus, Quirites [Pl.]).
Erworben wird seine Stellung durch Geburt, Einwanderung eines Latiners nach Rom, Verleihung durch die Komitien oder die Plebsversammlung und Freilassung, verloren durch Freiheitsverlust, Auswanderung, Aufgabe oder Untersagung von Wasser und Feuer (interdictio aqua et igni).
Der fremde Nichtbürger (hostis, peregrinus) ist dagegen aus dem Recht der römischen Bürger ausgeschlossen. Als Feind ist er rechtlos. Umgekehrt kann ihm eine römische Teilrechtsfähigkeit verliehen werden (commercium im Verkehrsrecht bzw., conubium im Eherecht).
Der Sklave (servus, mancipium, homo) ist ebenfalls aus dem römischen Recht ausgeschlossen. Sklave wird man durch Geburt, Kriegsgefangenschaft und Veräußerung ins Ausland, frei durch Freilassung. Der Sklave untersteht der Hausgewalt seines Herrn und wird wie eine Sache behandelt. Sein Herr kann ihm aber ein Sondergut (peculium »Viehherde«) einräumen, mit dem er zwar nicht rechtlich, wohl aber tatsächlich wirtschaften kann. Der Freigelassene (libertus) wird spätestens seit 312 römischer Bürger, bleibt aber seinem Freilasser (patronus) in verschiedener Weise verbunden (Zuchtgewalt, subsidiäres Erbrecht, vor der Freilassung zugesagte Dienste).
Das eheliche Kind, das eheliche Kind des Sohnes, des Sohnessohnes usw., die Frau sowie der angenommene gewaltfreie Hausfremde stehen unter der allerdings nur im privaten Bereich bedeutsamen Hausgewalt (potestas »Macht« über Hauskinder und Sklaven, mancipium »Handgreifung« über fremdes Hauskind, manus »Hand« über Ehefrau) des freien römischen Bürgers in seiner Eigenschaft als Hausvater.
Dieser hat das Recht über Leben und Tod (vitae necisque potestas), das nur sakrale, später moralische Regeln einschränken. Er kann den Gewaltunterworfenen jederzeit beanspruchen. Er erlangt seinen Erwerb, zu dem er ihn mit einem Sondergut (peculium) ausstatten kann. Der Gewaltunterworfene kann sich zwar binden, doch ist eine Vollstreckung wegen dieser Bindung ausgeschlossen.
Die Hausgewalt entsteht durch Geburt und die aus wirtschaftlichen, sozialen und religiösen Gründen geübte Annahme als Kind (adrogatio, adoptio). Dabei geschieht die adrogatio durch Anfrage an die Kuriatkomitien, deren Entscheidung eine konkrete lex (Gesetz) schafft. Bei der späteren adoptio wird anfangs der fremde Haussohn dreimal, Töchter und Enkel einmal, im Wege einer Manzipation (Veräußerung) an den künftigen Hausvater und anschließender Freilassung von der bisherigen Hausgewalt befreit und dann in einem Scheinverfahren (in iure cessio), bei dem der künftige Hausvater seine angeblich bestehende Gewalt behauptet und der bisherige Hausvater sie nicht bestreitet, dem neuen Hausvater zugesprochen.
Die Hausgewalt endet durch Tod, Verlust der Freiheit oder des Bürgerrechts, durch adrogatio und adoptio sowie durch emancipatio (Emanzipation). Bei ihr werden Söhne dreimal, Töchter und Enkel einmal, an einen Vertrauensmann übertragen. Von diesem werden sie jeweils freigelassen, wodurch sie an den Familienvater zurückfallen. Nach der letzten Übertragung werden sie, damit sie nicht in ein Freigelassenenverhältnis zum Vertrauensmann geraten, auf den leiblichen Vater zurückübertragen, damit dieser sie endgültig freilasse.
Das nicht eheliche Kind unterfällt keiner Hausgewalt, erhält aber vielfach vom Vater freiwillig Zuwendungen.
Agnaten sind alle freien Menschen, die im selben Hausverband stehen (oder stünden, falls ihr gemeinsamer Hausvater noch lebte). Gentile sind alle, die sich von einem meist sagenhaften gemeinsamen Stammvater herleiten.
Der nicht einer Hausgewalt unterworfene gewaltfreie Unmündige (impubes, Knaben bis 14 und Mädchen bis 12) und die gewaltfreie Frau unterstehen einem tutor (Vormund). Der Vormund hat eine treuhänderische Gewalt über Person und Vermögen des Mündels. Dessen Geschäfte bedürfen zur Wirksamkeit der Bekräftigung (auctoritas) des tutor. Tutor ist der gradnächste Agnat des Mündels (Bruder, Vatersbruder, Bruderssohn usw.), hilfsweise der nächste Gentile, bei Freigelassenen der Freilasser. Außerdem kann der Hausvater im Testament einen tutor bestimmen, der aber die Übernahme ablehnen kann.
Der offenbar Geisteskranke (furiosus) und der vom Magistrat durch Interdiktion entmündigte Verschwender (prodigus) erhalten einen treuhänderisch handelnden curator (Pfleger). Dies ist grundsätzlich der gradnächste Agnat oder Gentile.
b) Ehe
Die Regeln über die Ehe sind anfangs stärker sittlich als rechtlich geprägt.
aa) Voraussetzung der Ehe ist Geschlechtsreife. Soweit hausväterliche Gewalt besteht, bedarf es der Mitwirkung des Inhabers dieser Gewalt, insbesondere des Vaters der Frau, zum Eheschluss. Ihm geht ein Eheversprechen (sponsalia, Verlöbnis) voraus, in dem der Gewalthaber der Braut diese dem Bräutigam verspricht. Daneben kann der Bräutigam seinerseits die Heimführung zusagen. Beides kann durch Geldversprechen (Stipulation für den Fall des Versprechensbruchs) gesichert werden.
Die Eheschließung selbst erfordert den übereinstimmenden Willen, die Ehe einzugehen. Dieser äußert sich in gebräuchlichen Geschehnissen. Insbesondere führt der Bräutigam die Braut in sein Haus.
bb) Ausgeschlossen ist die Ehe unter Verwandten bis zum 6. Grad, mit einem Verheirateten sowie beim Fehlen des conubium (bürgerliche Eherechtsfähigkeit). Witwen sollen zur Vermeidung von Unklarheiten über die Vaterschaft von Kindern 10 Monate nach dem Tod des Mannes nicht heiraten.
cc) Aufgelöst wird die Ehe durch Tod, Verlust der Freiheit und des Bürgerrechts, Beendigung des conubium sowie durch Scheidung (divortium). Die Scheidung ist rechtlich nicht geregelt. Es genügen der Wille des Mannes oder beider Eheleute, die Ehe zu beenden, sowie moralisch ein dies begründender Anlass (Ehebruch oder sonstige schwere Eheverfehlung der Frau, Kinderlosigkeit).
dd) An Gütern gibt der Hausvater der Frau dem Ehemann in der Regel eine Mitgift (dos, praktisch Anteil am väterlichen Familiengut). Dadurch soll mittelbar der Unterhalt der Frau, die keinen Unterhaltsanspruch gegen den Mann hat, gesichert werden. Nach ihrem Tod oder einer auf ihrer Seite schuldlosen Scheidung fällt die Mitgift aus dem Vermögen des Mannes grundsätzlich an den ursprünglichen Geber zurück.
Persönlich gelangt die Frau (uxor) mit der Eheschließung als solcher nicht unter die Hausgewalt des Mannes, doch wird aus patriarchalisch-organisatorischen Gründen in der Regel zusammen mit dem Eheschluss der Übertritt in die Gewalt (manus, Hand) des Mannes vollzogen (® uxor in manu). Dies kann in verschiedener Form geschehen. Bei der vielleicht auf Patrizier beschränkten confarreatio (Konfarreation) opfern die auf zusammengebundenen, mit dem Fell eines Opferschafes bedeckten Stühlen sitzenden Brautleute vor 10 Zeugen und hohen Priestern ein Speltbrot (panis farreus). Bei der coemptio (Kauf), die wohl ein Sonderfall der mancipatio (Manzipation) ist, gibt der Mann für die Gewalt über die Frau eine ursprünglich tatsächliche, später symbolische Leistung (Kaufpreis). Schließlich erwirbt der Mann die Gewalt auch dadurch, dass die Frau ein Jahr mit ihm in gültiger Ehe gelebt hat (usus, Gebrauch), was sie aber dadurch verhindern kann, dass sie drei Nächte des Jahres (trinoctium) außerhalb des Hauses verbringt. Dann bleibt sie in der Familiengewalt ihres Hausvaters, bzw. bei deren Ende unter der Vormundschaft eines Agnaten.
Bei der Scheidung ist dementsprechend bei der gewaltunterworfenen Ehefrau eine besondere Beseitigung der männlichen Hausgewalt erforderlich (Rückübertragung, evtl. diffarreatio unter Speltbrotopfer).
c) Erbe
aa) Beim Tod des Hausvaters sind in der Regel Hauserben (sui heredes, seine Erben) vorhanden, die ohne weiteres zu gleichen Teilen an die Stelle des Hausvaters treten.
Hauserben sind alle Menschen, die durch den Tod des Vaters gewaltfrei (sui iuris, selbstmächtig) werden, nämlich vor allem die (mündigen) Söhne und Töchter, die adoptierten Kinder und adrogierten Söhne sowie die gewaltunterworfene Ehefrau. Obwohl mit dem Tod des Hausvaters der bisherige Hausverband in so viele neue Hausverbände und gewaltfreie Menschen (Frau, Tochter) zerfällt, als Menschen gewaltfrei werden, setzen mehrere Hauserben den Hausverband als Erbengemeinschaft (ercto non cito, consortium) fort. Das dadurch gemeinschaftliche Vermögen steht allen zur gemeinsamen Verwaltung und Verfügung zu, doch kann jeder auch allein verfügen. Während Forderungen als von selbst geteilt gelten, kann im übrigen jeder jederzeit mit einer besonderen Klage (actio familiae erciscundae) Teilung verlangen. Hierfür bilden jedes Kind und die Ehefrau einen anteilsberechtigten Stamm. Der vom Magistrat beauftragte Schlichter (arbiter) teilt jedem von ihnen die Sachgüter besonders zu (adiudicatio). Vielleicht können sich nach dieser Teilung einige bisherige Gemeinschafter wieder zu einer vereinbarten Gemeinschaft (consortium) zusammenschließen.
Fehlen Hauserben, so tritt eine Außenerbfolge ein. Es erben dann die Agnaten (Geschwister des Erblassers, Geschwister des Vaters, Kinder des Bruders usw.), hilfsweise die Gentilen, bei Freigelassenen der freilassende Patron. Sie müssen aber die Vermögensrechte durch eine besondere Handlung ergreifen.
Wer die Erbschaft an sich nimmt und diese ein Jahr lang unangefochten wie ein Erbe hat (usucapio pro herede), wird gegenüber jedermann geschützt. Er kann das Erbschaftsbegehren (hereditatis petitio) jeder anderen Person, die behauptet, Erbe zu sein, abwehren.
bb) Neben dieser natürlichen (oder gesetzlichen, vom Willen des bisherigen Berechtigten unabhängigen) Erbfolge kann der Erblasser willkürlich bzw. gewollt bestimmte Personen durch Errichtung eines Testaments (testamentum »Zeugenakt«) zu Erben - vielleicht anfangs nur von Einzelgegenständen – seines Vermögens machen.
Das bald abgestorbene Testament vor den zweimal jährlich zusammengerufenen Kuriatkomitien (testamentum calatis comitiis) sollte vielleicht ursprünglich zu einer Art Arrogation (Kindesannahme) führen und war in der Volksversammlung zu errichten. Vermutlich ein hiervon abgeleiteter Sonderfall ist das Testament vor dem aufgestellten Heer (testamentum in procinctu). Beim Testament durch Erz und Waage (testamentum per aes et libram, Libraltestament) überträgt der Erblasser ursprünglich wohl nur einzelne Gegenstände, später aber sein Vermögen als Einheit vor 5 Zeugen und einem Waagehalter an einen Vermögenskäufer (familiae emptor) als Treuhänder und erklärt dabei, an wen das Vermögen bei seinem Tod fallen soll. Der spätere Erwerb des Begünstigten tritt dann mit dem Tod des Erblassers von selbst ein.
cc) Ein einzelner Vermögensgegenstand kann neben der Erbfolge (in das ganze Vermögen) durch ein Vermächtnis (legatum) besonders zugewandt werden.
Beim Vindikationslegat (legatum per vindicationem) soll der Begünstigte (legatarius) im Todesfall die Sache unmittelbar erwerben, so dass er sie von jedermann herausverlangen kann (Vindikation). Beim wohl späteren Damnationslegat (legatum per damnationem) soll vielleicht der familiae emptor (treuhänderischer Vermögenskäufer) dem Bedachten nur für eine bestimmte Geldsumme, später auch für andere Leistungen haften , so dass der Berechtigte im Todesfall noch kein Recht an der Sache selbst erlangt. Sonderformen sind das legatum sinendi modo und das legatum per praeceptionem (Vorwegnahmelegat zugunsten eines Miterben).
d) Sachen
aa) Die Gewalt über Sachen wird anfangs nur allgemein als meum esse (mein sein, gehören) beschrieben.
Dieses meum esse hat sich, wie die speziellen Akte der Handergreifung (mancipatio) und Gewaltandrohung (vindicatio) andeuten, vermutlich bei beweglichen Sachen wie Vieh oder Sklaven ausgebildet, dürfte dann aber bald auch auf das Hofgrundstück und das Ackerland ausgedehnt worden sein, während das (gemeinsame) Weideland (ager compascuus) längere Zeit allen gemeinsam offengestanden haben dürfte. Als handgreifbare Sachen (res mancipi) werden jedenfalls später italische Grundstücke, Sklaven, Rinder, Pferde, Esel und Maultiere von allen übrigen Sachen (res nec mancipi) unterschieden.
Inhaltlich gestattet das meum esse grundsätzlich die beliebige Verfügung über die Sache.
Schranken ergeben sich jedoch sowohl aus allgemeinen Interessen (Schutz vor Brand oder Seuchen, Sicherung der Religion) wie auch aus privaten Interessen (Nachbarn dürfen notfalls überhängende Zweige abschneiden und Maßnahmen gegen verstärktes Einströmen von Wasser und Regen verlangen). Missbräuche kann außerdem der Zensor missbilligen.
Um eine möglicherweise von einem anderen entzogene Sache muss im Wege der Legisaktion durch Eid (legis actio per sacramentum in rem, vindicatio) gestritten werden (Vindikation).
Behauptet jemand beispielsweise den Entzug eines ihm gehörigen Sklaven, so kann er den derzeitigen Gewalthaber mittelbar zwingen, sich entweder auf ein Verfahren einzulassen oder die Sache preiszugeben. Ist der Gewalthaber zur Einlassung bereit, so fasst der Verfolger den Sklaven vor dem Magistrat (Prätor) an, berührt ihn mit einem Stab (festuca, vindicta) und spricht:
Hunc ego hominem ex iure Dass dieser Mann nach dem Recht
Quiritium meum esse aio der römischen Bürger mir gehört, sage ich;
secundum suam causam, dementsprechend,
sicut dixi, vindictam imposui. wie ich gesagt habe, habe ich den Stab angelegt.
Der Gewalthaber antwortet in gleicher Weise, dass die Sache sein sei. Nach dem folgenden Friedensbefehl des Magistrats fragt der Verfolger den derzeitigen Gewalthaber nach dem Grund seiner sein meum esse enthaltenden Behauptung. Dieser kann sich zunächst auf den Erwerb von einem Vormann (auctor) berufen und diesen auffordern, die Sache gegen den Verfolger zu verteidigen. Kommt der Vormann dem nach, so kann er sich seinerseits etwa auf einen weiteren Vormann berufen.
Scheitert letztlich die Verteidigung des (derzeitigen) Gewalthabers gegenüber dem Verfolger, so wird festgestellt, dass die Sache dem Verfolger gehört und ihm zu geben ist (Eviktion, Entwerung). Der Gewalthaber kann dann vielleicht anfangs als Ausgleich für Rechtsbruch, später auf Grund von zunächst wirklichem und danach stets vermutetem Versprechen von seinem Vormann (auctor) und Verkäufer den doppelten Kaufpreis verlangen. Gelingt umgekehrt letztlich die Verteidigung, so wird festgestellt, dass die Sache dem Gewalthaber gehört.
Das Gehören (meum esse) kann auf zahlreichen verschiedenen Gründen beruhen.
Dazu gehören außer der Erbfolge zunächst die Aneignung (occupatio) herrenloser Sachen (Jagd, Fischerei) oder auch nachgewiesermaßen preisgegebener (derelinquierter) Sachen, die Ziehung als Frucht einer eigenen Sache (z. B. Kalb einer Kuh) sowie die untrennbare Verbindung mit einer eigenen Sache (Ausgleich für die Verwertung eines fremden Balkens durch dessen doppeltem Wert, actio de tigno iuncto).
Daneben kann das Gehören (meum esse) auf einer Manzipation (mancipatio, Handgreifung) beruhen, die ein allgemeines Geschäft für die Überführung (hauptsächlich einer handgreifbaren Sache) aus der Gewalt eines Hausvaters in die Gewalt eines anderen ist.
Bei diesem Geschäft ergreift jemand eine handgreifbare Sache (res mancipi) eines anderen vor fünf mündigen Bürgern als Zeugen und einem Waagehalter (libripens) und lässt den realen Betrag ihres Wertes dem anderen in Erz (aes, Kupfer) in einer Waage (libra ® Libralgeschäft) zuwägen, wobei dieser das Metall unter schweigender Duldung der Handergreifung annimmt, so dass ein eigentliches positives einverständliches Zusammenwirken nicht ausgedrückt wird. Der bisherige Gewalthaber ist dann auctor (Vormann) des neuen Gewalthabers. Später wird die mancipatio dadurch fortgebildet, dass das Erz nicht mehr tatsächlich, sondern nur noch symbolisch in der Form einer einzigen kleinen Münze (nummo uno) zugewogen wird. Diese mancipatio nummo uno dient dann der Erlangung der Gewalt über handgreifbare Sachen (und Menschen) in einer Vielzahl von Fällen (Kreditkauf, Treuhand, Mitgift, Adoption, Emanzipation).
Weiter kann das Gehören (meum esse) sich auf eine in iure cessio (Übergang in der Entscheidungsstätte) gründen (Scheinverfahren).
Diese Möglichkeit geht aus der ursprünglichen tatsächlich durchgeführten legis actio sacramento in rem hervor. Ihre Form benutzt jemand später in der Art, dass er (fälschlich) vor dem Magistrat behauptet, dass die (in Wahrheit dem Gegner zustehende) Sache ihm gehöre, der anwesende Gegner nicht widerspricht und daraufhin der Magistrat dem ersten die Sache zuspricht. Diese in iure cessio dient bald der Erlangung der Gewalt in zahlreichen Fällen (Veräußerung nichthandgreifbarer Sachen, Kreditkauf, Treuhand, Mitgift, Adoption, Freilassung, Bestellung und Aufhebung von Nutzungsrechten).
Außerdem kann der Gewalthaber seine Berechtigung auf usucapio (Gebrauchnahme, Ersitzung) stützen, womit die Berufung auf einen Vormann überflüssig wird.
Wer Grundstücke 2 Jahre, andere Sachen 1 Jahr unangefochten gebraucht (und dadurch ersessen) hat, ist gegenüber jedermann geschützt. Dies gilt jedoch nicht für gestohlene oder von Unmündigen und Frauen ohne Mitwirkung des Vormunds veräußerte handgreifbare Sachen.
Einen relativen Schutz gewährt schließlich noch die formlose Übergabe (traditio) einer Sache auf Grund einer Zweckabrede (causa wie beispielsweise Erfüllung, Kauf oder Tausch).
Meum esse kann sich, wie die Erbengemeinschaft zeigt, ohne weiteres auf mehrere Menschen beziehen. Sie können diese Gemeinschaft ohne Schwierigkeiten auflösen (actio familiae erciscundae, actio communi dividundo Gemeinschaftsteilungsklageanspruch einer lex Licinnia).
bb) Neben dem meum esse werden schon früh andere Beziehungen zu einer Sache geschützt. Dazu gehören insbesondere die Anfänge der possessio (Besitz). Sie nehmen ihren Ausgang davon, dass jemand ein der Allgemeinheit gehöriges Stück Land zu Gebrauch und Nutzen übernimmt. Seine Stellung wird durch Interdikte des Magistrats gesichert. Schutz wird außerdem dem Gebrauch (usus) des Ersitzenden zuteil.
cc) Außer der umfassenden Beziehung zu einer Sache können auch beschränkte Nutzungsrechte an ihr begründet sein (Vorformen der servitus, Dienstbarkeit) wie z. B. Pfad (iter), Trift (actus), Weg (via) und Wasserleitung (aquaeductus). Sie werden als handgreifbare Sachen behandelt. Man erlangt sie durch mancipatio oder in iure cessio.
dd) Sachen können auch zur Sicherung hingegeben werden (Sicherungsübereignung, Verpfändung). Bei handgreifbaren Sachen geschieht dies durch mancipatio oder in iure cessio unter der Bestimmung, dass die hingegebene Sache gegen eine spätere Leistung zurückzuübertragen ist. Bei nicht handgreifbaren Sachen ist vermutlich eine formlose Bestellung eines Pfandes (pignus) durch Sachhingabe, die später entbehrlich wird, möglich. Unterbleibt die Auslösung, so behält der Pfandnehmer die Sache (Verfall).
e) Schulden
aa) Die Entstehung von Verpflichtungen (obligationes) dürfte auf den Ausgleich von Unrechtserfolgen (z. B. Tötung, später sog. »delicta«) zurückgehen. Das bei ihnen zunächst regelmäßig bestehende Racherecht des Verletzten oder seiner Verwandtschaft wird im Interesse der Allgemeinheit allmählich eingeschränkt und durch die Hingabe von Vermögensgegenständen (Sühneleistung) einverständlich abgelöst. Sobald eine Leistung durch den Verursacher, seine Verwandten oder Gentilen üblich und im Rahmen eines vielleicht nach griechischem Vorbild erstellten festen Kataloges von Vergleichssätzen (gr. poine, lat. poena), die entweder in einem bestimmten Metallwert (as, das Ganze, die Geldeinheit) oder in einem Vielfachen des Wertes des betroffenen Gegenstands bestehen können, verbindlich wird, dient der Zugriff auf die Person des Verursachers (manus iniectio, Handanlegung) nicht mehr der unmittelbaren Vergeltung, sondern der mittelbaren Erzwingung der Leistung. Er ist zulässig, sobald das Zugriffsrecht infolge einer freiwilligen Anerkennung, eines Urteils oder der Offenkundigkeit unbestreitbar ist und die lösungsfähige Leistung (Geldsumme) ziffernmäßig feststeht. Seine Zulässigkeit entfällt mit der Leistung, zu welcher der Verursacher aber anfangs nicht verpflichtet ist. Später tritt die Befreiung von der Haftung durch Leistung immer stärker in den Vordergrund, so dass allmählich eine Verpflichtung zur Leistung entsteht, welche die ursprüngliche Haftung mehr und mehr in den Hintergrund drängt.
Außer durch einen Unrechtserfolg kann sich eine Person schon früh durch ein besonderes Geschäft in eine entsprechende Lage bringen, indem sie sich dem Zugriff eines anderen unterwirft. Dies geschieht meist für den Fall, dass eine Leistung nicht erbracht wird, so dass die Bewirkung der Leistung von der Haftung befreit. Auch hier wird die Leistung bald wichtiger als die Haftung.
bb) Innerhalb der Unrechtserfolge, für die zunächst eine allgemeine Bezeichnung fehlt, ist von den ersten Quellen an ein allgemein bekannter, nicht erklärungsbedürftiger Bestand von Fällen vorhanden. Er betrifft vor allem die Personenverletzung, die Sachentziehung und die Sachbeschädigung.
Die Tötung eines Freien begründet ein Tötungsrecht der Verwandten des Opfers auf Grund eines Verfahrens. Soweit sie nicht parricidium (arge Tötung) ist, wird sie, abgesehen von der Opferung eines an die Stelle des Täters tretenden Widders, nicht ausgeglichen (z. B. Tötung durch fehlgegangenes Geschoss).
Die Verletzung eines Freien wird verschieden behandelt. Wer einem anderen ein Glied zerreißt, soll sich entweder mit ihm vergleichen oder (höchstens) dasselbe erleiden (Talionsprinzip). Wer einem anderen (nur?) ein Bein bricht, soll (nur?) die feste und daher bei Währungsverfall gefährdete Summe von 300 Pfund Kupfer (poena) entrichten, bei einem Sklaven 150 Pfund Kupfer. Wer einem anderen ein sonstiges Unrecht (iniuria z. B. sonstige Körperverletzung, Freiheitsentzug, Beleidigung) antut, soll 25 Pfund Kupfer leisten.
Die Sachentziehung (furtum, Diebstahl, zu ferre, tragen) hat verschiedene Folgen. Der auf frischer Tat ertappte Dieb (fur manifestus) sowie der durch feierliche Hausdurchsuchung (lance et licio, nur mit Schüssel und Schurz versehen) überführte Dieb dürfen anfangs privat getötet werden und werden später als Sklaven zugesprochen (addictio, Zusprechung). Sind sie unfrei, dürfen sie vom (tarpeischen) Felsen gestürzt werden. Jeder andere Dieb hat das Doppelte (duplum) des Wertes zu leisten und wird außerdem infam, was ihn vor allem von einer Vertretung im Verfahren ausschließt. Sonstige Veruntreuungstatbestände sind in Sonderregeln erfasst.
Die Sachbeschädigung hat in der Form des Fällens fremder Bäume zur Folge, dass pro Stück 25 Asse zu leisten sind.
Beruht einer der genannten Erfolge auf dem Verhalten eines Hauskinds, Sklaven oder Tieres, so kann sich der Hausvater von seiner grundsätzlich bestehenden Haftung außer durch Leistung durch die Preisgabe (noxae datio, Gabe des Schuldigen, ® actiones noxales, Noxalklagansprüche, beim vierfüßigen Haustier [quadrupes] sog. actio de pauperie, Klaganspruch über Minderung durch Schaden) befreien.
cc) Einzelne besondere Haftungsgeschäfte sind vor allem nexum und sponsio - stipulatio.
Davon ist das umstrittene nexum (Verknüpfung), bei dem durch Erz und Waage, also wohl zunächst gegen tatsächliches Entgelt (Darlehen), jemand einem anderen eine Zugriffsmacht mit der Möglichkeit der Enthaftung durch Rückzahlung einräumt, wohl schon im 4. Jahrhundert verboten.
Die sponsio - stipulatio (Stipulation, zu stips, Stab) ist eines der wichtigsten Geschäfte überhaupt. Bei ihr stipuliert (macht ein Vertragsangebot) ein Mensch, indem er beispielsweise fragt: centum mihi dari spondesne? (Versprichst du mir 100 zu geben?). Der Angesprochene antwortet: spondeo (Ich verspreche). Auf Grund dieses förmlichen Versprechens verfällt er vermutlich anfangs, falls er es nicht einhält, als sacer (geweiht, verflucht) der Schwurgottheit.
Nach darauf aufbauender Fortentwicklung ist die Stipulation ein Versprechen, eine Geldleistung, später auch eine andere bestimmte (certum) Leistung und schließlich sogar auch eine unbestimmte (incertum) Leistung zu erbringen.
Die förmliche Verhaftung kann vermutlich durch förmliche Enthaftungsgeschäfte aufgehoben werden (solutio per aes et libram, Lösung durch Erz und Waage sowie für die stipulatio die acceptilatio, Empfangnahme, Quittung).
Wahrscheinlich bestehen neben den förmlichen Haftungsgeschäften auch bereits formfreie Haftungsgeschäfte (mutuum, »das auf Tausch Gegebene«, Darlehen) sowie Vorstufen von Verbindlichkeiten, die sich auf die fides (Treue) als die Pflicht zum Einhalten eines bloßen Versprechens gründen.
Lit.: Colognesi, L., Storia dell’instituzioni romane archaice, 1978; Kaser, M., Eigentum und Besitz im älteren römischen Recht, 2. A. 1956; Kaser, M., Römisches Privatrecht, 16. A. 1992; Wieacker, F., Societas, 1936
B) Klassisches römisches Recht (3. Jh. v. Chr.-3. Jh. n. Chr.)
In der Zeit des klassischen römischen Rechts werden auf der Grundlage des schon ziemlich ausgeprägten altrömischen Rechtes hauptsächlich von der Jurisprudenz die Rechtseinrichtungen ausgeformt, welche die Weltgeltung des römischen Rechts begründen. Sie werden im Mittelalter durch Rezeption in vielen Ländern übernommen. In der Neuzeit finden sie vielfach Eingang in partikulares Recht und auch in nationalstaatliche Gesetzgebungen (vor allem Kodifikationen).
I. Grundlagen
1. Politische Verhältnisse
Zwischen dem 3. Jh. v. Chr. und der Zeitenwende entwickelt sich das römische Reich zu einem Weltreich und die Stadt Rom zu einer Großstadt.
Zu Beginn des 3. Jh. v. Chr. gewinnen die Römer, die zu dieser Zeit etwa 300000 waffenfähige Männer (und entsprechend viele Hausangehörige) gezählt haben sollen, die Herrschaft über Mittelitalien und Unteritalien, im 2. Jh. v. Chr. die Provinzen Africa (von den Puniern oder Karthagern) und Asia sowie Oberitalien und Spanien. Die von Norden eindringenden germanischen Stämme der Teutonen und Kimbern werden bei Aquae Sextiae (102) und Vercellae (101) geschlagen. Im 1. Jh. v. Chr. werden im Osten und Westen (Gallien 58-51, Caesar) neue Provinzen erobert. Dabei geraten die im Norden und Nordwesten ansässigen Kelten weitgehend unter die Herrschaft der Römer. Nach dem Übergang von der Republik zum Prinzipat wird der Gebietsstand nur noch abgerundet (z. B. 43 n. Chr. Britannien) und gegen den ständig wachsenden Druck der Randvölker (Germanen, Perser, Mauren) abgesichert (z. B. germanischer Limes ab 84 n. Chr.). Im Inneren kommt es im 3. Jahrhundert n Chr. zu Wirren unter den Soldatenkaisern.
Im Alpenraum, in dem der Hallstattkultur (bis etwa 500/400 v. Chr., mit frühen Siedlungsschwerpunkten am Rainberg bei Salzburg, am Dürrnberg bei Hallein oder im Sulmtal in der Steiermark) und der von den Kelten bestimmten La-Tène-Zeit im östlichen Teil das regnum Noricum (Reich der Norer) mit einem Hauptort am Magdalensberg (?) folgt, beginnt nach dem Sieg Caesars über die keltischen Helvetier bei Bibracte (58 v. Chr.) die vollständige römische Eroberung 16/15 v. Chr. Zunächst wird Rätien im Westen, dann zwischen 12 und 9 v. Chr. Norikum im Osten besetzt. Gegen das Jahr 50 n. Chr. wird das römische Provinzialsystem eingeführt. Hauptort der Provinz Raetia ist Chur, Hauptort der Provinz Norikum Virunum (Zollfeld), später Ovilava (Wels). Die südlichen Teile zählen zu Italia. Der helvetische Vorort Aventicum (Avenches) erhält unter Kaiser Vespasian die Rechtsstellung als colonia mit römischem Bürgerrecht.
2. Wirtschaft
Die Entwicklung zum Weltreich erweitert das Wirtschaftsgebiet und lässt den Verkehr und Handel mit Nichtrömern anwachsen. Die kriegerischen Auseinandersetzungen wie die günstigen Wirtschaftsbedingungen in den Provinzen führen zum weiteren Zerfall der kleinbäuerlichen Landwirtschaft, die weitgehend durch die mit den in den Kriegen zahlreich gewonnenen Sklaven betriebene Plantagenwirtschaft von Großgrundherren ersetzt wird.
Mit Hilfe von Sklaven werden daneben auch Manufakturen für Textilien, Metallwaren und Keramik geschaffen, die jedoch noch keinen Maschineneinsatz kennen. Der zunehmende Handel führt zur Entwicklung der Geldwirtschaft (187 v. Chr. Silberdenar mit 10 As von 4,55 gr. Gewicht, seit Cäsar aurei, Goldmünzen). Im 3. Jh. n. Chr. verfällt die gewerbliche Erzeugung, wird die Plantagenwirtschaft zur Pächterwirtschaft (coloni) und setzt ein allgemeiner Währungsverfall ein.
3. Gesellschaft
Der Gegensatz zwischen Patriziern und Plebejern wird ausgeglichen. Es entstehen aber neue Spannungen zwischen einem allmählich erwachsenden Amtsadel (Senatsfamilien) und Geldadel (ordo equester »Ritter«) sowie den mit dem Zerfall der kleinbäuerlichen Landwirtschaft zunehmenden Besitzlosen (Proletariern) und den zahlreichen, schlechter behandelten Sklaven. Reformversuche etwa schon der Gracchen (133, 122 v. Chr.) scheitern ebenso wie eigene Aufstände der Sklaven (Spartacus). Seit dem 2. Jh. n. Chr. verbessert sich zwar die Lage der Sklaven, doch werden umgekehrt dem freien Bürger immer mehr Lasten aufgebürdet.
4. Geistesleben
Der Einfluss des Griechentums verstärkt sich. Dadurch werden Kunst, Wissenschaft und Technik belebt, die altrömischen Sitten aber gefährdet. Mehr und mehr Raum gewinnt ein relativ hemmungsloser, mit persönlichem Luxus gepaarter Individualismus, gegen den Restaurationsversuche (Augustus) nur vorübergehenden Erfolg haben.
Lit.: Bleicken, J., Verfassungs- und Sozialgeschichte des römischen Kaiserreichs, Bd. 1ff. z. T. 3. A. 1989ff.; Latte, K., Römische Religionsgeschichte 1960; Nörr, D., Imperium und Polis in der hohen Prinzipatszeit, 2. A. 1969
1. Allgemeines
a) Bestimmend für die Zeit des klassischen römischen Rechts ist die Jurisprudenz.
Sie beginnt mit der Veröffentlichung der zuvor nur den Pontifices (Priestern) vertrauten Rechtsformeln (304 v. Chr. Gnaeus Flavius, Schreiber des Zensors Appius Claudius Caecus ® ius civile Flavianum, flavisches Zivilrecht). Dem folgt die öffentliche Ausübung einer weltlichen Rechtsunterweisung durch den ersten plebejischen pontifex maximus (Oberpriester) Tiberius Coruncanius (254). Danach betreiben zahlreiche, durch Vermögen von anderen Aufgaben freigestellte Angehörige der Oberschicht eine Rechtsfragen betreffende Tätigkeit durch Aufsetzen von Formularen (Kautelarjurisprudenz), Beratung und Gutachtenerteilung. Schon aus dem 2. Jh. sind dann einzelne Juristen und ihre Werke bekannt (Sextus Aelius Paetus Catus 198, ® ius Aelianum, aelianisches Recht, tripertitum, dreiteiliger Kommentar zu den 12 Tafeln; Marcus Iunius Brutus libri tres iuris civilis, 3 Bücher [liber zu ca. 25-40 Druckseiten] Zivilrecht). Von der griechischen Philosophie und Rhetorik werden die Juristen des 1. Jh. zur Übernahme der dialektischen, analytischen wie synthetischen Arbeitsweise angeregt (Quintus Mucius Scaevola † 82, erste systematische Darstellung des ius civile – Rechts der römischen Bürger -, Schaffung der cautio Muciana d. h. mucianischen Sicherheitsleistung, die eine unter der Bedingung, etwas Bestimmtes nicht zu tun, ausgesetzte Zuwendung absichern soll, Begründung der später sog. praesumtio Muciana d. h. mucianischen Vermutung, nach der bis zum Beweis des Gegenteils alles Vermögen der Ehefrau als vom Mann herrührend gilt; Gaius Aquilius Gallus [66 v. Chr.], Schöpfer der stipulatio Aquiliana, mit der viele Forderungen zu einer zusammengefasst werden, und der actio de dolo, Klaganspruch auf Schadensersatz bei Arglist; Servius Sulpicius Rufus † 43, erster Kommentar zum prätorischen Edikt mit Ansätzen zu einer Systematik).
Nach diesen Vorläufern beginnt die eigentliche klassische Jurisprudenz. Sie wird dadurch begünstigt, dass seit Augustus einzelnen Juristen das Recht verliehen wird, auf eine Anfrage im Namen des Staatsoberhaupts (princeps) eine gutachtliche Antwort (responsum ® sog. Respondierjuristen) zu erteilen, welcher der iudex zu folgen hat. Später dringen Sachverständige der Jurisprudenz überhaupt in die Verwaltung ein.
Die Äußerungen der Juristen betreffen hauptsächlich verallgemeinerte Einzelfälle (casus), für die sie die vorgegebenen Rechtssätze aus ihrer praktischen Erfahrung und Anschauung heraus meist ohne feste Regeln, Definitionen und Systeme und überwiegend auch ohne ausführliche Begründung auslegen. Die frühesten Vertreter der klassischen Rechtswissenschaft sind (Marcus Antistius) Labeo († zwischen 5 und 22 n. Chr.) sowie (Masurius) Sabinus (M. 1. Jh. n. Chr., iuris civilis libri tres, 3 Bücher Zivilrecht) einerseits und Proculus andererseits, nach denen die Schulen der Sabinianer und Prokulianer benannt sind. Diese Schulen unterscheiden sich in ihren Stellungsnahmen zu zahlreichen Einzelfragen und vielleicht im stärkeren Methodenbewusstsein der Prokulianer. Zu den Sabinianern gehören (Gaius Octavianus) Iavolenus (Priscus) (100 n. Chr.) und (Publius Salvius) Iulianus (100-175 n. Chr.) der neben Labeo die klassische Dogmatik am stärksten prägt. Von dem Prokulianer (Publius Iuventius) Celsus (Filius) (129) stammt die Beschreibung des Rechts als ars boni et aequi (Kunst des Guten und Gerechten, D. 1, 1, 1 pr.) und die Sentenz scire leges non hoc est verba earum tenere, sed vim ac potestatem (Gesetze zu kennen heißt nicht, ihre Worte zu halten, sondern ihre Gewalt und Macht, d. h. Sinn und Zweck).
Aus dem 2. Jh. sind am bekanntesten Sextus Pomponius, der in einem Handbuch (enchiridion) einen Abriss der römischen Rechtswissenschaftsgeschichte (de origine iuris) gibt und der vielleicht in der Provinz arbeitende Sabinianer Gaius (120-180), der in seinen commentarii betitelten neuartigen Institutionen (»Einrichtungen« 159?, 161?, heute wichtigste Handschrift 1816 in Verona wiederentdeckt), einem elementaren, von den Zeitgenossen aber kaum gewürdigten Einführungswerk in 4 Büchern das ius civile (Zivilrecht [der Römer]) und das ius gentium (Recht der Völker, Recht für alle nichtrömischen Völker) unterscheidet, die grundlegende systematische, der griechischen Gegenüberstellung von Menschen (Personen als den Subjekten des Rechts) und Sachen (als den Objekten des Rechts) folgende Einteilung in personae, res, actiones (Personen, [2 Bücher] Sachen, Klagansprüche) überliefert und das römische Zivilverfahren am klarsten darstellt. Den abschließenden Höhepunkt bilden die spätklassischen Juristen (193-235) (Aemilius) Papinian(us) (um 150-212), (Iulius) Paulus (160-224?), (Domitius) Ulpian(us) (170?-223) und (Herennius) Modestin(us )(1. H. 3. Jh.).
Von Ulpian stammt (vielleicht) u. a. die Wendung Iustitia est constans et perpetua voluntas ius suum cuique tribuendi. Iuris praecepta sunt haec: honeste vivere, alterum non laedere, suum cuique tribuere. (Gerechtigkeit ist der ständige Wille, jedem sein Recht zu gewähren. Die Vorschriften des Rechts sind: ehrbar leben, den anderen nicht verletzen, jedem das Seine geben.)
Mit dem Ende der Kaiserdynastie der Severer (235) endet infolge anschließender Wirren die Jurisprudenz ziemlich rasch und unvermutet.
b) Rechtsquelle sind zunächst vereinzelte Volksgesetze, Plebiszite (Beschlüsse des Volkes) und Senatuskonsulte (Ratschläge des Senats). Von ihren seltenen Eingriffen in den privaten Bereich ist die lex Aquilia de damno (von Aquilius gefördertes Gesetz über den Schaden, vermutlich 286 v. Chr.) am bedeutsamsten.
Dazu kommt die praktische Rechtspflege durch die Prätoren, die zunächst für das Verfahren mit (nichtrömischen) Fremden (peregrini) neue einfache Verfahrensprogramme aufstellen und dann überhaupt neue Klagansprüche anerkennen. Da diese Prätoren allmählich in einem Edikt zu Beginn ihrer Amtszeit ankünden, welche Grundsätze sie einhalten werden, erwächst heraus bald ein fester Bestand von stets zugesagten Rechtssätzen (edictum tralaticium, übertragenes Edikt).
Dieser Bestand wird für den Stadtprätor und die Ädile um 130 n. Chr. (auf Veranlassung Kaiser Hadrians) von Julian in eine endgültige, nicht überlieferte, sondern nur rekonstruierte Fassung gebracht (vgl. dazu Lenel, O., Das edictum perpetuum, 3. A. 1927, Neudruck 1956). Dem schließt sich die Auslegung (interpretatio) des vorhandenen Materials durch die Sachverständigen der Jurisprudenz an. Sie erfolgt grundsätzlich in (durch Verwendung allgemeiner Namen, Sachen und Summen verallgemeinerten) Fallbeispielen (Fallrecht).
Seit der Zeitenwende bildet sich daneben eine unmittelbare Rechtssetzung des Staatsoberhauptes (princeps, später Kaisers) in decreta (Entscheidungen), rescripta (Antworten) und mandata (Dienstanweisungen) heraus, die bald als gesetzesgleich gelten, als constitutiones (Konstitutionen, Festsetzungen) bezeichnet und schon im 2. Jh. (von einem Papirius Iustus) in einer Sammlung zusammengestellt werden.
Unmittelbar überliefert sind nur einige Volksgesetze, Senatskonsulte und Konstitutionen, die Institutionen des Gaius und vereinzelte Urkunden auf Wachstäfelchen (zweiseitige bis vierseitige Diptycha [doppelt zusammengelegte Tafeln] bzw. sechsseitige Triptycha [dreifach zusammengelegte Tafen]), während im Übrigen das heutige Wissen über die klassische Zeit aus den Quellen der nachklassischen Zeit und der allgemeinen Literatur stammt.
c) Das Recht wird allmählich in drei (bzw. vier) sich teilweise überdeckende Bereiche geteilt. Ius civile (Zivilrecht) ist das nur für den römischen Bürger geltende Recht der 12 Tafeln, der Volksgesetze und deren Auslegung durch die Jurisprudenz. Ius gentium (Recht der [nichtrömischen] Völker) heißt seit Cicero (106-43 v. Chr.) das (römische, auch und vor allem) für Nichtrömer geltende Recht, das nach späterer Ansicht auf der natürlichen Einsicht aller Völker beruht und dem ius naturale (Naturrecht, von der Natur dem Menschen vorgegebenen und deshalb nicht vom Menschen gemachten Recht, griech. physei dikaion im Gegensatz zu thesei dikaion, dem [vom Menschen] gesetzten Recht) nahesteht. Ius honorarium (Amtsrecht) ist das von den Magistraten, vor allem den Prätoren (® ius praetorium) geschaffene Recht, das vorwiegend den Bereich des Rechts der Völker (ius gentium) betrifft.
Lit.: Backhaus, R., Casus perplexus. Die Lösung in sich widersprüchlicher Rechtsfälle durch die klassische römische Jurisprudenz, 1981; Behrends, O., Die fraus legis. Zum Gegensatz von Wortlaut- und Sinngeltung in der römischen Gesetzesinterpretation, 1982; Bund, E., Untersuchungen zur Methode Julians, 1965; Eckardt, B., Iavoleni epistulae, 1978; Honoré, T., Gaius, 1962; Honoré, T., Ulpian, 1982; Horak, F., Rationes decidendi. Entscheidungsbegründungen bei den älteren römischen Juristen, 1969; Krampe, C., Proculus, 1970; Kunkel, W., Herkunft und soziale Stellung der römischen Juristen, 2. A. 1967; Manthe, U., Das senatus consultum Pegasianum, 1989; Medicus, D., Zur Geschichte des Senatusconsultum Velleianum, 1957; Nörr, D., Rechtskritik in der römischen Antike, 1974; Wesel, U., Rhetorische Statuslehre und Gesetzesauslegung der römischen Juristen, 1967; Wieacker, F., Textstufen klassischer Juristen, 1960
2. Öffentlicher Bereich
a) Verfassung
Die Republik wird unter (dem seinen Adoptivvater Caesar politisch beerbenden und sich zurückhaltend Prinzeps betitelnden Kaiser) Augustus (27 v. Chr.) durch den Prinzipat ersetzt.
In der (509 v. Chr. durch Vertreibung der Könige geschaffenen) Republik setzt sich zunächst ein fester aufsteigender Kursus der noch immer ehrenamtlich bekleideten Ämter und Magistrate durch (180 lex Villia annalis, Quästur, Tribunat oder Ädilität, Prätur, Konsulat, Zensur). Im Senat, dessen Bedeutung deswegen lange Zeit zunimmt, finden alle ehemaligen Amtsträger Aufnahme. Die Volksversammlung, die nach dem 3. Jh. zur Sicherung der Mehrheit der Grundherren neu in Tributskomitien gegliedert wird, büßt ihre Befugnisse allmählich ein.
Die Republik geht an den erstmals unter den Gracchen sichtbaren Parteiungen zwischen Optimaten (Reichen) und Popularen (Armen) zugrunde, die schon unter Marius († 86) und Sulla zu grausamen wechselvollen Bürgerkriegen führen, in deren Verlauf das sich selbst tragende Bürgerheer vom proletarischen Söldnerheer abgelöst wird. Gestützt auf dieses Heer errichtet Caesar († 44 v. Chr.) eine Diktatur und Oktavian (Augustus) den Prinzipat. Danach leben die republikanischen Organe zwar fort, verlieren aber neben der allmählich entstehenden Allgewalt des Prinzeps jedes sachliche Gewicht. Seit dem Anfang des 3. Jh. ernennt das Heer die Prinzipes (Kaiser), von denen die meisten rasch ermordet werden, so dass die Mitte des 3. Jh. viele Züge vollständiger Anarchie zeigt.
b) Verwaltung
Auf Grund der Ausdehnung des Reiches werden in Rom zahlreiche neue, vor allem niedere Ämter geschaffen. Im übrigen Italien erhalten die einzelnen Gemeinden zunächst eine ziemlich verschiedene Stellung als oppidum, colonia oder municipium mit teils eigener, teils römischer Verwaltung, bis vermutlich unter Caesar eine in Magistrate, Senat (ordo decurionum, Gemeinderat) und Volksversammlung gegliederte, einheitliche Kommunalverfassung eingerichtet wird (lex Iulia municipalis, julisches Stadtgesetz). Den Provinzen stehen Statthalter als eine Art Aufsichtsbehörde über die einheimische Verwaltung vor. Im Prinzipat zieht der Prinzeps im Interesse der allgemeinen Wohlfahrt immer mehr Aufgaben an sich. Ihrer Bewältigung dienen neue, nach Sachbereichen gegliederte Verwaltungsbehörden.
Die nunmehr auftretenden Steuern (stipendium, Grundsteuer, mancherorts auch tributum capitis, personale Vermögensteuer oder Gewerbesteuer) werden von meistbietend pachtenden privaten Steuerpächtern (publicani, öffentliche Aufgabenübernehmer, also nicht von den Magistraten unmittelbar) möglichst gewinnreich eingetrieben. Augustus erweitert das Steuerwesen um eine 5%ige Erbschaftsteuer für Außenerben. Im übrigen wird der öffentliche Bereich durch Einnahmen aus den Staatsgütern (kaiserlichen Domänen) unterhalten.
c) Verfahren
aa) Zivilverfahren
Im Jahre 242 v. Chr. wird die Prätur aufgespalten in die urbane Prätur (praetor urbanus) für römische Bürger und die peregrine Prätur (praetor peregrinus) für Fremde.
Neben die einzelnen Legisaktionenverfahren, die allmählich veralten und bis auf geringe Reste 17 v. Chr. abgeschafft werden (lex Iulia iudiciorum privatorum), tritt das sog. Formularverfahren.
Es ist vielleicht anfangs nur den Fremden (peregrini) zugänglich und kennt statt der wenigen Legisaktionen viele, auf das jeweilige Rechtsverhältnis bezogene Klageformeln (lex Aebutia 1. H. 2. Jh. v. Chr.), u. a. z. B. statt der legis actio per condictionem die condictio. Sie werden auf den formlosen Vortrag der Parteien vor dem Prätor meist schriftlich niedergelegt (® litis contestatio, Streitbefestigung) und haben für die Herausgabe einer bestimmten Sache etwa folgende Gestalt:
Ea res agitur de ... Die Sache geht um ...
(sog. praescriptio).
Lucius Titius iudex esto. Lucius Titius soll Richter sein.
Si paret N(umeriu)m N(e- Wenn sich ergibt, dass N. N.
gidiu)m A(ul)o A(geri)o dem A. A.
sestertium x milia dare 10000 Sesterzen geben
oportere (sog. intentio) muss (Begehren),
qua de re agitur worum gestritten wird,
iudex N(umeriu)m N(egi- soll der Richter N. N. zu
diu)m A(ul)o A(geri)o 10000 Sesterzen an A. A.
sestertium x milia con- verurteilen
demnato (sog. condemnatio), (bedingter Verurteilungsbefehl),
si non paret, wenn es sich nicht ergibt,
absolvito. freisprechen.
Bei einer bestimmten Sache kann der Richter zwar dem Gegner auf Grund einer Restitutionsklausel die Rückgabe gestatten, die Formel kann aber, damit auch ein Dritter den Angesprochenen auslösen kann, nicht auf die Sache selbst, sondern nur auf ihren Schätzwert (quanti ea res erit, was die Sache wert ist) lauten (Grundsatz der Geldkondemnation). Andererseits kann der Prätor eine bestehende actio-Formel erweitern (actio utilis, nützlich gemachter Klageanspruch) oder für rechtsschutzwürdige Fälle neu begründen (actio in factum, Klaganspruch für den Sachverhalt). Außerdem kann der Angesprochene eine Einrede (exceptio) in die Formel aufnehmen lassen (z. B. nec inter A(ulu)m A(geriu)m et N(umeriu)m N(egidiu)m convenisse, ne ea pecunia peteretur, und nicht zwischen A. A. und N. N. vereinbart wurde, dass das Geld wegen Stundung nicht verlangt wird), die ihn trotz des grundsätzlichen Bestehens des Anspruchs vor der Verurteilung schützt. Die Wirkungen des Verfahrens betreffen grundsätzlich nur die Beteiligten, so dass sie dann, wenn im Ergebnis für einen anderen (Vertretenen) gehandelt werden soll, von dem »Vertreter« (cognitor, procurator, tutor, curator) in besonderer Weise auf diesen übergeleitet werden müssen. (Aulus Agerius ist von augere, vermehren und agere, klagen abgeleitet, Numerius Negidius von numerare, zahlen und negare, verneinen).
Die Vollstreckung geschieht bei allen Leistungsklagansprüchen durch die actio iudicati (Klaganspruch aus Urteil). Sie ersetzt die legis actio per manus iniectionem und wird von dem einen Teil beim Magistrat gegen den anderen beantragt, der sie entweder anerkennen oder, um eine Art Überprüfung der Entscheidung zu erreichen, unter der Gefahr der Litiskreszenz (Streitanwachsen, „Erhöhung des Streitwerts“) bekämpfen kann. Zugegriffen wird hauptsächlich auf die Person (Schuldknechtschaft), doch kann der Prätor die siegreiche Partei auch in die Güter des Gegners einweisen (missio in bona), wonach es meist zum öffentlichen Aufgebot und zum Verkauf aller Güter zugunsten aller Gläubiger an einen einzigen Erwerber (Generalexekution, eine Art Gesamtvollstreckung) kommt.
Der Prätor kann weiter zur raschen Rechtsverwirklichung in bestimmten Fällen auf Antrag ein Verbot erlassen (interdictum, Interdikt, insbesondere zum Besitzschutz). Außerdem kann er in gewissen Angelegenheiten eine Wiederherstellung des früheren Zustandes (restitutio in integrum z. B. bei Betrug) ermöglichen.
Seit Augustus wird aus wohlfahrtsstaatlichen Erwägungen allmählich das bisher geübte zweigeteilte Verfahren vor Magistrat (in iudicio) und ehrenamtlich tätigem Richter (apud iudicem) durch die grundsätzlich einheitliche Untersuchung und Entscheidung (cognitio ® Kognitionsverfahren) eines einzigen öffentlichen Amtsträgers ersetzt.
Dieses recht formlose Verfahren erscheint in Rom selbst zunächst als cognitio extra ordinem (außerordentliche Erkenntnis) durch den Prinzeps in seiner Stellung als Tribun, dann durch einzelne angewiesene Magistrate und schließlich durch die Verwaltung des Prinzeps. Dabei wird der Prinzeps zunehmend bei Appellationen gegen Entscheidungen in diesem Kognitionsverfahren und auch in dem im Laufe des 2. und 3. Jh. gänzlich verschwindenden Formularverfahren (342 n. Chr. Verbot des Gebrauchs der Klagformeln) tätig.
Im Kognitionsverfahren sind die Parteien der Entscheidung ohne weiteres unterworfen, so dass die Litiskontestation (Streitbezeugung) an Bedeutung verliert. Die Ladung wird ein amtlicher Akt, dessen Nichtbefolgung (contumacia, Verfahrensverweigerung) den Streitverlust nach sich zieht (Versäumnisverfahren). Das Begehren (actio) richtet sich allein nach dem sachlichen Recht, Einrede (exceptio) wird jedes der Gegenseite günstige Vorbringen. Das auf freier Beweiswürdigung beruhende Urteil wird schriftlich verfasst und braucht nicht mehr unbedingt auf Geld zu lauten (Ende der unbedingten Geldkondemnation). Die Kosten trägt in der Regel der Unterlegene. Gegen die Entscheidung wird die Appellation an eine höhere Instanz möglich, welche die Vollstreckung hemmt. Bei der Vollstreckung kann allmählich ein einzelner Gegenstand weggenommen und ausgehändigt oder versteigert werden (Spezialexekution).
bb) Strafverfahren
Seit dem 3. Jh. v. Chr. dringt die öffentliche Unrechtsverfolgung vor. Es erscheint zunächst eine Polizeigewalt (tres viri capitales) zur Bekämpfung der städtischen Gewalttäter, Giftmörder und Brandstifter.
Seit dem 2. Jh. v. Chr. werden außerordentliche Untersuchungen (quaestiones extraordinariae) durch Geschworene unter magistratischem Vorsitz für besondere Fälle durchgeführt, aus denen allmählich festere Einrichtungen werden. Dies beginnt nach Beschwerden über Erpressungen der Provinzstatthalter mit der quaestio (Untersuchung) für Repetunden (Rückerstattung, 149 v. Chr.) und für parricidium (arge Tötung, 142 v. Chr.). Danach richtet Sulla sieben quaestiones ein (Hochverrat [crimen maiestatis], Unterschlagung von öffentlichem Gut [peculatus], Wahlbestechung [ambitus], Provinzausbeutung [repetundarum], Giftmord [de sicariis et veneficis], Fälschung [de falsis], Injurie [de iniuriis]). Schließlich schafft Augustus für die meisten Verbrechen öffentliche Gerichte (iudicia durch die lex Iulia iudiciorum publicorum) und gibt das altrömische magistratisch-komitiale Verfahren weitgehend auf. Daneben verleiht er den Leitern neu eingerichteter Polizeistationen eine außerordentliche Strafbefugnis zur Sicherung der öffentlichen Ordnung. Im Übrigen wird die Unrechtsverfolgung Amtspflicht des Prinzeps und seiner Präfekten, die sie mit Hilfe der außerordentlichen Erkenntnisbehörde (cognitio extra ordinem) erfüllen, welche die Geschworenengerichte allmählich verdrängt.
Das Verfahren bei den Untersuchungsbehörden (quaestiones) kann jeder Bürger in Gang bringen. Bei erfolgreicher Durchführung erhält er als Anzeiger (delator) einen Lohn (Anzeigelohn). Der Beschuldigte kann die Geschworenen unter Umständen ablehnen und Verteidiger zuziehen. Allmählich kann das Verfahren auch Sklaven erfassen. Seit Tiberius können Freie gefoltert werden. Unter Trajan dringt der Ausdruck corrigere (richten) in das Verfahrenswesen ein. Schon seit Augustus ist die Appellation (Berufung) gegen ein Urteil möglich.
d) Strafe
Der private Ausgleich von Unrecht wird mit dem Anwachsen öffentlicher Herrschaftsgewalt zunehmend durch öffentliche Strafe ersetzt.
Dies geschieht in Einzelgesetzen, die für die Praxis nur einen ungefähren Maßstab für Tatbestände und Rechtsfolgen abgeben. Allgemeine Grundsätze fehlen, doch lässt ein Reskript Hadrians das allgemeine Schuldprinzip erkennen. Außerdem darf niemand in derselben Sache zweimal bestraft werden (ne bis in idem) und ist im Zweifel (in dubio) freizusprechen.
Die wichtigsten besonderen Tatbestände sind Hochverrat und Landesverrat (perduellio), Majestätsverbrechen gegen den Kaiser (princeps), Provinzausbeutung, Unterschlagung von öffentlichem Gut, Wahlbestechung, arge Tötung (parricidium), Menschenraub, Giftverabreichung, Brandstiftung und sonstige Gewaltverbrechen (unter Sulla ergangene lex Cornelia de sicariis et veneficis, cornelisches Gesetz über Straßenräuber und Giftmischer), qualifizierter Diebstahl, Fälschung von Testamenten und Münzen (sullanische lex Cornelia testamentaria nummaria, cornelisches Gesetz über Testamente und Münzen), Vergewaltigung, Ehebruch (seit Augustus), Amtserschleichung und Erpressung von Amtsträgern. Dazu kommen allmählich die absichtliche grundlose Tötung von Sklaven (seit Kaiser Claudius), die allgemeine Urkundenfälschung, Unzucht (stuprum), Kornwucher, Anmaßung des Herrenrechts (plagium), Bereicherung durch falschen Eid (stellionatus, zu stellio, Skorpion, Ränkeschmied), Magie (seit Kaiser Trajan), Abtreibung (seit Kaiser Severus) und Erpressung (concussio).
Rechtsfolgen sind die seit dem 2. Jh. v. Chr. durch das Entweichenlassen ins Ausland ersetzte, von Augustus aber wieder verwirklichte Todesstrafe (Schwert), Verbannung, (zusätzliche) Ausprügelung, Schmälerung der bürgerlichen Rechte, Zwangsarbeit (seit Kaiser Tiberius) vor allem im Bergwerk, Geldleistung an den Fiskus sowie Freiheitsentzug als Begleitfolge zu Hinrichtung und Zwangsarbeit. Seit dem 2. Jh. n. Chr. ist bei Grabschändung eine der Festsetzung des Stifters entsprechende Geldleistung an die öffentliche Kasse zu erbringen.
Lit.: Behrends, O., Die römische Geschworenenverfassung, 1970; Bleicken, J., Die Verfassung der römischen Republik, 4. A. 1985; Broggini, G., Iudex arbiterve, 1957; Grziwotz, H., Das Verfassungsverständnis der römischen Republik, 1985; Jahr, G., Litis contestatio, 1960; Kaser, M., Das römische Zivilprozessrecht, 1966; Kunkel, W., Untersuchungen zur Entwicklungen des römischen Kriminalverfahrens, Abh. d. bay. Ak. d. Wiss. N. F. 56 1962; Liebs, D., Die Klagenkonkurrenz im römischen Recht, 1972; Schmidlin, B., Das Rekuperatorenverfahren, 1963; Selb, W., Formeln mit unbestimmter intentio, 1974; Söllner, A., Zur Vorgeschichte und Funktion der actio rei uxoriae, 1909; Wacke, A., Actio rerum amotarum, 1963; Wolf, J., Die litis contestatio im römischen Zivilprozess, 1968
3. Privater Bereich
a) Person
aa) Vollberechtigt ist nur der freie römische Bürger.
Seit Caesar wird die Stellung eines römischen Bürgers immer häufiger verliehen. Schließlich gewährt die constitutio Antoniniana Kaiser Caracallas (212 n. Chr.) möglicherweise zum Zweck der Ausdehnung der Erbschaftsteuerpflicht allen freien Reichsangehörigen neben ihrem Heimatrecht (Volksrecht) das römische Bürgerrecht (Reichsrecht) – und damit die Anwendbarkeit des römischen ius civile auf sie - , womit gleichzeitig zahlreiche zwischenzeitlich entstandene Zwischenstufen (latini, dediticii) überflüssig werden. Der fremde Nichtbürger bleibt aus dem römischen Recht für römische Bürger (ius civile) ausgeschlossen.
Der Sklave (servus) ist grundsätzlich Sache. Seine Stellung verschlechtert sich zunächst auf Grund der zahlreichen Kriege und des Einsatzes in Großunternehmen, verbessert sich dann jedoch infolge der abnehmenden Zahl und der stoischen Sozialethik. Bei den Strafen wird der Sklave als Mensch (Person) behandelt, gegen den (bzw. die) Folter zulässig und eine härtere Rechtsfolge üblich ist. Außerdem gewinnt das ihm zur Bewirtschaftung überlassene Sondergut (peculium) an tatsächlicher Bedeutung.
Bei den Freilassungsformen verschwindet die manumissio censu, während andererseits nunmehr der Erblasser einem Dritten die Freilassung durch Fideikommiss anvertrauen kann. Außerdem kommen im Recht des Prätors die Freilassung vor Freunden (inter amicos) und durch Brief (per epistulam) auf. Augustus schränkt die Freilassung wegen der Überfremdungsgefahr ein (lex Fufia Caninia 2. v. Chr., lex Aelia Sentia 4 n. Chr.). Minderwertige Sklaven werden nur dediticii (Unterworfene). Der Freigelassene wird durch Verflüchtigung der Patronatsgewalt begünstigt, doch bleibt die Zusage von Diensten an den freilassenden Herrn üblich.
Für das Hauskind schwindet allmählich das Recht des Hausvaters über Leben und Tod. Weiter hat der Hausvater immer öfter für gewisse Geschäfte der Hauskinder einzustehen. Haussöhne im Heeresdienst können seit Augustus und Nerva über ihr Sondergut (peculium) testamentarisch verfügen (peculium castrense, Heersondergut). Der für gewaltfreie Unmündige nötige Vormund (tutor) wird meist durch Testament des Hausvaters bestimmt, doch erscheint seit der lex Atilia (210 v. Chr.) auch die Bestellung durch Magistrate, für die sich wegen des Fehlens einer Ausschlagungsmöglichkeit für die Bestellten bald eine Anzahl von Entschuldigungsgründen ausbildet. Die Vormundschaft über Frauen verblasst vor allem auf Grund der Ehegesetze des Augustus.
Bei der Verwaltung des Mündelgutes ist der Vormund Treuhänder des Mündels. Er kann für den Mündel Eigentum und Besitz veräußern und erwerben. Bei Verpflichtungen des Vormunds besteht nur eine actio utilis für und gegen den Mündel. Seit Kaiser Marc Aurel wird die Verwaltung des Vormunds im Interesse des Mündels an gewisse Regeln (z. B. Anlage in Grundvermögen – mündelsicher -) gebunden und einer öffentlichen Aufsicht unterworfen. Der Mündel selbst bedarf zur Wirksamkeit einer belastenden Handlung der Zustimmung (auctoritas) des Vormunds. Seit einem rescriptum divi Pii muss der Mündel andernfalls die erlangte Bereicherung (quanto locupletior factus est) herausgeben.
Die Pflegschaft (cura) kann auf Grund wohlfahrtsstaatlicher Überlegungen außer bei Geisteskranken, Verschwendern, Tauben, Stummen, Altersschwachen, evtl. Unmündigen und Frauen nun auch auf Antrag für Mündige unter 25 Jahren eingerichtet werden (cura minorum), wobei sie anfangs nur einzelne Geschäfte betrifft. Der Pflegling bedarf für eigene Handlungen dann der Zustimmung (consensus) des Pflegers (curator).
bb) Träger von Rechten und Pflichten können auch (aus mehreren einzelnen Menschen gebildete) Personenverbände sein, auf die seit der jüngeren Republik Grundsätze des privaten Bereichs angewandt werden können.
Subjekt sind dann die Mitglieder in ihrer Gesamtheit (z. B. municipia, coloniae, Gemeinden, collegia, sodalitates, Verbände wie z. B. der Steuerpächterverband, populus Romanus, römisches Volk, anders behandelt wird das aerarium [Staatskasse], das im Prinzipat vom fiscus caesaris [Amtsvermögen des Prinzeps] und vom patrimonium caesaris [Privatvermögen des Prinzeps] verdrängt wird).
b) Ehe
Die Ehe bleibt ein hauptsächlich außerrechtlich (sozial) geordnetes Verhältnis.
Beim Verlöbnis (sponsalia) verschwinden Stipulationsform und Klagbarkeit. Die augusteischen Ehegesetze lex Iulia de maritandis ordinibus, julisches Gesetz über die zu verheiratenden Stände 18 v. Chr., lex Papia Poppaea 9 n. Chr.) stellen aus moralischen und bevölkerungspolitischen Gründen Eheverbote etwa mit anrüchigen Frauen und Ehegebote für Männer über 25 und Frauen über 20 Jahren auf. Als Folge der Eheverbote gewinnt der Konkubinat an Bedeutung.
Die Mitgift (dos) dient verstärkt der Versorgung der Frau nach Ende der Ehe. Deshalb verbietet die lex Iulia de dote fundali (julisches Gesetz über die Grundstücksmitgift, 18 v. Chr.) die Veräußerung eines Mitgiftgrundstücks ohne Zustimmung der Frau. Ihrem Rückgabeanspruch dient die actio rei uxoriae (Klaganspruch wegen Frauensachen), der aber Gegengründe entgegengehalten werden können (z. B. retentio propter liberos, Zurückbehaltung eines Sechstels wegen eines Kindes). Bei der immer häufigeren gewaltfreien Ehe bleibt das Vermögen der Ehegatten rechtlich getrennt, wird aber tatsächlich unter der Verwaltung des Mannes (Verwaltungseinheit) gemeinsam genützt. Zur Verhinderung emotional begründeter, unökonomischer Vermögensverschiebungen grundsätzlich verboten ist - vielleicht seit Augustus - die Schenkung unter den (Hausverbänden der) Ehegatten, wobei beim Verstoß hiergegen nur die erlangte Bereicherung (quanto locupletior factus est, worum er d. h. der Empfänger reicher geworden ist) herauszugeben ist.
c) Erbe
Das unübersichtliche und verwickelte Erbrecht wird im Gefolge der wirtschaftlichen Veränderungen zunehmend individualistischer gestaltet.
aa) Der Erbe (Hauserbe oder Außenerbe) erlangt die Erbschaft (hereditas), zu der vor allem Vermögensrechte zählen, als Einheit durch Gesamtnachfolge (succedere, Universalsukzession). Dabei wird nach der Verbesserung des Erbrechts durch den Prätor zwischen dem Erben (heres) des zivilen Rechts und dem bonorum possessor (Güterbesitzer) des prätorischen Rechts, der nicht Erbe ist und nur wie ein Erbe geschützt wird, unterschieden.
Die bonorum possessio (Güterbesitz) weist der Prätor auf Antrag nach vorläufiger Prüfung dem zu, den er am ehesten für berechtigt hält. Diese Stellung verschafft ihrem Inhaber zunächst nur Schutz und Zuständigkeit für den Bereich des prätorischen Rechts. Durch Ersitzung kann der bonorum possessor aber (nach entsprechendem Zeitablauf) Eigentümer nach zivilem Recht werden.
Mehrere Erben erhalten das Erbe seit dem Prinzipat als Bruchteilsgemeinschaft (communio, Gemeinschaft), in der jeder Gemeinschafter einen rechnerischen Anteil hat, über den er frei verfügen kann. Während Forderungen grundsätzlich von selbst geteilt sind, kann jeder Miterbe im Übrigen jederzeit Teilung des Nachlasses verlangen. Fällt ein zum Miterben berufene Erbe weg, wächst sein Anteil den übrigen Miterben (Erben) an (Akkreszenz). Hat einer der Hauserben bereits vor dem Erbfall eine Abfindung oder Mitgift erhalten, so wird er zwar jetzt Erbe, doch findet durch den Prätor eine Verrechnung des bereits im voraus Erlangten statt (collatio bonorum bzw. collatio dotis).
Für Schulden oder Verpflichtungen des Erblassers hat der (ja auch die Rechte erlangende) Erbe einzustehen, wobei teilbare Schulden auf mehrere Erben von selbst aufgeteilt sind. Der Erbe kann sich nur durch (vom Prätor allmählich erlaubtes) Abstehen (Hauserbe) bzw. Nichtannehmen oder Ausschlagen (Außenerbe) der Verbindlichkeit entziehen. Nur in besonderen Ausnahmefällen kann der Erbe eine Trennung des Nachlasses von seinem Privatvermögen (separatio bonorum) erreichen und dadurch die Vollstreckung wegen einer Schuld des Erblassers von seinem bisherigen Vermögen abwenden und auf den Nachlass beschränken (beschränkte Erbenhaftung).
Der Erbe nach zivilem Recht kann alle Vermögensvorteile, die ein anderer aus der Erbschaft erlangt hat, von jedermann herausverlangen (hereditatis petitio, Erbschaftsbegehren), wobei ein gutgläubiger Besitzer nach dem Senatusconsultum Iuventianum (juventianischer Senatsratschlag, 129 n. Chr.) nur herauszugeben hat, worum er (noch) bereichert ist. Der Erbe nach prätorischen Recht (bonorum possessor) kann die Herausgabe auf Grund eines interdictum quorum bonorum verlangen.
bb) Erben sind grundsätzlich die Hauserben (sui heredes) nach Stämmen.
Ersatzweise erben die Agnaten nach Köpfen, dagegen seit dem Prinzipat nicht mehr die Gentilen. Nach prätorischem Recht werden in einer vier bzw. sieben Klassen umfassenden neuen Erbfolgeordnung die Blutsverwandten bis zum 6. Grad und stärker und der Ehegatte auch berücksichtigt. Die Senatusconsulta Tertullianum (v. 138 n. Chr.) und Orfitianum (178 n. Chr.) verbessern das Erbrecht zwischen Mutter und Kind. Der erbenlose Nachlass fällt seit Augustus grundsätzlich an das aerarium (Staatskasse, Schatzkammer), später an den Fiskus (Amtsvermögen des Prinzeps bzw. Kaisers).
Die Hauserben erlangen die Erbschaft mit dem Erbfall und sind erst auf Grund der späteren Gestattung durch den Prätor in der Lage, von der Erbschaft etwa wegen der hohen Schulden des Erblassers abzustehen. Die Außenerben müssen die zunächst ruhende Erbschaft („hereditas iacens“) durch förmliche Erklärung (cretio, Entscheidung) oder konkludentes Verhalten (pro herede gestio, sich als Erbe verhalten) annehmen. Die bonorum possessio (Beerbung nach prätorischem Recht) bedarf eines Antrags und der Verleihung durch den Prätor.
cc) Durch ein Testament wird die sog. Intestaterbfolge (ohne Testament begründete Erbfolge, sog. gesetzliche Erbfolge) , auch wenn es nur einen Teil des Vermögens erfasst (nemo pro parte testatus pro parte intestatus decedere potest, niemand kann teils mit, teils ohne Testament sterben), gänzlich ausgeschlossen.
Von den drei älteren Testamentsformen bleibt nur das Libraltestament erhalten. Es wird aus Beweisgründen allmählich schriftlich abgefasst und nur durch eine formelle mündliche Erklärung (nuncupatio) noch vervollständigt. Das prätorische Recht verzichtet dann auf die Manzipation und lässt sieben Zeugen (statt der fünf Zeugen, des Waagehalters und des Erwerbers des Familienguts bei der Manzipation) bzw. ihre Zeichen auf der Urkunde genügen. Noch freier werden Soldatentestamente gestellt.
Lange Zeit unabdingbar für die Wirksamkeit des Testaments ist schon früh die an den Anfang zu stellende Erbeinsetzung (heredis institutio z. B. Titius heres esto, Titius soll Erbe sein). Hilfsweise kann für den Fall des Ablebens des Erben ein Ersatzerbe festgelegt werden (Vulgarsubstitution), wobei der Erblasser sogar, wenn er einen unmündigen Abkömmling als Ersatzerben einsetzt, diesem einen Erben bestimmen kann (Pupillarsubstitution). Das Testament kann widerrufen werden. Seit Augustus ist das Testament zum Schutz der Bedachten besonders zu eröffnen.
Neben einem Testament können Kodizille (codicilli, Brieflein) verfasst werden, die entweder als Bestandteil eines Testaments zählen oder nur Fideikommisse (Treueanvertrauungen) und fideikommissarische Freilassungen enthalten dürfen.
Wenn Hauserben enterbt werden sollen, muss dies ausdrücklich in der betreffenden Verfügung festgestellt werden. Dadurch übergangene Kinder können die bonorum possessio (contra tabulos, Güterbesitz) verlangen, der übergangene Patron eines Freigelassenen sogar die Hälfte der Erbschaft (debita portio, geschuldeter Anteil). Daneben können Kinder, Eltern und Geschwister eines freigeborenen Erblassers ein Testament mit der querela inofficiosi testamenti (Beschwerde des pflichtwidrigen Testaments) vor den Zentumviri, später im Kognitionsverfahren, anfechten, wenn es gegen die sittliche Pflicht verstößt (officium pietatis), dem Berechtigten mindestens ein Viertel des ihm nach natürlicher Erbfolge zustehenden Anteils zu hinterlassen.
Ein Erbvertrag ist wegen der darin enthaltenen sittenwidrigen Bindung des Erblassers unzulässig.
dd) Einzelne Gegenstände (im Gegensatz zur gesamten Erbschaft) können durch Vermächtnis (legatum, Legat) im Testament neben der Erbfolge einem sog. Vermächtnisnehmer zugewendet werden.
Die vier Formen des Vermächtnisses der altrömischen Zeit bleiben erhalten, nähern sich jedoch aneinander an. Gegen die zunehmende Zahl der Vermächtnisse, die im übrigen auch das besondere Interesse der Sachverständigen der Jurisprudenz finden, wendet sich im Interesse jedes Erben die lex Falcidia (40 v. Chr.), die dem Erben wenigstens ein Viertel der Erbschaft (quarta Falcidia, falzidisches Viertel) vor der Verfügung durch Vermächtnisse sichert.
Neben dem Legat ist das Fideikommiss möglich, in dem der Erblasser im Testament, Kodizill oder mündlich die Erfüllung einer Angelegenheit der Treue eines anderen anvertraut. Solche Fideikommisse sind seit Augustus im Kognitionsverfahren klagbar. Sie gewähren dem Bedachten einen Anspruch auf Leistung gegen den Betrauten. Erstreckt sich das Fideikommiss auf die ganze Erbschaft (Erbschaftsfideikommiss, Universalfideikommiss), so wird praktisch eine Art Nacherbschaft des Bedachten nach dem Betrauten erreicht.
Seit der späten Republik wird schließlich auch eine Gabe von Todes wegen zulässig (donatio mortis causa). Sie setzt voraus, dass der Empfänger den Geber überlebt. Der Erwerb kann entweder sofort erfolgen (z. B. bei drohender Todesgefahr) - und dann rückgängig gemacht werden - oder bis zum Tod des Gebers aufgeschoben sein.
d) Sachen
aa) Bei den Sachen werden allmählich bestimmte allgemeine Vorstellungen herausgearbeitet.
Sache (res) ist der einzelne, abgegrenzte, rechtlich selbständige körperliche Gegenstand (bei Gaius aber auch der unkörperliche Gegenstand wie die Obligation [Verbindlichkeit, Schuld] oder die Gesamtheit wie die Erbschaft). Bestimmte Sachen stehen außerhalb der privaten Zuständigkeit (res extra patrimonium bzw. später res extra commercium wie z. B. Tempel, Gräber, Stadtmauern, Meer, Luft, Straßen, Flüsse). Bei den anderen Sachen verliert die altrömische Unterscheidung nach der Handgreifbarkeit (res mancipi, res nec mancipi) an Bedeutung. Gewisse Sachen werden (nach späterer Ansicht schon im klassischen römischen Recht) im Verkehr regelmäßig nach Maß, Zahl und Gewicht bestimmt (»vertretbare Sachen« wie Getreide, Öl oder Ziegelsteine), bei anderen besteht der Gebrauch regelmäßig im Verbrauch (»verbrauchbare Sachen« wie Geld, Lebensmittel oder Kleider). Zubehör (instrumentum) ist die bewegliche Sache, die einer Hauptsache zu dienen bestimmt ist, Frucht (fructus) der aus der Bewirtschaftung einer Sache gewonnene Ertrag (z. B. Tierjunges), dessen Verselbständigung erst mit der Abtrennung von der Muttersache erfolgt.
bb) An Sachen wird allmählich der Besitz (possessio) als tatsächliche, vom Recht geschützte Gewalt ausgebildet.
Dabei nimmt der Besitz nach zivilem Recht seinen Ausgang von derjenigen tatsächlichen Herrschaft über eine Sache, die beim Herausgabeverfahren (Vindikation) auf Seiten des auf Herausgabe angesprochenen Gegners vorausgesetzt wird. Sie kann sich auf einen Erwerbsgrund wie z. B. Kauf, Mitgift oder Vermächtnis stützen. Der von der Herrschaft des Einzelnen am Gemeinland (ager publicus) hergeleitete Besitz nach prätorischem Recht wird durch Interdikte (interdictum uti possidetis, Interdikt dass ihr besitzt) geschützt. Interdiktenbesitzer sind etwa der Gewalthaber am Gemeinland oder an einem Pfand, nicht dagegen der bloße Innehaber (detentor) wie Mieter, Pächter, Verwahrer oder Werkunternehmer.
Erworben wird der Besitz nach klassischer Ansicht durch tatsächliche Gewaltergreifung (corpore) und natürlichen Beherrschungswillen (animo), wobei für ein Grundstück etwa erforderlich ist, dass es der bisherige Besitzer räumt und der neue Besitzer zum Zweck der Bemächtigung betritt. Wer die tatsächliche Herrschaft schon hat, braucht nur noch den Beherrschungswillen (z. B. der bisherige Mieter). Verloren geht der Besitz durch Aufgabe der Sachherrschaft (corpus) oder des Beherrschungswillens (animus).
Die dem Schutz dienenden, der öffentlichen Sphäre entstammenden Interdikte verbieten dem, der den Besitz vi, clam, precario (durch Gewalt, heimlich, durch Bittleihe) erlangt hat, jede weitere Gewalt, und zwar auch gegen die tatsächliche Zurücknahme. Geschützt wird bei mehreren Beteiligten der jeweils bessere Besitz eines Beteiligten.
cc) Mit dem Besitz (einerseits) entsteht aus dem undifferenzierten älteren meum esse (mein sein) (andererseits) auch das Eigentum als engere und bestimmtere Vorstellung. Es wird in der späten Republik als dominium (zu domus, Haus, dominus, Herr) und proprietas zu proprius ¬ propatrios, vorväterlich) bezeichnet. Dabei fallen ziviles Recht und prätorisches Recht auseinander.
Das zivile dominium ex iure Quiritium (Eigentum nach Bürgerrecht, quiritisches Eigentum) kann nur von römischen Bürgern und nur in zivilen Rechtsformen (vor allem durch Manzipation) erworben werden. Prätorisches Eigentum d. h. prätorischen Schutz gegen Dritte erlangt jemand dagegen schon, wenn er handgreifbare Sachen (res mancipi) ohne Formalakt erhält und in bonis (im Vermögen) hat (bonitarisches Eigentum). Bonitarisches Eigentum kann durch Ersitzung zu zivilem Eigentum werden.
Inhaltlich ist die Stellung Eigentum nicht eine Berechtigung an einer Sache schlechthin, sondern nur die relativ beste, grundsätzlich gegen jedermann geschützte und jeden Umgang gestattende Herrschaft. Anfangs bestehende soziale und sittliche Schranken werden allmählich zugunsten eines stärkeren Individualismus abgebaut, wobei aber gewisse Beschränkungen aus dem Nachbarrecht erhalten bleiben. Enteignung durch Senatsbeschluss ist möglich.
Mehreren steht das Eigentum zu je einem rechnerischen Bruchteil (pars pro indiviso) zu (Miteigentum), über den jeder frei verfügen kann.
Erworben wird das Eigentum (abgeleitet bzw. derivativ unter Beendigung eines Rechtes gleichen Inhalts des Vorgängers), (nachdem mancipatio [Handergreifung]und in iure cessio [Übergang in der Entscheidungsstätte] allmählich verschwinden,) vor allem durch traditio (Übergabe) zur Erfüllung eines anerkannten Zuwendungszwecks (iusta causa, aus rechtmäßigem Grund wie z. B. Kauf, Mitgift, nicht aber etwa Miete, Leihe, Verwahrung, bei denen nur rein tatsächlich übergeben und danach bloß innegehabt wird [detentio]).
Diese traditio verschafft anfangs an res mancipi (handhabbaren Sachen) nur bonitarisches Eigentum und nur an res nec mancipi (nicht handhabbaren Sachen) ziviles Eigentum. Beim Kauf wird dabei außer traditio (Übergabe) und iusta causa (gerechtem Grund) verlangt, dass der Kaufpreis bezahlt oder stundungsweise mit Stipulation versprochen ist.
Eigentum wird weiter erworben durch zivile Ersitzung (usucapio), von der später Sachen des fiscus (Amtsvermögen des Kaisers) ausgenommen werden. Die zivile Ersitzung erfordert Eigenbesitz, gültigen Erwerbsgrund (iusta causa), Zeitablauf und guten Glauben (bona fides) des Erwerbers bezüglich bestimmter Tatsachen. Daneben wird im Jahr 199 n. Chr. aus provinzieller Praxis heraus auch die longi temporis praescriptio (Vorschrift [d.h. Einrede] langer Zeit) anerkannt, bei der ungestörter Besitz nach rechtmäßigem Beginn (iustum initium) während 10 bzw. 20 Jahren eine eigentumsähnliche Stellung verschafft.
Schließlich wird Eigentum (ursprünglich bzw. originär) erlangt durch Aneignung (occupatio) herrenloser derelinquierter Sachen (ein Schatz, thesaurus, fällt nach Kaiser Hadrian je zur Hälfte an den Finder und an den Grundeigentümer) und Abtrennng von Früchten (z. B. Apfel am Apfelbaum). Bei Verbindung einer beweglichen Sache (z. B. Baustoff, Pflanze) mit einem Grundstück wird der Eigentümer des Grundstücks Berechtigter der ganzen Sache, sonst entscheidet bei Verbindungen die Wesentlichkeit des Beitrages. Bei untrennbarer Vermengung (confusio) von Stoffen (z. B. Getreide, Öl) entsteht Miteigentum, bei Geld Alleineigentum des Besitzers. Über die Rechtsfolgen der Verarbeitung herrscht Streit.
Der Schutz des quiritischen (zivilen) Eigentums erfolgt hauptsächlich durch die rei vindicatio (Herausverlangen der Sache), bei welcher der nichtbesitzende Eigentümer dem besitzenden Nichteigentümer gegenübersteht.
Im Formularverfahren lautet die entsprechende Formel: si paret ... fundum, quo de agitur, ex iure Quiritium A(ul)i A(geri)i esse neque is fundus A(ul)o A(geri)o restituetur (Restitutionsklausel, welche die Herausgabe ermöglicht), quanti ea res erit, tantam pecuniam N(umeriu)m N(egidiu)m A(ul)o A(geri)o condemnato, si non paret, absolvito (wenn es sich ergibt, dass das Grundstück ... nach quiritischem Recht A. A. gehört und dem A. A. nicht erstattet wird, werde N. N. verurteilt .,. wenn nicht, werde er freigesprochen).
Daneben kann der quiritische Eigentümer mit der actio negatoria (verneinender Klaganspruch) Störungen (z. B. Immissionen wie Rauch usw.) abwehren.
Der bonitarische Eigentümer wird durch die in der späteren Republik durch den Prätor Publicius geschaffene actio Publiciana, die dem besser berechtigten Besitzer unter der Fiktion des Eigentumserwerbs des bonitarischen Eigentümers die Herausgabe sichert, und durch die Einrede der gekauften und erhaltenen Sache (exceptio rei venditae et traditae) geschützt.
dd) Bei den beschränkten dinglichen Nutzungsrechten werden zunächst die Grunddienstbarkeiten (servitutes) über die ältesten vier Fälle hinaus erweitert. Weitere beschränkte Rechte werden ususfructus (Fruchtgebrauch, Nießbrauch, seit dem 3. Jh. v. Chr.) und usus (Gebrauch), die ursprünglich höchstpersönliche Nutzungsrechte zur Versorgung abgeschichteter Familienmitglieder sind. Erbpacht ist ein entgeltliches erbliches Nutzungsrecht an Gemeinland, Erbbaurecht (superficies) das erbliche, entgeltliche Gebäudeerrichtungsrecht an städtischem Boden.
ee) Bei den Sicherungsrechten ist zunächst eine Verschaffung des Eigentums unter der Treuabrede (fiducia) möglich, dass die Sache nach Erreichung des Sicherungszwecks zurückzuübereignen sei (Sicherungsübereignung). Weiter kann der Eigentümer durch formlose Vereinbarung zur Sicherung einer Forderung dem Gläubiger ein Pfand bestellen, wobei seit der späteren Republik von der Pacht ausgehend der Besitz beim Schuldner verbleibt und das Pfandrecht vom Bestand der Forderung abhängig wird (Akzessorietät). Daneben entstehen im Prinzipat Pfandrechte kraft Rechtssatzes und öffentlicher Einzelanordnung.
Inhaltlich gewährt das Pfandrecht Sicherung - wobei ursprünglich dem Gläubiger vielleicht die rei vindicatio, seit der späteren Republik die prätorische actio Serviana gegen jeden Besitzer zusteht - und bei Fälligkeit der Forderung die Möglichkeit der Befriedigung. Bei der Verwertung wird aus dem (älteren) Verfall der Pfandsache jetzt zu Gunsten des Pfandschuldners der Verkauf der Pfandsache. Schwächen des Pfandrechts sind vor allem die mangelnde Offenkundigkeit des besitzlosen Pfandes, die Möglichkeit der Verpfändung des ganzen Vermögens (Generalhypothek) und bestimmte Rangprivilegien, die entgegen dem allgemeinen Prioritätsgrundsatz, der dem zeitlich ersten Pfand die erste Rangstelle bei der Verwertung einräumt (wer zuerst kommt, mahlt zuerst), gewisse später entstehende Pfandrechte nachträglich älteren vorgehen lassen.
e) Schulden
Im Bereich der Verbindlichkeiten (obligationes) führen die wirtschaftlichen Wandlungen zu den stärksten Veränderungen Die großstädtischen Verhältnisse Roms bewirken die Schaffung und Verfeinerung zahlreicher Rechtseinrichtungen. Dabei erbringen die Sachverständigen der Jurisprudenz ihre besten Leistungen.
aa) Allgemeines
Obligation ist allmählich immer weniger hauptsächlich Bildung eines Haftungsverhältnisses (Verhaftung) und immer mehr vor allem Verpflichtung eines Schuldners zu einer Leistung an einen Gläubiger.
Aus einer natürlichen Verbindlichkeit (naturalis obligatio z. B. aus Geschäften Gewaltunterworfener, Gegensatz civilis obligatio, zivile Verbindlichkeit) kann überhaupt nicht vollstreckt werden. Die Haftung ist im übrigen aber grundsätzlich unbeschränkt.
Der Kreis der Verbindlichkeiten ist, weil jede von ihnen an eine bestimmte actio (Klaganspruch) gebunden ist, trotz stetiger Fortbildung geschlossen (Typengebundenheit). Ihre Gesamtheit lässt sich aber in mehrere Arten unterteilen. Dabei werdendie Verbindlichkeiten zunächst danach unterschieden, welchen Spielraum sie im Streitfall dem Richter (iudex) lassen.
Sehr streng (stricti iuris) ist hier beispielsweise die Stipulation oder das Darlehen. Sehr frei steht der Richter (iudex) dagegen, wenn er verurteilen kann zu allem, was sich nach guter Treue gehört (in quidquid ... oportet ex fide bona). Dies lässt der Prätor bereits seit dem 3. Jh. v. Chr. zu.
Solche mit sog. bonae-fidei-iudicium ausgestattete Obligationen bestehen vor allem für Kauf, Mietvertrag, Dienstvertrag und Werkvertrag, Auftrag, Verwahrung, Gesellschaft, Vormundschaft, Treuhandschaft und Mitgiftrückgabe. Darüber hinaus wird später die bona fides (gute Treue) von einer Verpflichtungsgrundlage zu einem Maßstab der Obligation überhaupt, wobei jedes auf Arglist (dolus malus), Zwang (vis) und Drohung (metus) beruhende Verhalten ohne weiteres die gute Treue (bona fides) verletzt. Anders als bei den übrigen Obligationen gilt die Einrede der Arglist (exceptio doli) bei den bonae-fidei-iudicia auch ohne besondere Aufnahme in die Formel des Klaganspruchs.
Eine weitere Unterscheidung ergibt sich aus dem Inhalt der Leistung, der allgemein als geben, tun, einstehen (dare, facere, praestare) umschrieben wird und jedes mögliche, erlaubte, bestimmbare und geldwerte (Geldkondemnation) Verhalten erfasst. Je nach Art der actio kann der Richter (iudex) zu einer bestimmten Leistung (certa pecunia oder sonstiges certum), zur Herstellung eines Zustandes (restituere), zu einer inhaltlich erst näher zu ermittelnden Leistung (quanti ea res erit, was die Sache wert ist oder quanti interest, was es ihm wert ist) oder zu einer ganz frei zu bestimmenden Leistung (formula incerta) verurteilen.
Schließlich werden die Obligationen etwa durch Gaius noch eingeteilt in Obligationen aus Delikt (Unrechtserfolg) und Obligationen aus Kontrakt (Vertrag, Rechtsgeschäft). Die Verbindlichkeiten aus Vertrag bzw. Rechtsgeschäft zerfallen nach der Art ihrer Entstehung vor allem in Realkontraktsobligationen, Verbalkontraktsobligationen, Litteralkontraktsobligationen, und Konsensualkontraktsobligationen. Dabei kann aus Rechtsgeschäft eine Obligation nur einer Seite bestehen oder es können sich zwei unvollkommen zweiseitige Verbindlichkeiten oder zwei vollkommen zweiseitige Verbindlichkeiten gegenübertreten.
Für die Entstehung der Obligation ist eine schriftliche Form grundsätzlich nicht erforderlich (anders Litteralkontrakt), aus Beweisgründen aber ratsam.
Die Urkunde (instrumentum) kann dabei entweder als Zeugenurkunde (testatio) auf Wachsdoppeltäfelchen in objektiver d. h. dritter Person gehaltener Fassung errichtet werden oder seit der späten Republik nach griechischem Vorbild als zeugenloses, eigenhändiges, subjektiv gefasstes Handschreiben (chirographum). Später erscheinen auch bereits Anfänge gewerbsmäßiger Ausstellung von Urkunden und öffentlicher Beurkundung von Rechtsgeschäften.
Bei der Begründung der Obligation wird seit der späten Republik unter dem Einfluss von Rhetorik und Philosophie der individuelle Wille stärker beachtet. Vor allem bei den Konsensualkontrakten verhindert dann ein Irrtum (error) das Zustandekommen des Geschäfts ebenso wie zwei Scheinerklärungen. Gegenüber dem durch Zwang (vis) abgeschlossenen Geschäft gibt der Prätor (um 71 v. Chr. formula Octaviana) und später das unter Kaiser Hadrian entstandene Edikt Rechtsbehelfe wie etwa die Wiederherstellung in den früheren Zustand (restitutio in integrum). Bei Arglist (dolus malus) verheißt der Prätor Gaius Aquilius Gallus die actio de dolo (Arglistklaganspruch, M. 1. Jh. v. Chr.) auf Schadenersatz sowie eine exceptio doli (Arglisteinrede) gegenüber einem Klaganspruch. Darüber hinaus kann ein Geschäft aus zahlreichen anderen Gründen unwirksam sein (z. B. Verstoß gegen Gesetz oder gegen die guten Sitten, boni mores).
Eine Begründung einer Obligation durch eine andere Person (Vertreter, Stellvertreter) ist aus vielleicht magischen Gründen nicht möglich (vgl. für die Stipulation den Rechtssatz alteri stipulari nemo potest, für einen anderen kann niemand versprechen).
Das durch die wirtschaftliche Entfaltung erwachsende Bedürfnis, unmittelbare Rechtswirkungen aus Handlungen Dritter entstehen zu lassen, wird im Wesentlichen dadurch befriedigt, dass man Gewaltunterworfene (Hauskinder, Sklaven) für den Hausvater Rechte und seit dem 2. Jh. den procurator (Verwalter) und tutor (Vormund) für den Geschäftsherrn Besitz und Eigentum erwerben lässt sowie bei Verpflichtungen der Gewalthaber (neben der actio gegen den Handelnden) eine zusätzliche (adjektizische) actio (Klaganspruch) gewährt. Außerdem können formfreie Verfügungen (z. B. traditio, Übergabe), die ein Dritter ohne Berechtigung vorgenommen hat, durch Zustimmung des Berechtigten für diesen wirksam werden.
Das Erlöschen der Obligation geschieht anfangs durch die ursprünglichen Haftungslösungsakte (solutio per aes et libram, Lösung durch Erz und Waage bei Libralgeschäften, acceptilatio bei der stipulatio) sowie formlose Leistung bei Delikten. Seit dem 3. Jh. v. Chr. werden die Formalakte für den Regelfall der Leistung als überflüssig angesehen und nur noch beim Erlöschen ohne Leistung (Erlass) gefordert. Gleichwohl behält die Erfüllung der Obligation den Namen solutio (Lösung). Sie kann durch einen Dritten und ausnahmsweise auch an einen Dritten erfolgen.
Wird nicht die geschuldete Leistung erbracht, so tritt durch den Erfüllungsversuch mit einer anderen Leistung nur dann Tilgung (Erlöschen der Obligation) ein, wenn der Gläubiger einverstanden ist. Hinterlegung (depositio) führt nur Erleichterungen für den Schuldner, nicht Befreiung herbei. Dagegen bewirken der allmählich auch als formfreie Abrede mögliche Erlass (pactum de non petendo in perpetuum, Vereinbarung, dauernd nicht zu verlangen), der Aufhebungsvertrag und die Vereinigung von Gläubigerstellung und Schuldnerstellung in einer Person (Konfusion) das Erlöschen. Verrechnung (compensatio, Aufrechnung) mit einer Gegenverbindlichkeit ist grundsätzlich nur im Verfahren oder bei Einverständnis wirksam. Bei der Schulderneuerung (novatio, Novation) erlischt infolge einer Stipulation die alte Obligation mit allen Nebenrechten und wird durch eine neue ersetzt (z. B. Auswechslung des Gläubigers oder Schuldners, eine Sonderform ist die stipulatio Aquiliana).
Die Übertragung oder Übernahme einer Obligation auf einen neuen Gläubiger oder durch einen neuen Schuldner ist ohne Veränderung grundsätzlich ausgeschlossen. Hilfsweise bedient man sich hierzu vor allem der Verfahrensvertretung durch einen cognitor oder procurator. Seit Kaiser Antoninus Pius erhält der Erwerber einer Obligation ausgehend vom Erbschaftskauf die actio des Gläubigers als actio utilis.
Mehrere Beteiligte können sowohl auf der Seite des Gläubigers als auch auf der Seite des Schuldners vorhanden sein. Dabei kann die Obligation in unabhängige Teile geteilt sein (z. B. Delikt) oder es kann jeder von mehreren Gläubigern die ganze Leistung (insgesamt einmal) vom Schuldner verlangen (Gesamtforderung, Korrealforderung, Solidarforderung) bzw. ein Gläubiger von jedem von mehreren Schuldnern die ganze Leistung (insgesamt einmal) begehren (Gesamtschuld, Korrealschuld, Solidarschuld). Im Innenverhältnis ist bei den Gesamtobligationen bei Leistung an einen von mehreren Berechtigten oder durch einen von mehreren Verpflichteten dann noch ein Ausgleich der Leistung zu Gunsten der übrigen Gläubiger bzw. seitens der anderen Schuldner erforderlich.
Neben dem Schuldner kann ein Bürge stehen.
Dabei werden drei Formen der Bürgschaft unterschieden (sponsio, fidepromissio, fideiussio). Die sponsio ist nur unter römischen Bürgern und neben einer Stipulation möglich. Die fidepromissio ist ihre Nachbildung für Nichtbürger. Die fideiussio der späten Republik ist für jede Obligation zulässig. In allen Fällen verpflichtet sich der Bürge zum Zweck der Sicherung des Gläubigers zu der Leistung, die an sich der Schuldner zu erbringen hat. Leistet der Bürge, so kann er nur nach besonderen Regeln vom Schuldner Ausgleich verlangen. Frauen ist die Bürgschaft durch das Senatusconsultum Vellaeanum (vellaeanischer Senatsratschlag, 46 n. Chr.), das ihnen verbietet, im Interesse Dritter Verbindlichkeiten einzugehen (intercedere, Interzessionsverbot), verschlossen.
Die verschiedenen Fälle der nicht ordnungsgemäßen Leistung (Leistungsstörungen) ziehen recht unterschiedliche Folgen nach sich.
Hat der Schuldner Sachen des Gläubigers herauszugeben, so muss er für alle Schäden einstehen, die sich typischerweise aus unzureichender Bewachung (custodia) ergeben wie z. B. aus einem Diebstahl.
Bei den bonae-fidei-iudicia ist ganz unterschiedlich entweder nur für dolus (Absicht, Vorsatz, Willen) oder - zunehmend auch - für culpa (Schuld, Nachlässigkeit) oder für custodia (typischerweise zureichende Bewachung) einzutreten, während der Zufall (casus) grundsätzlich dem zur Last fällt, dem die Sache oder Leistung gebührt.
Bei den strengrechtlichen Klageansprüchen auf nur der Gattung nach bestimmten Sachen (z. B. Geld) bleibt die Leistung möglich und kann Verzugsschaden nicht geltendgemacht werden. Bei nach besonderen Einzelmerkmalen bestimmter Sache wird, wenn es am Schuldner gelegen hat, dass die Sache untergegangen ist oder der Untergang während des Verzugs (mora) erfolgt, so verfahren, als bestände die Obligation noch (perpetuatio obligationis, Fortdauer der Obligation), so dass der Schuldner in den Sachwert verurteilt wird. Bei der formula incerta (unbestimmter Klaganspruch) hat der Schuldner für nicht ordnungsgemäße Erfüllung Schadensersatz zu leisten.
Mit dem Eintritt der Rechtshängigkeit (durch Litiskontestation) verschlechtert sich die Stellung des Schuldners.
Nimmt umgekehrt der Gläubiger die einwandfreie Leistung nicht an, so gerät er in Gläubigerverzug oder Annahmeverzug (mora creditoris, mora accipiendi). Dadurch verbessert sich die Lage des Schuldners. Die Schuld erlischt aber nicht.
bb) Kontraktsobligationen
Die Obligationen aus Kontrakt zerfallen in verschiedene Gruppen. Davon lassen die (jetzt klagbaren) Realkontrakte (Darlehen, Leihe, Verwahrung, Pfand) die Obligation (nur) durch die Hingabe einer Sache (res) entstehen.
Beim Darlehen (mutuum) werden Geldstücke oder andere vertretbare Sachen in das Eigentum des Empfängers gegeben unter der Abrede der Rückgewährung (anderer) entsprechender Sachen (der gleichen Art). Zinsen müssen außer bei dem aus dem griechischen Recht kommenden Seedarlehen (fenus nauticum) besonders vereinbart werden. Ein Senatusconsultum Macedonianum (macedonianischer Senatsratschlag, 1. Jh. n. Chr.) verbietet zum Schutz der Hausväter Gelddarlehen an Haussöhne.
Bei der vermutlich in der jüngeren Republik anerkannten Leihe (commodatum) wird eine Sache gegeben unter der Abrede der Rückgabe eben dieser selben Sache nach unentgeltlichem Gebrauch. Der Entleiher ist nur Innehaber (detentor) und hat (nur) für custodia (typischerweise zureichende Bewachung) einzustehen.
Bei der seit der späten Republik endgültig als Realkontrakt angesehenen Verwahrung (depositum) erfolgt die Hingabe einer beweglichen Sache unter der Abrede der unentgeltlichen Aufbewahrung und späteren Rückgabe. Der Verwahrer ist nur Innehaber (detentor). Die sog. unregelmäßige Verwahrung (depositum irregulare), die dem Verwahrer Eigentum an dem hinterlegten Geld verschafft, erkennen allerdings erst die Spätklassiker als Fall der Verwahrung an.
Beim Pfand (pignus) wird die Sache hingegeben unter der Abrede, dass der Pfandgläubiger sie als Pfand besitzen und je nach dem Verhalten der Gegenseite verwerten oder zurückgeben soll.
Die Verbalkontrakte erfordern für die Entstehung der Obligation bestimmte Worte. Ihr wichtigster Fall ist die Stipulation (stipulatio). Sie ist ein mündliches formgebundenes, einseitig verpflichtendes Versprechen. Es kann auf jeden möglichen Leistungsinhalt gerichtet sein (z. B. Zinsabrede, Vertragsstrafe, Schuldabänderung).
In der jüngeren Republik wird ihr strenger Frage-und-Antwort-Formalismus etwas gelockert. Wird dabei der Zweck des Versprechens (causa) genannt, so wird, wenn er in Wirklichkeit fehlt, auch aus der Stipulation nichts geschuldet. Wird der Zweck nicht erwähnt, kann die Inanspruchnahme aus der Stipulation, die nun bei einer unbestimmten Leistung durch actio ex stipulatu, bei einer bestimmten Leistung durch condictio erfolgt, nur mit einer Arglisteinrede (exceptio doli) abgewehrt werden.
Andere Verbalkontrakte sind Mitgiftzusage (dotis dictio) und Dienstversprechen (promissio operarum).
Beim Litteralkontrakt entsteht die Obligation durch einen Schriftakt (transscriptio).
Dies ist der Fall bei der nur relativ kurze Zeit geübten Buchung des Gläubigers in seinem Hausbuch, bei der im Einverständnis mit dem Schuldner dadurch eine bestehende Verbindlichkeit in eine neue umgewandelt wird, dass so getan wird, als hätte der Gläubiger bei der Buchung eine entsprechende Summe an den Schuldner gezahlt.
Beim Konsensualkontrakt entsteht die Obligation durch Willensübereinstimmung (consensus, Konsens). Dies geschieht bei Kauf, Mietvertrag, Dienstvertrag und Werkvertrag, Gesellschaft und Auftrag.
Der Kauf (emptio venditio) ist nach der Überwindung des reinen Baraustausches spätestens seit dem 2. Jh. v. Chr. ein auf Treue (fides) gegründetes, vollkommen zweiseitig (Käufer und Verkäufer) verpflichtendes Geschäft (Verpflichtungsgeschäft), zu dem die Manzipation bei handgreifbaren Sachen in das Verhältnis eines besonderen Vollzugsgeschäfts (Erfüllungsgeschäft) tritt. Es entsteht durch den Konsens (d. h. die Willensübereinstimmung) der Beteiligten. Der Verkäufer schuldet in erster Linie dauerhaften ungestörten Besitz (uti frui habere possidereque licere gebrauchen, nützen, haben, besitzen dürfen), der Käufer Verschaffung des Eigentums am Geld, wobei er in der Regel auch zahlen muss, wenn die Kaufsache nach Vertragsschluss durch Zufall untergeht (periculum est emptoris, die Gefahr trägt der Käufer).
Der Verkäufer muss dafür einstehen, dass die Sache nicht von Dritten auf Grund eines Rechtes herausverlangt werden kann (Eviktion, Entwerung, Rechtsmängelgewährleistung). Andernfalls muss er bei Vornahme einer Manzipation ohne weiteres, im Übrigen nur auf Grund eines allgemein üblich werdenden Versprechens (stipulatio duplae) den doppelten Kaufpreis (duplum) ersetzen. Bei Verkauf von Forderungen hat der Verkäufer im allgemeinen nur für deren Bestand, nicht auch für ihre Güte (Verwertbarkeit) einzustehen.
Bei Fehlern der Sache (Sachmängeln) kann seit der späten Republik der Käufer Schadensersatz verlangen, wenn der Verkäufer einen ihm bekannten Mangel arglistig verschwiegen oder eine bestimmte Eigenschaft oder Fehlerfreiheit besonders zugesichert hat. Daneben verheißen die kurulischen Ädile als Marktaufseher beim Kauf von Sklaven und später auch Zugtieren dem Käufer bei gewissen Mängeln innerhalb kurzer Fristen nach seiner Wahl entweder die Rückgewährung des ganzen Kaufpreises gegen Rückgabe der Kaufsache (actio redhibitoria Wandlungsklaganspruch) oder die Rückgewährung des Kaufpreises in Höhe der durch den Mangel begründeten Wertverringerung der Sache bei deren Behalten im übrigen (actio quanti minoris, Minderungsklaganspruch).
Daneben können sich die Kaufvertragsparteien durch Zusatzabreden (pacta adiecta z. B. Rücktrittsvorbehalt) besonders sichern.
Der weitere Konsensualkontrakt locatio conductio (Hinstellung - Mitführung), dessen Vorgeschichte unklar ist, fasst verschiedene Verhältnisse zusammen (Mietvertrag, Dienstvertrag, Werkvertrag), in denen dem Mieter, Dienstnehmer und Werkhersteller nur detentio (Innehabung) von Sachen (also nicht Besitz) gewährt wird.
Bei der locatio conductio rei (Miete, Pacht) erhält der conductor (Mitführer, Mieter) Gebrauch und Nutzung, der locator (Hinsteller, Vermieter) einen festen Geldzins oder Ertragsanteil. Die locatio conductio operarum (Dienstvertrag) hat, weil Dienste der Sklaven auf Grund des Sklavenstatus erbracht werden und höhere Dienste (artes liberales) nicht durch Entgelt entlohnt, sondern durch Ehrengabe (honorarium, Honorar) anerkannt werden, nur einen geringen Anwendungsbereich. Bei der locatio conductio operis (Werkvertrag) verwirklicht der conductor (Werkunternehmer) an einer Sache des locator (Besteller) gegen Entgelt (merces, pretium) einen Erfolg (z. B. Herstellung, Beförderung, Ausbesserung). Dabei setzt sich für den besonderen Fall des Seetransports die lex Rhodia de iactu (rhodisches Gesetz über den Seewurf) durch, nach welcher der Frachtführer, der zur Rettung aus Seenot Güter des Befrachters über Bord wirft, den Schaden anteilig tragen muss (Gefahrengemeinschaft).
Der dritte Konsensualkontrakt Gesellschaft (societas) ist dem consortium der Erbengemeinschaft nachgebildet.
Rechte und Pflichten entstehen nur unter den Gesellschaftern (socii), während Handlungen durch den einzelnen Gesellschafter gegenüber Fremden und durch Fremde gegenüber dem einzelnen Gesellschafter nur für und gegen den betreffenden Gesellschafter selbst wirken. Eventuelles Gesellschaftsvermögen wird nach den Regeln der Gemeinschaft (communio) und des Miteigentums behandelt. Die Gesellschaft endet durch Erklärung, Tod und Freiheitsverlust eines Gesellschafters. Danach kann jeder Beteiligte gegen jeden anderen mit der actio pro socio (Klaganspruch für den Genossen) Ausgleich der gegenseitigen Forderungen und Verbindlichkeiten erreichen.
Konsensualkontrakt ist schließlich auch noch der praktisch bedeutsame Auftrag (mandatum). Er kann eine Tätigkeit jeder Art betreffen, sofern sie nur - wie unter Freunden, von welchen der Auftrag seinen Ausgang nimmt, üblich - unentgeltlich verrichtet wird.
Neben diesen Kontraktobligationen lässt der Prätor in Einzelfällen, in denen ein Teil eine Leistung erbracht hat, die Einordnung unter einen Kontrakt aber Schwierigkeiten bereitet, eine ergänzende actio (Klaganspruch) in factum zu. Weiter gewährt er eine actio (Klaganspruch) bei Leistungszusage (constitutum) und Garantieübernahme (receptum z. B. receptum argentarii, Zusage eines Bankiers, für die Zahlung der Schuld eines Kunden zu sorgen, receptum nautarum cauponum stabulariorum [Zwangs-]Zusage der Schiffer, Schankwirte und Stallwirte für die Unversehrtheit eingebrachter Sache).
Als kontraktähnliche (quasi ex contractu) Verhältnisse, die Obligationen begründen, werden Geschäftsführung ohne Auftrag, Gemeinschaft und nichtgeschuldete Leistung behandelt.
Die Geschäftsführung ohne Auftrag (negotium gestum) ist vielleicht aus der Verfahrensführung eines procurator (Verwalter) und der Geschäftsführung eines curator (Pfleger) entstanden und begründet für den Geschäftsherrn einen Herausgabeanspruch und möglicherweise einen Schadensersatzanspruch gegen den Geschäftsführer und umgekehrt eventuell (unvollkommen zweiseitig verpflichtender Kontrakt) einen Aufwendungserstattungsanspruch des Geschäftsführers gegen den Geschäftsherrn.
Die Gemeinschaft (communio) verdrängt das ältere consortium und gilt für Miterben, gemeinsamen Erwerb und Fälle der Sachvermischung. Jeder Gemeinschafter ist zu einem rechnerischen Bruchteil berechtigt, über den er selbständig verfügen kann. Er kann jederzeit Teilung verlangen (actio communi dividundo, Gemeinschaftsteilungsklaganspruch).
Ist eine nichtgeschuldete Leistung erbracht (indebitum solutum, z. B. bei Irrtum), so kann sie wohl wegen der Ähnlichkeit mit dem Darlehen mit der besonderen Begehrensform der Kondiktion (condictio) zurückverlangt werden. Über die Nichtschuld hinaus gilt dies auch für Fälle nicht eingetretener Erwartung oder sittenwidrigen Leistungszwecks. Herauszugeben ist grundsätzlich das erlangte certum (bestimmter Gegenstand), vielleicht später auch ein incertum (unbestimmter Gegenstand).
Kein besonderer Obligationstyp ist zunächst die donatio (Gabe, Schenkung), die nur einen Rechtfertigungsgrund für einen Zuwendungsvorgang (z. B. Verschaffung von Eigentum, Befreiung von einer Forderung) abgibt.
Andererseits werden als notwendige Folge des wirtschaftlichen Aufschwunges vom Prätor Aktionen auch ohne eigentliche Begründung einer Obligation gewährt. Mit der actio de peculio (Klaganspruch betreffend Sondergut) kann gegen den Gewalthaber aus Geschäften eines Gewaltunterworfenen mit einem peculium (Sondergut) bis zu der Höhe des Wertes dieses Sondergutes vorgegangen werden. Die actio de in rem verso (Klaganspruch auf das in eine Sache Verwandte) richtet sich auf das, was der Gewaltunterworfene aus einem seiner Verpflichtungsgeschäfte erlangt und auf das Vermögen des Gewalthabers verwandt hat. Mit der actio exercitoria (Reederklaganspruch) kann aus Geschäftsschulden des Kapitäns gegen den Reeder (exercitor) und mit der actio institoria (Angestelltenklaganspruch) aus Geschäften des Angestellten (institor) gegen den Unternehmer vorgegangen werden, wobei es auf die Hausgewalt des Unternehmers über den Angestellten nicht mehr ankommt.
cc) Deliktsobligationen
Trotz des Vordringens der öffentlichen Verfolgung und der (öffentlichen) Strafe bei Unrechtserfolgen bleiben die mit privaten Rechtsfolgen verbundenen Unrechtstatbestände (delictum, Delikt) grundsätzlich bestehen. Auch hier spricht man allmählich ausdrücklich von Obligation. Der Bußgeldausgleich geschieht als Folge des fortgesetzten Währungsverfalls nunmehr statt in festen Beträgen meist nach Maßgabe des Sachwertes oder einer Schätzung. Die actio bleibt gegen die Erben des Täters nur erhalten, wenn sie bei seinem Tod rechtshängig ist (passive Unvererblichkeit). Gegen mehrere Beteiligte wird sie gehäuft (mehrfach) geltendgemacht (kumulative Klagenkonkurrenz).
Im einzelnen wird die iniuria der 12 Tafeln zu einem Tatbestand erweitert, der jede bewusste Missachtung der Persönlichkeit in Wort (Verbalinjurie) oder Tat (Realinjurie z. B. Körperverletzung) eines anderen erfasst. Rechtsfolge ist ein durch Schätzung (actio iniuriarum aestimatoria) zu bestimmender Geldausgleich, der auch aktiv (d. h. beim Opfer) grundsätzlich unvererblich ist.
Das furtum (Diebstahl) weitet sich zunächst aus in Richtung auf eine allgemeine bewusste Schädigung fremder Sachgüter, wird dann aber auf die vorsätzliche Zueignung einer fremden beweglichen Sache durch Wegnahme, Gebenlassen oder Behaltenlassen beschränkt.
Von den Sonderformen geht die Haussuchung lance et licio in der einfachen Haussuchung auf und wird das Tötungsrecht des handfesten Diebes (fur manifestus) durch das Vierfache (quadruplum) ersetzt, während andererseits qualifizierte Formen und später auch einfacher Diebstahl zunehmend öffentlich verfolgt und mit Strafe geahndet werden. Der Geschädigte kann außerdem die rei vindicatio (Herausgabeverlangen) und die condictio ex furtiva causa (Kondiktion aus Diebstahl) auf den Sachwert geltendmachen.
Für die Beschädigung von Vermögensgütern bringt die lex Aquilia de damno (aquilisches Gesetz über den Schaden 286 v. Chr.) schon früh eine neue(, heute ziemlich verwickelt erscheinende) Regelung (damnum iniuria datum, durch Unrecht verursachter Schaden). Die rechtswidrige (iniuria) Tötung eines fremden Sklaven und eines vierfüßigen Herdentiers (quadrupes) ist seitens des Täters - nicht seiner Erben - durch ihren höchsten Wert des letzten Jahres, die sonstige Schädigung von Vermögensgütern durch Brennen, Brechen, Reißen (urere, frangere, rumpere) durch ihren höchsten Wert der (letzten) 30 Tage - bei Bestreiten jeweils doppelt (Litiskreszenz, Streitwerterhöhung) - auszugleichen.
Diese Regelung bearbeiten die Juristen insofern, als sie aus dem Begriff der iniuria allmählich das Merkmal der culpa (Schuld, persönliche Verantwortlichkeit) herausschälen und darunter vorsätzliches wie fahrlässiges Handeln erfassen. Weiter genügt über die genannten Handlungen hinaus jedes Zerstören oder Beschädigen von Sachen. Der Prätor erweitert das Gesetz dadurch, dass er andere Berechtigte (z. B. Pfandgläubiger) und andere Begehungsformen (z. B. Unterlassung, mittelbare Schädigungen) mit Hilfe von zusätzlichen actiones utiles und actiones in factum einbezieht. Dagegen werden Freie erst spät und nur ansatzweise gegen Verletzung - nicht gegen Tötung - durch die lex Aquilia geschützt (actio utilis bei unbewusster Verletzung).
Im Übrigen schaffen die Prätoren auch sonst einzelne neue Regeln (z. B. bei vorsätzlicher gewaltsamer Schädigung fremden Vermögens durch bewaffnete Banden, bei Raub [rapina], Zwang [metus causa, Grund zur Furcht] oder Arglist [dolus malus, böser Wille, Gaius Aquilius Gallus] u. a.).
Insgesamt zeigt sich eine deutliche Entwicklung auf eine Haftungsausdehnung hin. Ein allgemeines Schädigungsverbot besteht aber nicht.
Das System der Noxalhaftung (noxae deditio, Hingabe des Schädigers zur Abwendung der Haftung) bei Schädigungen durch Gewaltunterworfene und Tiere besteht fort. Als deliktsähnlich behandelt werden einzelne Fälle, in denen unbeabsichtigt ein Schaden entsteht. Hierfür gibt der Prätor jeweils eine actio in factum wie z. B. die actio de effusis vel deiectis (Klaganspruch wegen Ausgießens oder Hinauswerfens von Gegenständen aus einem Raum auf die Straße).
Lit.: Bauer, K., Ersitzung und Bereicherung im klassischen römischen Recht, 1988; Benöhr, H., Der Besitzerwerb durch Gewaltabhängige im klassischen römischen Recht, 1972; Benöhr, H., Das sogenannte Synallagma in den Konsensualkontrakten des klassischen römischen Rechts, 1965; Hausmaninger, H., Das Schadensersatzrecht der lex Aquilia, 4. A. 1990; Honsell, H., Quod interest im bonae-fidei-iudicium 1969; Huber, J., Der Ehekonsens im römischen Recht, 1977; Kaser, M., Römisches Privatrecht, 16. A. 1992; Kaufmann, H., Die altrömische Miete, 1964; Knütel, R., Contrarius consensus, 1968; Knütel, R., Stipulatio poenae, 1976; Kupisch, B., In integrum restitutio und vindicatio utilis, 1974; Kurylowicz, M., Die adoptio im klassischen römischen Recht, 1981; Mayer-Maly, T., Locatio conductio, 1956; Misera, K., Der Bereicherungsgedanke bei der Schenkung unter Ehegatten, 1974; Schwarz, F., Die Grundlage der condictio im klassischen römischen Recht, 1952; Seiler, H., Der Tatbestand der negotiorum gestio im römischen Recht, 1968; Sturm, F., Stipulatio Aquiliana, 1972; Watson, A., The Law of Obligations, 1965; Watson, A., The Law of Persons, 1967; Watson, A., The Law of Property, 1969; Wieling, H., Testamentsauslegung im römischen Privatrecht, 1972; Willvonseder, R., Die Verwendung der Denkfigur der »condicio sine qua non« bei den römischen Juristen, 1984; Wittmann, R., Die Körperverletzung an Freien im klassischen römischen Recht, 1972; Wolfgang, E., Das klassische römische Recht der Gefahrtragung beim Kauf, 1981; Wunner, S. Contractus 1964; Zimmermann, R., The law of obligations, 1992
C) Spätantikes römisches Recht (3. Jh.-6. Jh. n. Chr.)
In der Spätantike geht zwar die römische Jurisprudenz im Wesentlichen unter, doch bewahrt Kaiser Justinian ihre Leistungen durch seine restaurativen Digesten oder Pandekten (530-534) für die Nachwelt auf. Neben ihnen stehen weitere zahlreiche Gesetze (constitutiones).
I. Grundlagen
1. Politische Verhältnisse
Den Ansturm der Randvölker der Germanen (z. B. Quaden, Goten, Alemannen, Franken), Perser und Mauren vermögen die rasch wechselnden, jeweils durch das Heer bestimmten Soldatenkaiser des 3. Jh. (zwischen 235 und 284 mehr als 30 Kaiser), die sich zugleich dem inneren Wandel durch das von immer mehr Besserung und Erlösung suchenden Menschen angenommene, Gerechtigkeit und Seelenheil versprechende Christentum gegenübersehen, nur mühsam abzuwehren.
Die Kaiser Diokletian (284-305) und Konstantin (306/312-337) festigen dann zwar das Reich durch den Übergang zur absoluten Herrschaft (Dominat), leiten aber zugleich ab 293 die seit 395 endgültige Teilung in ein weströmisches Reich (Hauptstadt Ravenna) und ein oströmisches Reich (Hauptstadt Konstantinopel seit 330) ein. Im Alpenraum wird dabei von Diokletian Rätien in Raetia prima (Chur) und Raetia secunda (Augsburg) und Norikum in Ufernoricum (Laureacum/Lorch) und Binnennorikum (Virunum, im 5. Jh. Teurnia/St. Peter im Holz) geteilt.
Im Jahre 476 fällt der Westen mit der Absetzung des weströmischen Kaisers Romulus Augustu(lu)s durch den germanischen Söldnerführer Odawakar an die Germanen (Ende des weströmischen Reiches).
Wenig später gibt Odawakar den Befehl zum Rückzug der Römer aus Norikum, für das für diese Zeit die um 511 verfasste Vita Severini die wichtigste Quelle ist. Als Folge der Ereignisse tritt der römische Einfluss im Westen zurück. Der mehr und mehr griechisch geprägte Osten erlebt dagegen unter dem vom (illyrischen) Bauernsohn (und Neffen Kaiser Justins) zum Kaiser aufgestiegenen Justinian (527-565) eine neue Blüte, die sogar unter Vernichtung der Ostgoten (551) und Vandalen eine zeitweise Wiedereroberung westlicher Gebiete (Italien, Nordafrika) ermöglicht.
2. Wirtschaft
Die Wirren des 3. Jh. verursachen eine wirtschaftliche Zerrüttung, wobei die infolge des öffentlichen Finanzbedarfs ständig erhöhte Geldmenge angesichts der verringerten Güterproduktion zum Währungsverfall führt, von dem nur der von Kaiser Konstantin neu geschaffene Goldsolidus ausgenommen ist. Gegen diesen Niedergang werden seit Kaiser Diokletian immer härter öffentliche Zwangsmaßnahmen ergriffen (schärfere Besteuerung nach Maßgabe der Ertragskraft des Bodens und der Arbeitskraft des Menschen, Höchstpreisedikt [301], Erblichkeit der öffentlichen Lasten, erbliche Schollenbindung der Landpächter [coloni]). Die davon erhoffte wirtschaftliche Besserung bleibt allerdings aus.
3. Gesellschaft
Die seit Ende des 3. Jh. zahlenmäßig schrumpfende Gesellschaft gliedert sich im Wesentlichen in zwei Gruppen. Zu den honestiores (Ehrbareren) zählen die verhältnismäßig wenigen, dem alten Amtsadel und Geldadel entstammenden Großgrundherren, denen ihr Reichtum die Errichtung eigener, auf ihr Landgut (villa) bezogener Schutzherrschaften ermöglicht, und die vielfach privilegierten Gruppen der öffentlichen Amtsträger, Soldaten und nun auch (christlichen) Geistlichen.
Die humiliores (Niedereren) setzen sich zusammen aus der großen Masse der in die immer starrere Zwangsordnung eingebundenen einfachen Bürger. Ihre Lage nähert sich der Lage der Sklaven (servi) an. Deren Stellung verbessert sich unter philosophisch-christlichem Einfluss merklich.
4. Geistesleben
Die letzten Versuche, die altrömische Sitte der Väter (mos maiorum) wiederzuerwecken, erweisen sich rasch als vergeblich. Im Wettbewerb mit zahlreichen anderen fremdländischen Heilslehren setzt sich neben hellenistischen Kulturelementen vor allem als eine revolutionäre, die unteren Schichten gegen ihre Obrigkeit einnehmende Massenbewegung das Christentum durch, das seine Schriften gegen 180 kanonisiert und schon früh eine hierarchische Verfassung von Bischöfen, Klerus und Laien annimmt.
Nach anfänglicher Verfolgung wegen der Lehre von der Unterordnung des irdischen Reiches unter das himmlische Reich Gottes wird das Christentum 313 im Mailänder Toleranzedikt von Kaiser Konstantin anerkannt. In seiner im Glaubensstreit zwischen Athanasius und Arius von Athanasius vertretenen Form wird es 391 zur römischen Staatsreligion, deren geistige Verfeinerung und lateinische Durchdringung vor allem durch die sog. Kirchenväter Hieronymus (345-420, Verfasser der wichtigsten lateinischen Bibelübersetzung, sog. Vulgata), Ambrosius und Augustinus erfolgt. Organisatorisch setzt sich unter dem Primat Roms die Bischofskirche durch. Die Erzbischöfe und Bischöfe nehmen ihre Sitze in den civitates (Städten) des Reiches wie Lyon, Rouen, Paris, Mainz, Trier, Köln, Chur, Augsburg, Laureacum, Virunum oder Trient.
Im 4. Jh. wird die aus Ägypten gekommene Papyrusrolle (mit jeweils rund 1500-2500 Zeilen zu etwa 35 Buchstaben) als Überlieferungsträger aufgegeben und die Aufzeichnung der Texte in Codexbänden begonnen, wobei das Pergament (Tierhaut) neuer Schreibstoff wird.
Lit.: Bleicken, J., Prinzipat und Dominat, 1978; Gibbon, E., The History of the Decline and Fall of the Roman Empire, 1776ff.; Schneider, C., Kulturgeschichte des Hellenismus, Bd. 1ff. 1967ff.; Wieacker, F., Recht und Gesellschaft in der Spätantike, 1964
II. Recht
1. Allgemeines
a) Die politischen Wirren des 3. Jh. führen zu einem fast schlagartigen Ende der klassischen Jurisprudenz.
Um so bedeutsamer wird die ganz unübersichtlich sprudelnde Rechtssetzung durch den Herrscher, welche die Bahnen hochentwickelter Jurisprudenz weitgehend verlässt. Wichtigstes Kennzeichen allen Rechts wird - wie in anderen Kulturbereichen auch - die durchaus nicht vom Volk, sondern den führenden Schichten ausgehende, teilweise propagandistisch bedingte vulgare Haltung, die sich in einfachem, unverhülltem Zweckstreben, in bildhafter Anschaulichkeit sowie in gefühlsbetonter rhetorisierter Moralität zeigt (Vulgarrecht). Nur im Osten kommt es unter Justinian zu einer Wiederbelebung des klassisch-juristischen Rechtsgutes (Klassizismus). Dagegen wird im Westen eine verwirrende Vielfalt uneinheitlicher Aussagen aufgezeichnet und fortgeführt.
b) Unter den Rechtsquellen steht die Rechtssetzung durch den Herrscher an der Spitze. Er richtet seine Konstitutionen (leges, Gesetze) als Erlasse an das Volk oder den Senat oder als Anordnung an einzelne Amtsträger.
Dabei ersetzt die allgemein geltende schöpferische Regelung mehr und mehr das nur den Einzelfall betreffende Reskript (Antwort auf Einzelanfrage). Sachlich werden in der überwiegend durch tagespolitische Notwendigkeiten geprägten Fülle von verschlungenen Bestimmungen fast alle Rechtsbereiche erfasst. Vornehmlich wird allerdings die öffentlichen Verwaltung angesprochen.
Neben der Konstitution wird auch die von Kaiser Konstantin noch bekämpfte Gewohnheit (consuetudo, mos) als Quelle neuen Rechtes anerkannt.
An rechtswissenschaftlicher Literatur erscheinen nur noch vereinzelt vereinfachende Schriften, die teilweise klassischen Sachverständigen der Jurisprudenz zugeschrieben werden (z. B. sententiae Pauli, Paulussentenzen, regulae Ulpiani [Ulpianregeln], res cottidianae, alltägliche Sachen [des Gaius], alle [str.] E. 3. Jh., sog. Gaius von Autun, sog. Collatio legum Mosaicarum et Romanorum, Consultatio veteris cuiusdam iurisconsulti, 5. Jh.).
Sowohl das Ende der klassischen Jurisprudenz wie auch die Unübersichtlichkeit der zahllosen, an die verschiedensten Empfänger gerichteten kaiserlichen Gesetze (constitutiones) sind vermutlich der Grund, dass schon früh ein Bedürfnis nach Übersicht und Klarheit über das tatsächlich geltende Recht sichtbar wird, dem man mit Rechtssammlungen abzuhelfen versucht.
Zunächst verfassen vermutlich Amtsträger privat gegen 294 den Codex Gregorianus als Sammlung von Konstitutionen von Kaiser Hadrian bis Kaiser Diokletian und den Codex Hermogenianus mit Konstitutionen vor allem Diokletians, die beide nur fragmentarisch erhalten sind (z. B. in den sog. fragmenta Vaticana, den zu etwa einem Elftel überlieferten vatikanischen Fragmenten, die um 320 aus Werken Papinians, Paulus’, Ulpians sowie den beiden genannten Codices privat zusammengestellt werden). Daneben greifen die Herrscher selbst ein und verbieten gewisse Schriften (321 sog. Kassiergesetz Konstantins) oder erklären bestimmte Juristen für maßgeblich (Kaiser Konstantin 321/2 hinsichtlich Papinian und Paulus, die Kaiser Theodosius II. und Valentinian III. 426 sog. Zitiergesetz hinsichtlich Papinian, Paulus, Ulpian, Modestin und Gaius, wobei in Meinungsverschiedenheiten formale Auszählregeln gelten). Außerdem plant Theodosius II. auch die Schaffung eines einheitlichen, aus den beiden vorhandenen Codices, einem dritten, die seither erlassenen Konstitutionen (Novellen) zusammenfassenden ergänzenden Konstitutionencodex sowie den noch verwertbaren Juristenschriften zu bildenden Codexes (Gesetzbuchs).
Davon ist aber nur die Sammlung weiterer Konstitutionen zustande gekommen (438 als Codex Theodosianus [CT] mit über 3000 Konstitutionen in 16 Büchern im Osten publiziert und im Westen übernommen und fast vollständig überliefert).
Gleichzeitig mit dieser weltlichen Sammlungstätigkeit erfolgt auch innerhalb der christlichen Kirche eine schriftliche Zusammenfassung der geltenden Regeln (seit dem 4. Jh. Sammlung der die Verfassung, die Disziplin und den Kult betreffenden, zur Festigung ständig wiederholten Beschlüsse [canones, regulae] der Bischofssynoden sowie der bischöflichen Einzelreskripte [Dekretalen], darunter die Sammlung des um 545 gestorbenen skythischen Mönches Dionysius Exiguus).
Diesen Vorbildern folgend stellen auch die im weströmischen Reichsteil eingerückten Germanenherrscher bald das (für die Römer) geltende Recht zusammen.
Dies geschieht bei den Westgoten durch Alarich II. um 506 (lex Romana Visigothorum [römisches Gesetz der Westgoten] oder [seit dem Spätmittelalter sog.] Breviarium Alarici [Kurzfassung Alarichs] mit Auszügen aus dem Codex Theodosianus, posttheodosianischen (nach Theodosius ergangenen) Novellen, den Institutionen des Gaius, den Paulussentenzen, dem Codex Gregoriani und dem Codex Hermogeniani, wobei zu den meisten Texten eine wohl im 5. Jh. entstandene, vereinfachende interpretatio (Erklärung) zugefügt ist). Etwa gleichzeitig entstehen bei den Burgundern die Lex Romana Burgundionum mit 176 Bestimmungen und das vermutlich ostgotische Edictum Theoderici (Edikt Theoderichs (des Großen?), str.) mit 157 Kapiteln, die mittelbar ebenfalls auf diesen Quellen beruhen.
Im Osten unternimmt schließlich Kaiser Justinian den insgesamt erfolgreichsten Versuch der Sammlung des gesamten, brauchbaren Rechtsgutes (528-534, Kompilation).
Ihm kommt dabei zugute, dass im Osten im Gegensatz zu der die westlichen Quellen allein beherrschenden vulgaren Haltung auch eine um die Rechtsschulen von Beryt (Beirut, 2. Jh.?) und Konstantinopel (seit 414-25) zentrierte, antiquarisch-klassizistische Arbeitsrichtung besteht, die das klassische Schriftgut theoretisch-systematisch zu verstehen sucht. Sie liefert nicht nur einige neue literarische Erzeugnisse (Scholia Sinaitica zu Ulpians Libri ad Sabinum, Syrisch-römisches Rechtsbuch), sondern auch die wesentliche Grundlage für Justinians sich in mehreren Schritten vollziehende Sammlung.
Zunächst werden dabei 528/529 die noch als brauchbar angesehenen Konstitutionen unter Tilgung von Widersprüchen in einem nicht erhaltenen Codex Iustinianus (vetus) zusammengestellt.
Dann wird 530/33 das verwertbar erscheinende Recht der durchweg mehr als 300 Jahre alten Schriften der klassischen Juristen unter vereinheitlichender Reinigung restauriert und in den (lat.) Digesta (Geordnetes) oder (griech.) Pandectae (Allesenthaltendes) vereint.
Den Vorsitz dabei führt der rechtsgelehrte Justizminister Tribonian. Über die erstaunliche rasche Arbeitsweise besteht zwar keine völlige Klarheit, doch wird seit Bluhme (1820) davon ausgegangen, dass die Kommission in Untergruppen einzelne Stoffmassen (Sabinusmasse aus den Juristenkommentaren zum ius civile, Ediktsmasse aus den Ediktskommentaren, Papiniansmasse aus den Werken der Spätklassiker, Appendixmasse) vielleicht auf Grund schon vorhandener vergleichender Literatur verwertet hat. Angeblich sind über 2000 Schriften einbezogen, von denen mehr als 200 in 9142 Auszügen erscheinen. Sie stammen von wahrscheinlich 39 verschiedenen Juristen überwiegend der klasischen Zeit (vor allem Ulpian und Paulus). Vermutlich sind damit etwa 5-7% dessen aufgenommen, was zur Zeit Justinians von den Juristenschriften noch vorhanden war. Die Reihenfolge schließt sich an das prätorische Edikt an. Das Gesamtwerk ist in 50 Bücher gegliedert, von denen 45 (2 bis 46) das Privatrecht und 2 (47, 48) das Strafrecht betreffen. Die Kommentierung wird verboten. Die sachlichen, teilweise allerdings schon vor Justinian erfolgten Eingriffe in die aufgenommenen Juristenschriften (z. B. Ersetzung der Belege für mancipatio durch traditio) werden in der Neuzeit als Interpolationen bezeichnet. Ihr Umfang ist streitig. Die Digesten sind in (zwei) Handschriften des 6. und 11. Jh. überliefert. Sie werden zitiert nach Buch, Titel, Fragment (lex) und principium (Anfang) bzw. Paragraph (z. B. D. 8,3,23,2, früher nach Titelrubrik und Anfangsworten der Fragmente, vgl. zum ganzen auch Lenel, O., Palingenesia iuris civilis, 1889, Neudruck 1962).
Noch vor den Digesten erscheint 533 ein auf Gaius gegründetes, amtliches Einführungslehrbuch, die Institutionen (institutiones).
Es ist handschriftlich vollständig überliefert und zerfällt in vier Bücher, diese in Titel und Paragraphen (zitiert wird es nach Buch, Titel und Paragraph z. B. I. 2,20, pr(incipium), früher pr. I. de legatis 2,20).
Der Codex wird 534 überarbeitet (Codex repetitae praelectionis) und veröffentlicht.
Er enthält 4600 Konstitutionen vor allem Kaiser Diokletians. Er ist in 12 Bücher (Buch 1 Kirchenrecht, Staatsrecht, Verfahrensrecht, Bücher 2-8 Privatrecht, Buch 9 Strafrecht, Bücher 10-12 Verwaltungsrecht) und Titel eingeteilt und handschriftlich vollständig überliefert. Zitiert wird er als C. nach Buch, Titel und Konstitutionen.
Danach erlässt Kaiser Justinian nur noch Einzelgesetze (sog. Novellen).
Sie sind in drei privaten Sammlungen (Epitome Juliani 535-555, Authenticum, griechische Novellensammlung) überliefert. Sie werden nach Nummer, Kapitel und Paragraph zitiert.
Im Jahre 554 werden Codex, Digesten und Institutionen auch für die von Ostrom wiedereroberten Teile Italiens in Kraft gesetzt, ohne dass dies sich entscheidend auswirkt. An Kaiser Justinians Sammlungstätigkeit schließt sich (im Osten) eine weitgehend griechisch gehaltene Rechtsliteratur an, die jedoch im 7. Jh. abbricht.
c) Für das Recht insgesamt werden die älteren Gliederungen in ius civile, ius gentium (Recht der Völker) und ius honorarium (Amtsrecht) bedeutungslos, während die Einteilung in ius publicum (öffentliches Recht) und ius privatum (privates Recht) sachlich an Gewicht gewinnt (vgl. hierzu die Ulpian zugeschriebene Definition: D. 1,1,1,2 publicum ius est, quod ad statum rei Romanae spectat, privatum quod ad singulorum utilitatem, öffentliches Recht ist, was die Verhältnisse des römischen Gemeinwesens betrifft, privates Recht, was den Nutzen des Einzelnen belangt). Allerdings wird der Ausdruck ius (Recht) wegen der überragenden Bedeutung der kaiserlichen Gesetzgebung in erheblichem Umfang durch das Wort lex (eigentlich Gesetz) verdrängt, so dass lex bald auch zur Bezeichnung des Rechtes insgesamt (z. B. Lex Romana Burgundionum, römisches Recht der Burgunder) wird. Sachlich richtet sich das Recht auch auf neue, überpositive Werte christlicher Prägung aus.
Lit.: Archi, G., Giustiniano legislatore, 1970; Archi, G., Theodosio II e il suo tempo, 1978; Biondi, B., Il diritto romano cristiano, 1952ff.; Bluhme, F., Die Ordnung der Fragmente in den Pandectentiteln, ZGR 4 (1818), 257; Das Gesetz in Spätantike und frühem Mittelalter, hg. v. Sellert, W., 1992; Honoré, T., Tribonian, 1978; Liebs, D., Die Jurisprudenz im spätantiken Italien, 1987; Kaser, M., Ein Jahrhundert Interpolationenforschung, SB. d. Ak. d. Wiss. Wien 1979; Meyer, P., Juristische Papyri, 1920; Simon, D., Rechtsfindung am byzantinischen Reichsgericht, 1973; Schindler, K., Justinians Haltung zur Klassik, 1966; Stühff, G., Vulgarrecht im Kaiserrecht
2. Öffentlicher Bereich
a) Verfassung
An der Spitze des römischen Weltreiches steht seit Diokletian der Kaiser als absoluter Herr und Gott (dominus et deus ® Dominat), ohne dass dies durch das Christentum entscheidend gemildert wird. Seine Nachfolge vollzieht sich teilweise in einer Art Erbfolge. Umgeben ist der Herrscher von einem Kronrat (consistorium sacrum), neben dem der Senat, abgesehen vom formalen Recht der Gesetzesbestätigung, zum Stadtrat von Rom und Konstantinopel verkümmert. Das Volk ist eine breite Masse von Untertanen.
b) Verwaltung
Seit den Kaisern Diokletian und Konstantin wird das Reich neu gegliedert (zeitweise vier Präfekturen, 14 Diözesen, etwa 120 [auch italienische] Provinzen), ab 395 bestehen überhaupt zwei Reiche (Westreich [Ravenna] mit Rom, Ostreich mit Konstantinopel).
Die Verwaltung wird streng hierarchisch aufgebaut, wobei der Vorgesetzte über den Untergebenen Befehlsgewalt und Kontrollgewalt hat. Aufstieg ist möglich. Die unzureichende Besoldung wird zwar durch Gebührenanteile aufgebessert, bietet aber auch viele Anreize zur Bestechlichkeit.
Die Zentralverwaltungen befinden sich am jeweiligen Hof. Der magister officiorum steht der Kanzlei, Polizei und Palastgarde vor, der quaestor sacri palatii der Justizbehörde, der comes sacrarum largitionum dem Amtsvermögen des Kaisers (fiscus) und der comes rerum privatarum den Domänen. Die Spitzen der Territorialverwaltung bilden der praefectus praetorio in der Präfektur, der vicarius (Vikar) in der Reichsdiözese und der praeses, corrector (Vorsitzender, Richter) in der Provinz. Die kommunale Selbstverwaltung wird auf wenige Sachbereiche eingeengt (einfache Rechtsprechung, Steuereinziehung) und öffentlicher Aufsicht unterstellt. In Rom und Konstantinopel amtieren neben einem besonderen praefectus urbi (Stadtpräfekten) noch die verkümmerten Organe der ehemaligen Republik.
Die Steuern werden hauptsächlich von gemeindlichen Behörden eingetrieben (duoviri, Zweimänner, ordo decurionum, kollektiv haftender erblicher Stand der Gemeinderäte, defensor, Verteidiger). Zu erlegen sind seit Kaiser Diokletian Grundsteuer und Personensteuer, seit Kaiser Konstantin eine Art Gewerbesteuer, während die Erbschaftsteuer verschwindet. Italien verliert seine steuerlichen Vorrechte, doch werden neue Steuerprivilegien ständischer Art (Geistliche, Soldaten) erteilt. Seit Kaiser Konstantin sind die Güter der christlichen Kirchen und Kleriker von allen Abgaben zunächst ganz, später teilweise befreit (emunitas, Immunität). Möglicherweise genießen auch die kaiserlichen Domänen ähnliche Freiheit.
Die militärische Verwaltung wird unter den Kaisern Diokletian und Konstantin erstmals völlig abgesondert (magistri militum [Soldatenmeister] an der Spitze des Heeres, duces [Führer] an der Spitze der aus der Grenzbevölkerung ([z. B. Westgoten 376 n. Chr.] gebildeten Grenztruppen).
c) Verfahren
aa) Zivilverfahren
Ziviles Erkenntnisverfahren ist das mehr und mehr schriftlich durchgeführte Kognitionsverfahren mit der Gemeindebehörde oder dem Provinzpraeses, in besonderen Fällen dem Reichsdiözesanvikar, Präturpräfekten oder Herrscher selbst als Richter, wobei 342 n. Chr. das Formularverfahren ausdrücklich abgeschafft wird.
Das Kognitionsverfahren beginnt mit der Streitansage (litis denuntiatio) einer Partei, seit der Mitte des 5. Jh. mit der Einreichung eines Klaglibells (libellus conventionis ® Libellverfahren) an den Richter mit der Bitte um Ladung des Gegners durch einen öffentlichen Bediensteten. Nach dem durch Sicherheitsleistung gesicherten oder durch Haft erzwungenen Erscheinen vor dem Richter folgen die Eide der Parteien und ihrer Advokaten (advocati), das Verfahren nicht aus Rechtsmissbrauch zu führen (iusiurandum calumniae, Schikaneeid) und die Parteivorträge. Mit dem Bestreiten ist die Streitbefestigung (litis contestatio), welche die Rechtshängigkeit bewirkt, vollzogen (Fiktion). Der Richter kann die Beweismittel auswählen und beibringen, ist aber an feste Beweislastregeln und an Beweisregeln gebunden. Das Urteil wird schriftlich abgefasst und mündlich verkündet und kann auf eine Leistung jeder Art (z. B. Herausgabe einer Sache) lauten. Die Kosten trägt regelmäßig die unterlegene Partei. Möglich ist die Appellation (Berufung) an den nächsthöheren Richter bzw. gegen die Entscheidung des Präturpräfekten die supplicatio (Bitte) an den Herrscher. Nach Erschöpfung des teilweise mehr als zwei Instanzen umfassenden Rechtsmittelzugs ist wegen der Rechtskraft des Urteils ein zweites Verfahren ausgeschlossen. Schon vor dem Urteil kann der Richter zwecks Beratung die Akten dem Herrscher vorlegen (Konsultationsverfahren).
Vollstreckt wird im Amtsbetrieb, und zwar seltener gegen die Person und häufiger in einzelne Gegenstände des Vermögens. Dieses wird in seiner Gesamtheit nur noch bei Überschuldung gegenüber mehreren Gläubigern in einer Gesamtvollstreckung verwertet (Konkurs bzw. Insolvenz).
bb) Strafverfahren
Ausschließliches Verfahren ist seit Kaiser Diokletian das Kognitionsverfahren vor den Amtsträgern. In der Regel wird die Untersuchung öffentlich betrieben, während zu Akkusation (Anklage) nur noch Personen mit einem Vermögen von 50 aurei (Goldstücken) zugelassen werden. Gegen die Entscheidung ist teilweise mehrfach Appellation (Berufung) möglich.
cc) Verfahren vor dem Bischof
Neben den weltlichen Verfahren erscheint eine private, vor allem den Armen gegenüber gerechtere und zuverlässigere private Schlichtungstätigkeit des christlichen Bischofs (episcopalis audientia, »bischöfliche Anhörung«). Sie ersetzt die weltlichen Machtmittel durch geistliche Disziplinierungsmöglichkeiten (z. B. Exkommunikation).Teilweise werden ihr auch die öffentlichen Vollstreckungsverfahren zur Verfügung gestellt.
d) Strafe
Bei den öffentlich verfolgten Unrechtshandlungen, deren Regeln Kaiser Justinian in den Büchern 47 und 48 der Digesten vereinigt (libri terribiles, Schreckensbücher), ändern sich unter vornehmlich christlichem Einfluss nur Einzelheiten.
Strafbar werden Bigamie (seit Diokletian), Frauenraub (seit Konstantin), Verbindung einer Freien mit einem Sklaven, Ehrverletzung (iniuria), Häresie, zauberische Weissagung (divinatio) und Blasphemie (seit Justinian). Die Tötung der Hauskinder wird endgültig untersagt, die Ehrverletzung der Amtsträger stärker kriminalisiert (lex Arcadia 397). Zusätzlich werden mehrere qualifizierte Entwendungstatbestände geschaffen (abigeus, Viehdieb, Nachtdieb, expilator, großer Dieb).
Bei den Rechtsfolgen dringt seit Kaiser Severus die Todesstrafe wieder vor (Ehebruch, Unzucht, Frauenraub, zauberische Weissagung, einzelne Münzdelikte). Seit Kaiser Diokletian findet sich auch die Verstümmelung als Begleitfolge häufiger. Allgemein wird bei der ziemlich freien Strafbemessung, die bereits Kaiser Konstantin einengt, eine Tendenz zur stärkeren Berücksichtigung von Einzelumständen sichtbar.
Lit.: Simon, D., Untersuchungen zum justinianischen Zivilprozess, 1969
3. Privater Bereich
a) Person
aa) Vollberechtigtes Subjekt ist der freie Bürger, wobei Kaiser Justinian die früheren Abstufungen (Latini, dediticii) endgültig beseitigt. Das Bürgerrecht kann strafweise entzogen werden. Der Reichsfremde, vielleicht auch der im römischen Reich angesiedelte Nichtrömer (barbarus), ist aus dem römischen Recht ausgeschlossen.
Der Sklave verbessert sich in seiner rechtlichen Stellung auf Grund der abnehmenden Zahl und des christlichen Menschenbildes. Er darf nicht mehr grundlos getötet werden, erhält das Sondergut (peculium) als eine Art eigenes Gut und wird im Streit um die Freiheit durch die Begünstigung der Freiheit (favor libertatis) geschützt. Sklave wird man durch Geburt aus einer unfreien Mutter, Kriegsgefangenschaft und Bestrafung, während umgekehrt die Unfreiheit durch Ersitzung der Freiheit, durch vom Herrn geduldete Weihe zum christlichen Priester sowie durch Freilassung endet.
Der Freigelassene bleibt dem früheren Herren verpflichtet, wobei sich seine Stellung sogar wieder etwas verschlechtert (revocatio, Rückrufsmöglichkeit seit Kaiser Konstantin, Vererbung von Pflichten auf Außenerben des Patrons). Die Freilassung erfolgt durch Erklärung vor der Behörde (seit Konstantin), in der christlichen Kirche (in sacrosanctis ecclesiis), im Testament oder Fideikommiss, vor Freunden (inter amicos), im Brief (per epistulam) oder durch Aufnahme an den gemeinsamen Tisch (per mensam). Dabei beseitigt Kaiser Justinian auch die Freilassungsbeschränkungen der augusteischen lex Fufia Caninia ganz und der lex Aelia Sentia teilweise.
Als rechtlich besonders gestellte neue Gruppen erscheinen die Kolonen (coloni). Sie sind an sich freie, aber wegen der Verschlechterung der wirtschaftlichen Gesamtlage allmählich erblich schollengebundene Landpächter (adscripticii, auf der Steuerliste Zugeschriebene) eines Großgrundherren, die ihr Land weder verlassen noch von ihm getrennt werden können. Ihnen stehen Lohnarbeiter (mercennarii) und Verwalter (actores, procuratores) weitgehend gleich.
Das Hauskind wird unter hellenischem Einfluss bessergestellt. Der Hausvater darf zwar noch das neugeborene Kind aussetzen und im Notfall in die Unfreiheit verkaufen, andere Kinder aber nur noch züchtigen (365). Weiter erhält das Hauskind das Sondergut (peculium) als eine Art eigenes Gut sowie das von der Mutter hinterlassene Gut (bona materna) seit den Zeiten Kaiser Konstantins als nur durch ein Nutzeigentum (später ususfructus) des Vaters belastetes (Rest-)Eigentum. Die Emanzipation wird dementsprechend weniger wichtig.
Der gewaltfreie Unmündige (impubes, Knaben bis 14, Mädchen bis 12) erhält einen Vormund (tutor) und der Minderjährige (minor, bis 25) nun fast immer einen curator (Pfleger). Daneben wird als neue Altersstufe die des infans (Kind, bis sieben Jahre) hervorgehoben. Seit Kaiser Konstantin ist die Vormundschaft über Frauen geschwunden, und seit dem 4. Jh. werden Frauen als Vormund zugelassen. Außerdem dringen die Blutsverwandten (Kognaten) gegenüber den Agnaten vor.
Im übrigen nähern sich Vormundschaft (tutela) und Pflegschaft (cura) stark an und geraten verstärkt unter öffentliche Aufsicht.
bb) Bei den Personenverbänden schreitet man in Richtung auf die Anerkennung als selbständiges Rechtssubjekt (corpus, Körper, universitas, Einheit) weiter fort, insbesondere hinsichtlich des Gesamtvolks, der Gemeinden, Kirchen, Klöster(, die sich auch im Privateigentum befinden können,) und Stiftungen. Für die Rechtsverhältnisse des fiscus (Amtsvermögen des Kaisers), der das aerarium (Staatskasse) endgültig verdrängt, gelten besondere Regeln.
b) Ehe
Die Ehe wird unter vorwiegend christlichem Einfluss ein stärker rechtlich geprägte Verhältnis.
Seit dem 4. Jh. wird die aus dem semitischen Brautkauf übernommene Verlöbnisgabe (arrha sponsalicia) des Bräutigams an die Braut üblich. Danach kann das Verlöbnis nur noch unter vermögensrechtlichen Nachteilen aufgelöst werden.
Für den Eheschluss der mündigen Brautleute genügt der jetzt rechtlich eingeordnete Konsens. In der Regel wird er aber nur durch Urkunden über eine Mitgiftbestellung (dos) nachgewiesen.
Die von Kaiser Augustus erlassenen Eheverbote entfallen. Zugleich entstehen aber aus der christlichen Lehre neue Ehehindernisse.
Die christlichen Vorstellungen führen auch zur Aufgabe der freien Ehescheidung. Diese ist bald, wenn Vermögensnachteile vermieden werden sollen, nur noch aus bestimmten, von Kaiser Justinian zunächst vermehrten, 542 aber wieder eingeschränkten Gründen (z. B. Ehebruch, Kuppelei) möglich. Üblich wird unter östlichem Einfluss die Erklärung in Form eines Scheidebriefes (libellus repudii).
Zum Schutz der Kinder werden an die Wiederverheiratung negative vermögensrechtliche Folgen geknüpft (382). Außerdem wird der den christlichen Vorstellungen widersprechende Konkubinat bekämpft. Konkubinenkinder erhalten unter Kaiser Justinian einen Unterhaltsanspruch und ein beschränktes Intestaterbrecht gegen den Vater (538) und können im übrigen durch nachfolgende Ehe (seit Kaiser Konstantin), durch öffentlichen Gnadenakt (538) und durch den Eintritt in den Zwangsstand der Gemeinderäte (ordo decurionum) ehelichen Kindern gleichgestellt werden. Die üblichen freiwilligen Zuwendungen der Väter an ihre unehelichen Kinder werden verboten.
Die Bestellung einer Mitgift (dos) - nicht die tatsächliche Gewährung - durch den Brautvater wird zum Zweck der Sicherung der Versorgung der Frau nach der Ehe zur Rechtspflicht (instrumenta dotalia, Mitgifturkunde).
Kaiser Justinian gewährt dem Empfänger eines Mitgiftversprechens eine Generalhypothek am Vermögen des Bestellers. Umgekehrt erhält die Frau für ihren Herausgabeanspruch, der jetzt auf die actio ex stipulatu (Klaganspruch aus Versprechen) statt auf die ältere actio rei uxoriae (Klaganspruch wegen Frauensache) gegründet wird (530), eine privilegierte Generalhypothek am Vermögen des Mannes. Zulässig wird außerdem unter östlichem Einfluss die Ehegabe (donatio propter nuptias) zur Versorgung der Frau und der Kinder von Seiten des Mannes. Da sie im Zweck der Mitgift ähnelt, wird sie vor allem im Westen teilweise überhaupt mit ihr verschmolzen und dann als dos (»Gabe, Mitgift«) verstanden. Von der Frau können außer der Mitgift noch parapherna (Hausratsstücke und Ausstattungsstücke wie Geräte, Kleider, Schmuck) eingebracht werden, die der Mann nur verwaltet und bei der Scheidung herausgeben muss.
Der Übertritt der Frau in die Hausgewalt des Mannes, welcher der unter christlichem Einfluss stehenden grundsätzlichen Gleichordnung von Mann und Frau widerspricht, verschwindet.
c) Erbe
Das Erbrecht wird vereinheitlicht und vereinfacht.
aa) Dabei geht im Westen die Vorstellung der Gesamtnachfolge des Erben zugunsten der Nachfolge aller Begünstigten (einschließlich der Vermächtnisnehmer) verloren. Im 5. Jh. verschwindet die Unterscheidung zwischen Erbschaft nach Zivilrecht und prätorischem Güterbesitz (bonorum possessio).
Erblasser ist jeder vermögensfähige Bürger, Erbschaft das aus Sachen und Rechten zusammengesetzte Vermögen. Mehrere Erben bilden eine Erbengemeinschaft (Bruchteilsgemeinschaft mit Anwachsen bei Wegfall eines Beteiligten). Die Ausgleichung von Vorausempfängen bei der Emanzipation verliert wegen der allmählich anerkannten relativen Vermögensfähigkeit der Hauskinder an Bedeutung. Die Kaiser Leo und Justinian regeln für den Osten diese Verrechnung (collatio bonorum) neu.
Für Erbschaftsschulden hat der Erbe (grundsätzlich mit seinem gesamten Vermögen einschließlich des Nachlasses) einzustehen. Kaiser Justinian führt aber 531 die Inventarwohltat (beneficium inventarii) ein, wonach der innerhalb bestimmter Fristen ein Verzeichnis der Erbschaftsgegenstände (inventarium) erstellende Erbe die Haftung auf die Nachlassgegenstände beschränken kann, so dass er für Erbschaftsschulden nicht mit seinem eigenen, unabhängig vom Erbfall vorhandenen Vermögen haftet.
Das Erbschaftsbegehren (hereditatis petitio) verfällt im Westen, wird im Osten aber von Kaiser Justinian gefestigt. Mit dem prätorischen Interdikt quorum bonorum tritt eine gewisse Vermischung ein.
bb) Erben sind grundsätzlich die gesetzlichen Erben (legitimi heredes). Ihre Ordnung wird in verwickelten Einzelschritten neu geregelt, in denen vor allem die Agnaten zurückgedrängt und die Frauen gefördert werden.
Kaiser Justinian stellt Männer und Frauen sowie Hauskinder und emanzipierte Abkömmlinge gleich und schließt 543/548 die Agnaten als solche von der Erbfolge aus. Er bildet vier neue Erbenklassen, von denen jede frühere jede spätere verdrängt ([1] Abkömmlinge in Stämmen, [2] Eltern und deren Vorfahren, vollbürtige Geschwister und deren Kinder, [3] halbbürtige Geschwister und deren Kinder, [4] alle übrigen Seitenverwandten nach der Gradnähe, außerdem der Ehegatte (537 ein Viertel für die arme Witwe neben Kindern), bei Angehörigen von Personenverbänden die Personenverbände wie z. B. Gemeinderat, Kloster, militärische Einheit, außerdem beim Fehlen von Verwandten der Fiskus). Das Erbrecht des Freilassers wird eingeschränkt. Die Güter, welche die Hauskinder von der Mutter, deren Vorfahren oder vom anderen Ehegatten durch Schenkung oder von Todes wegen erlangt haben, fallen bei ihrem Tod an ihre Abkömmlinge.
Der Erbschaftserwerb erfordert im Westen allmählich auch bei den Hauserben einen besonderen Erbschaftsantritt (adire). Von dessen verschiedenen Formen wird die cretio aufgegeben. Die bonorum possessio wird bedeutungslos.
cc) Das seltener werdende, aber vereinzelt überlieferte Testament kann mündlich oder urkundlich errichtet werden.
Dabei beseitigt Kaiser Konstantin für das Libraltestament den Manzipationsformalismus und verlangt einfach fünf Zeugen für das zivile Testament. Seit 439 sind stets, wie schon vorher beim prätorischen Testament sieben Zeugen erforderlich, vor denen bei urkundlicher Errichtung der Erblasser zu unterschreiben hat.
Für den Westen gestattet Kaiser Valentinian III. 446 das eigenhändig geschriebene (holographe), zeugenlose Testament. Außerdem wird Ehegatten ein gegenseitiges Testament zugestanden. Daneben erscheint ein öffentliches Testament (testamentum apud acta conditum, bei den Behörden begründetes Testament). Sonderregeln gelten für Soldaten, Blinde, Schreibunkundige, Eltern sowie im Falle einer Seuchengefahr.
Testieren können spätestens seit Kaiser Konstantin auch Frauen, begabt werden können auch Gemeinden, Körperschaften und seit Konstantin Kirchen. Die christliche Kirche fordert vielleicht aus heidnischen Kultbräuchen und philosophischen Gerechtigkeitsvorstellungen heraus allmählich einen Anteil an jedem Erbe (Freiteil, z. T. in der Form eines Kindesteils, z. B. bei vier Kindern ein Fünftel), wodurch ihr die Ansammlung beachtlicher Gütermassen gelingt.
Im Westen wird die Voranstellung und dann die Einsetzung eines Erben überhaupt überflüssig. Außerdem geht die Regel, dass niemand teils testiert, teils untestiert sterben können, verloren. Andererseits gewinnt allgemein der wahre Wille des Erklärenden gegenüber der bloßen Form an Bedeutung (favor testamenti, Begünstigung - der Aufrechterhaltung - des Testamentes).
Die Enterbung ist seit Kaiser Konstantin nicht mehr an feste Worte gebunden und entfällt im Westen ganz, wird aber von Kaiser Justinian bei Söhnen, Enkeln, Töchtern und Enkelinnen verlangt. Werden Söhne nicht formgerecht eingesetzt oder enterbt, so wird das anfangs dadurch unwirksame Testament im Westen allmählich nur noch mit der querela inofficiosi testamenti (Beschwerde des pflichtwidrigen Testaments) angreifbar. Nach Justinian wird es wieder durch Übergehen jedes Abkömmlings wieder unwirksam.
Außerdem muss nahen Angehörigen (seit Kaiser Konstantin Abkömmlinge, Vorfahren und durch den gemeinsamen Vater verbundene Brüder des Erblassers) ein Mindestmaß zugewandt werden (Pflichtteil ein Viertel des gesetzlichen Erbteils, das jetzt unter Verkennung der nur gegen Vermächtnisse gerichteten lex Falcidia [40 v. Chr.] fälschlich als falzidisches Viertel bezeichnet wird). Ist der Angehörige ganz übergangen, kann er das Testament angreifen, sonst nur Erhöhung auf das ihm zustehende Viertel verlangen (Pflichtteilsergänzung). Kaiser Justinian erhöht den Pflichtteil bei mehr als vier Kindern auf die Hälfte des gesetzlichen Erbteiles (536) und regelt wenig später das Pflichtteilsrecht umfassend.
Die öffentliche Aufsicht über die Testamentseröffnung verstärkt sich.
dd) Das Vermächtnis verliert vielleicht wegen des wirtschaftlichen Niedergangs an Bedeutung.
Im Westen geht das Wort legare ganz verloren. Kaiser Justinian vereinheitlicht die verschiedenen Formen der Vermächtnisse. Er stellt auch das im Westen ganz verfallende Fideikommiss dem Vermächtnis gleich. Durch das Fideikommiss kann seit Justinian die Bindung von Gegenständen innerhalb einer Familie erreicht werden (® später Familienfideikommiss).
Die Gabe von Todes wegen (donatio mortis causa) nähert sich an die Verfügung von Todes wegen an (z. B. freie Widerruflichkeit). Im Westen wird sie unter kirchlichem Einfluss zur Gabe nach dem Tod (donatio post obitum).
d) Sachen
aa) Die Unterscheidung zwischen handgreifbaren und anderen Sachen (res mancipi - res nec mancipi) entfällt. Anstelle der heidnischen Heiligtümer werden die Sachen der christlichen Kirche außerhalb des privaten Rechts behandelt. Kirchliche Grundstücke sind grundsätzlich unveräußerlich.
bb) Der besondere Begriff des Besitzes wird im Westen, wo man auch die bloße Sachgewalt als ius (»Recht«), dominium, proprietas (»Eigentum«) bezeichnet, aufgelöst, von Justinian dagegen restauriert und auf Rechte ausgedehnt.
Allerdings bleibt auch im Westen der Besitzschutz bestehen. Die Berufung darauf, dass der Gegner selbst den Besitz zuvor eigenmächtig entzogen habe, wird verwehrt. Später führt jede eigenmächtige Besitzverschaffung zum Rechtsverlust, bei Rechtswidrigkeit außerdem zu einer zusätzlichen Ersatzpflicht. Kaiser Justinian behält trotz Rückkehr zu den Besitzinterdikten diese Verfallsmaßnahmen und Strafmaßnahmen bei.
cc) Beim Eigentum wird die Differenzierung zwischen zivilem dominium (Eigentum) und prätorischem in bonis habere (in den Gütern haben) beseitigt. Im Westen verliert der Begriff des dominium seine festen Konturen.
Das Eigentum unterliegt zahlreichen Beschränkungen. Zulässig ist die Enteignung gegen Entschädigung (Zwangskauf). Häufig finden sich weiter Veräußerungsverbote und Verpfändungsverbote im öffentlichen und privaten Interesse (z. B. Vorkaufsrecht von Dorfgenossen an einem Dorfgrundstück). Schon von Kaiser Diokletian abgelehnt werden muss die im hellenischen Bereich heimische Regel, dass die Verfügung eines Eigentümers von der Zustimmung seiner nächsten Erben abhängig ist.
Mehrere sind Miteigentümer zu rechnerischen Bruchteilen. Außerdem können mehrere an derselben Sache funktionell teilberechtigt sein (Grundherr und Erbpächter, Hausvater und Hauskind an den bona materna), was Kaiser Justinian aber wieder beseitigt.
Für den Eigentumserwerb sind in iure cessio und mancipatio (Manzipation, Handgreifung) verschwunden. Andererseits genügt auch die formfreie Übergabe (traditio) nicht mehr. Vielmehr verlangt Kaiser Konstantin zwecks Sicherung der Grundsteuer 337 n. Chr. für den Grundstückskauf die Anerkennung der Steuerpflicht und die Zuziehung der Nachbarn als Zeugen für das Eigentum des Verkäufers, wobei die aus dem hellenistischen Bereich kommende Beurkundung als selbverständlich unterstellt wird und hinsichtlich der Übergabe des Grundstücks und der Kaufpreiszahlung keine besonderen Angaben gemacht werden. Im Jahr 444 n. Chr. wird außerdem die Einreichung der Kaufurkunde bei der Gemeindebehörde (acta municipalia) gefordert. Für die Schenkung schreibt Konstantin im Jahr 323 n. Chr. Beurkundung, körperliche Übergabe, Nachbarzeugen und behördliche Registrierung vor, wovon die Übergabe seit 441 durch den Vorbehalt des Nießbrauches ersetzt werden kann. Gegenüber Kauf und Schenkung verlieren andere Eigentumsverschaffungsgeschäfte ihre Bedeutung. Kaiser Justinian lässt dann die traditio Eigentum übertragen, ohne dass klar wird, ob er ein gültiges Grundgeschäft (causa, titulus) voraussetzt. Beim Kauf lässt er statt der Zahlung die Gewährung der Kaufpreisschuld als Darlehen genügen. Ob er eine abstrakte Übereignung vorschreibt, ist unsicher.
Von den übrigen Erwerbsgründen wird die Ersitzung (usucapio) im Westen durch eine Verjährung von 40, später 30 Jahren (longi temporis praescriptio) verdrängt. Kaiser Justinian spricht demgegenüber von usucapio (Ersitzung) in drei Jahren bei beweglichen Sachen und von longi temporis praescriptio (Vorschrift langer Zeit) von 10 bzw. 20 Jahren bei Grundstücken (ausgenommen vor allem Kirchengut und Fiskalgut).
Der Eigentumsschutz durch rei vindicatio (Herausgabeanspruch des Eigentümers gegen den nichtberechtigten Besitzer) verfällt im Westen, wird von Kaiser Justinian aber wiederhergestellt. Er lässt den Besitzer bei Zerstörung der Sache für dolus (Vorsatz) und culpa (Verschulden, Fahrlässigkeit) haften. Außerdem sind die Früchte herauszugeben und umgekehrt die Verwendungen (impensae) auf die Sache zu ersetzen. Die dem bonitarischen Eigentümer zugeordnete actio Publiciana (publizianischer Klaganspruch) verfällt. Mit der actio negatoria (verneinender Klaganspruch) können angebliche Einwirkungsrechte abgewehrt werden.
dd) Die dinglichen Nutzungsrechte werden im Westen vom Eigentum nicht mehr scharf getrennt (Servituten, Nießbrauch). Gleichwohl gewinnt das Erbbaurecht an Bedeutung. Seit dem 3. Jh. dringen auch die Erbpacht (emphyteusis) und die Dauerpacht (ius perpetuum) vor. Sie dienen vor allem der Bewirtschaftung des kaiserlichen Gutes und werden im Westen bald als eine Art Untereigentum angesehen.
ee) Von den Pfandgeschäften sterben mit dem Wegfall der in iure cessio und der mancipatio alle Treuhandgeschäfte (fiducia) ab. Mit dem sonstigen vertraglichen Pfandrecht konkurrieren viele gesetzliche Pfandrechte (Generalhypotheken, auf stillschweigende Vereinbarung gegründete Vermieterpfandrechte und Verpächterpfandrechte). Die Verwertung erfolgt durch Verkauf nach Fälligkeit der gesicherten Forderung, wobei eine Verfallsabrede (lex commissoria) durch Kaiser Konstantin verboten wird.
e) Schulden
Insgesamt lässt sich im westlichen Recht (Vulgarrecht) ein Verfall der hochentwickelten klassischen Rechtsfiguren und bei Kaiser Justinian im Osten eine entschiedene klassizistische Restauration feststellen.
aa) Allgemeines
Von besonderer Bedeutung ist die Trennung von obligatio (Verbindlichkeit) und actio (Klaganspruch) im Vulgarrecht, in dem die Parteien nun unabhängig von überlieferten Klaganspruchstypen (actiones) ihre schuldrechtlichen Beziehungen gestalten können (Typenfreiheit). Kaiser Justinian versteht immerhin die actio (Klaganspruch) als privatrechtlichen Anspruch und eröffnet außerdem neue Rechtsfiguren, welche die Brücke zur Typenfreiheit schlagen.
Die mit dem Aktionensystem verbundene Unterscheidung von freien und strengen Klagansprüchen geht dem Vulgarrecht ebenfalls zugunsten der Billigkeit verloren. Kaiser Justinian trennt demgegenüber zwar freie actiones und strengrechtliche actiones (stricti iuris), ordnet aber zugleich ebenfalls die allgemeine Berücksichtigung der Billigkeit (aequitas) an.
Die Leistung muss weiter möglich, erlaubt, bestimmbar und geldwert sein. Es wird aber die Unterscheidung zwischen certum und incertum (bestimmter Leistung und unbestimmter Leistung) gelockert. Weitgehend kann der Richter über Nebenleistungen (z. B. Zinsen) oder das besondere Interesse des Gläubigers entscheiden. Folgerichtig führt bei dem Klaganspruch auf ein certum eine Zuvielforderung (pluris petitio) auch nicht mehr zu einer Straffolge wegen unbedachter Verfahrensführung.
Als Arten der Obligationen erscheinen im Westen neben Kontrakten und Delikten die obligationes ex variis causarum figuris (Verbindlichkeiten aus verschiedenen Gründen), im Osten die Obligationen quasi ex contractu (z. B. Gemeinschaft) und quasi ex delicto (z. B. Schädigung durch Übernahme einer überfordernden Aufgabe). Außerdem wird im Westen contractus (Vertrag) die Bezeichnung für jede bindende Übereinkunft und verfallen die verschiedenen Kontraktsarten. Im Osten nähern sich die bloßen pacta den Kontrakten an und wird tendenziell der Konsens als allgemeines Merkmal jeder Vereinbarung angesehen.
Für die Entstehung einer Verbindlichkeit gewinnt die Beurkundung faktisch an Bedeutung, während umgekehrt alle anderen alten Formalgeschäfte (Litteralkontrakt, mancipatio, in iure cessio, confarreatio) verschwinden. Unter christlichem Einfluss wird der subjektive Wille stärker berücksichtigt. Irrtum, Scheingeschäft, Zwang, Arglist, Gesetzwidrigkeit und Sittenwidrigkeit führen zur Nichtigkeit oder Anfechtbarkeit.
Die Begründungen einer Verbindlichkeit durch einen freien Stellvertreter bleibt trotz der nunmehr starken Selbständigkeit der Hauskinder und Sklaven ausgeschlossen. Kaiser Justinian erweitert die actio de in rem verso (Klaganspruch über das in eine Sache Gewandte) des Gewalthabers auf den Handel Gewaltfreier schlechthin.
Erlöschensgründe sind die bei Kaiser Justinian durch fünf Zeugen oder eine Quittung (securitas) beweisbare Erfüllung (solutio), die angenommene Leistung an Erfüllungs Statt (datio in solutum), seit Kaiser Konstantin gegebenenfalls die Hinterlegung, der formlos mögliche Erlass, der Aufhebungsvertrag (contrarius consensus), die Konfusion, die bei Justinian von selbst eintretende Aufrechnung (compensatio) sowie bei Justinian die Novation.
Im Westen werden Übertragung der Forderung auf einen neuen Gläubiger und Übernahme der Verbindlichkeit durch einen neuen Schuldner möglich. Die Regelung bei Vorhandensein mehrerer Gläubiger und Schuldner bleibt im Wesentlichen unverändert, wenn auch Justinian die Stellung des Schuldners im Zweifel verbessert.
Bei der die Verbindlichkeit sichernden Bürgschaft verschwinden die Formen der fidepromissio und sponsio. Kaiser Justinian gewährt 535 dem Bürgen die aufschiebende Einrede der Vorausklage und nach der Leistung ein Recht auf den Anspruch des Gläubigers (beneficium cedendarum actionum, Wohltat der abzutretenden Ansprüche).
Bei den Obligationsstörungen (Leistungsstörungen) wird der Schuldner allmählich bei jeder zu vertretenden Verletzung zum Schadensersatz verpflichtet. Eine gewisse Verschlechterung führt weiterhin die Rechtshängigkeit herbei. Der Gläubigerverzug bleibt nur bei Kaiser Justinian unverändert erhalten.
Der Haftungsmaßstab wird unter hellenistisch-christlichem Einfluss vereinheitlicht. Grundsätzlich ist für culpa (Schuld) einzustehen. Allerdings kann sich auf Grund des Utilitätsprinzips der Maßstab der Schuld für die am Vertrag weniger interessierte Partei verringern.
Im Westen verflüchtigen sich allerdings die Begriffe dolus (Vorsatz) und culpa (Schuld) und konkurrieren etwa mit fraus (Tücke) und periculum (Gefahr). Im Osten ist dolus (Vorsatz) das Wissen und Wollen des schädigenden Erfolges und culpa (Schuld, Verschulden) die Nachlässigkeit (neglegentia) in der einem sorgsamen Familienvater angemessenen Sorgfalt (diligentia), die jetzt auch in gewissen Fällen der custodia-Pflicht verlangt wird. In bestimmten Beziehungen fordert man vom Schuldner nur die Sorgfalt, die er in eigenen Angelegenheiten anzuwenden pflegt (diligentia quam in suis, z. B. bei Gesellschaft, Mitgiftverwaltung, Verwahrung) oder nur Einhaltung der jedermann ohne Weiteres einleuchtenden Sorgfalt (lata culpa, grobe Schuld, z. B. Auftrag).
Der Inhalt des Leistungsurteils ist wegen der wirtschaftlichen Verschlechterung grundsätzlich auf Naturalleistung gerichtet. Geldersatz ist nur zu erbringen, wenn die an sich geschuldete Leistung unmöglich oder ungenügend ist. Bei der Berechnung des Geldersatzes gehen die früheren Grundsätze dem Westen weitgehend verloren (z. B. Litiskreszenz, besonderer Berechnungszeitraum) und werden auch bei Kaiser Justinian teilweise abgeändert.
bb) Kontraktobligationen
Von den Realkontrakten wird das Darlehen (mutuum) imWesten jetzt meist durch beurkundete Stipulation begründet und lässt sich von der Leihe (commodatum) nicht mehr sicher abgrenzen. Bei dieser schwindet außerdem die Grenze zu Miete, Pacht und Bittleihe (precarium). Auch die Verwahrung (commendare) tritt in Konkurrenz zu Miete und Pacht. Die Verpfändung wird nur teilweise noch als Realkontrakt angesehen.
Beim Verbalkontrakt Stipulation wird der Frage-Antwort-Formalismus durch die Errichtung einer Urkunde verdrängt, in der bald die Stipulationsklausel (interrogatus spopondit, gefragt hat er versprochen), die in anderen Zusammenhängen zweckentfremdet verwandt wird, verschwindet.
Der Kauf wandelt sich wegen der wirtschaftlichen Zerrüttung wieder in ein Verpflichtung und Erfüllung jedenfalls rein tatsächlich vereinigendes Handgeschäft (Bargeschäft) Zug um Zug, wobei wichtigere Fälle sicherheitshalber beurkundet werden. Bei nicht ganz geringwertigen Gütern hängt der Erwerb des Käufers von der Kaufpreiszahlung oder ihrer stipulationsweisen Stundung ab. Kaiser Justinian dagegen macht den Kauf erneut zum formfreien konsensualen Verpflichtungsgeschäft, dem traditio (Übergabe) und Zahlung oder Stundung des Kaufpreises nachfolgen und bei dem ein Angeld (arrha) den Empfänger binden soll.
Die Höhe des Kaufpreises wird außer von den durch Strafen bewehrten Höchstpreisen von dem vielleicht Kaiser Diokletian zuzuschreibenden, von Kaiser Justinian vertretenen, philosophisch-christlich geprägten Institut der laesio enormis (außergewöhnlichen Verletzung) abhängig.
Danach kann der Verkäufer den Vertrag anfechten und gegen Rückzahlung des Preises die Rückgabe der Sache verlangen, wenn der Preis geringer ist als die Hälfte des Wertes und der Käufer nicht den auf den gerechten Preis (iustum pretium) fehlenden Betrag nachzahlt.
Bei Rechtsmängeln ist regelmäßig der doppelte Kaufpreis zu erstatten. Für Sachmängel tendiert der Westen zur Einschränkung (nur Wandlung wegen bestimmter Mängel beim Sklavenkauf), Kaiser Justinian dagegen zur Ausdehnung der ädilizischen Behelfe auf alle Sachkäufe. Außerdem gewährt er die actio empti (Kaufklaganspruch) auf Vertrauensschadensersatz bei arglistiger Täuschung und besonderer Zusicherung von Eigenschaft.
Die Schenkung (donatio) wird bei Kaiser Konstantin ein Handgeschäft, das Eigentumsübergang bewirkt (Beurkundung vor Zeugen, behördliche Registrierung). Kaiser Justinian sieht sie dagegen wieder als Zuwendungsgrund, lässt aber das Schenkungsversprechen zu einem selbständigen, auf Konsens gegründeten Kontrakt werden. Die Schenkung unter Ehegatten bleibt bei ihm verboten.
Die locatio conductio (Mietvertrag, Dienstvertrag, Werkvertrag) wird im Westen wegen des Kolonats ziemlich bedeutungslos. Sie spielt nur bei höheren Diensten eine gewisse Rolle, bei denen allerdings eine Vermischung mit dem entgeltlichen Mandat eintritt. Kaiser Justinian restauriert die locatio conductio. Wichtiger wird im Westen dagegen die nun entgeltliche Bittleihe (precarium), bei welcher der Eigentümer jetzt rechtlich gebunden wird.
Die Gesellschaft (societas) wird mit der Gemeinschaft (communio) vermischt und von öffentlichen Verbänden zurückgedrängt. Justinian kehrt zum klassischen Recht zurück, lässt aber nun regelmäßig ein besonderes Gesellschaftsvermögen entstehen.
Der Auftrag (mandatum) verliert wesentliche Merkmale wie die Unentgeltlichkeit und die Unterscheidung gegenüber der Ermächtigung (iussum), doch restauriert Kaiser Justinian auch hier. Die im Westen völlig verflachte Geschäftsführung ohne Auftrag ordnet er ebenso als Quasikontrakt ein wie das constitutum (Leistungszusage) und das receptum nautarum cauponum stabulariorum (Zusage der Schiffer, Schankwirte und Stallwirte für die Unversehrtheit eingebrachter Sachen), während er das receptum argentarii (Bankierszusage) beseitigt.
Als neue Gruppe von Obligationen erscheinen im Osten die der actio praescriptis verbis (Klaganspruch der vorgeschriebenen Worte) zugewiesenen Verbindlichkeiten, bei denen jemand seine Leistung erbracht hat und deshalb auch die Gegenleistung erhalten soll, obwohl er an sich die Rückgabe erreichen könnte. Dabei handelt es sich um die vier folgenden Fälle: do, ut des (ich gebe, damit du gibst), do, ut facias (ich gebe, damit du tust), facio, ut des (ich tue, damit du gibst), facio, ut facias (ich tue, damit du tust). Sie werden, weil sie keinen besonderen Namen haben, als Innominatkontrakte (unbenannte Verträge) bezeichnet.
Größere Bedeutung erlangt im Osten die - im Westen völlig verschwindende - condictio (Rückforderung) aus grundloser Vorenthaltung. Sie wird mit der allgemeinen philosophisch-christlichen Überlegung gerechtfertigt, dass niemand aus dem Nachteil eines anderen (grundlos) reicher (locupletior) werden dürfe. Darunter werden vereint die Rückforderung des irrtümlich auf eine Nichtschuld Geleisteten (condictio indebiti), des aus unsittlichem Grund oder verbotswidrigem Grund Geleisteten (condictio ob turpem vel iniustam causam) und des in Erwartung eines nicht eingetretenen Grundes Geleisteten (condictio causa data causa non secuta bzw. condictio ob causam datorum).
Dazu kommt eine subsidiäre condictio sine causa (Rückforderung ohne Grund) etwa für den Fall des nachträglich weggefallenen Rechtsgrunds und die gegen den Dieb mögliche condictio furtiva (Diebstahlsrückforderung), Kaiser Justinian schafft zusätzlich eine condictio ex lege (Rückforderung aus Gesetz) für den Fall, dass eine Obligation durch Gesetz (lex) eingeführt ist, ohne dass dieses den Verpflichtungsgrund angibt. Außerdem soll eine condictio generalis (allgemeine Rückforderung) bestehen, wenn aus Kontrakt, Quasikontrakt oder Delikt ein certum (Bestimmtes) geschuldet ist. Inhalt der Kondiktion (condictio) ist stets die Herausgabe des Erlangten.
cc) Deliktsobligationen
Vor allem im Westen wird wegen der Veränderung des Verfahrensrechts seit dem 4. Jh. zwischen crimen (Verbrechen) und delictum (Delikt) begrifflich nicht mehr unterschieden. Das Ziel des nichtkriminellen Verfahrens wird mehr und mehr als Schadensersatz verstanden. Die entsprechende Geldleistung oder besser Naturalleistung wird außer als poena (Strafe) als damnum (Gabe, Schaden), satisfactio (Genugtuung) oder compositio (Buße) bezeichnet. Mittäter haben die Leistung insgesamt nur einmal zu entrichten, wobei Erben des Täters nur beschränkt haften. Justinian hält demgegenüber auch hier strenger am klassischen Gedankengut fest, setzt aber aus moralisierenden, repressiven Überlegungen für die Ersatzpflicht meist einen der verschiedenen Grade von Schuld (dolus, culpa lata, culpa levis, culpa levissima, Vorsatz, grobe Schuld, leichte Schuld, leichteste Schuld) voraus, wobei dieser vom Grad der Nützlichkeit der Angelegenheit für den Handelnden abhängt (Utilitätsprinzip).
Im Einzelnen tritt bei der Persönlichkeitsmissachtung (iniuria), zu der auch die vorsätzliche Körperverletzung (als Realinjurie) zählt, im Westen die strafrechtliche Verfolgung in den Vordergrund. Weiter gehen zwar die Begriffe der lex Aquilia (aquilisches Gesetz), die nun zur Begründung der Verdoppelung der Schuld bei Nichterfüllung genannt wird, und des damnum iniuria datum (durch Unrecht geschafffenen Schadens) verloren, doch ist die Schädigung von Vermögensgegenständen durch jetzt als Ersatzleistung angesehene Bußzahlung auszugleichen. Im Osten dagegen hält man sich an die klassischen Regeln und erweitert sie nur um Fälle der mittelbaren Vermögensschädigung und der Verletzung von Freien.
Der Diebstahl (furtum) wird im Vulgarrecht mit dem Raub (rapina) vermischt. Regelmäßige Rechtsfolge jeder Sachentziehung wird - neben einer möglichen Kriminalstrafe - das Vierfache (quadruplum). Dagegen trennt Justinian wieder Diebstahl und Raub und lässt den manifesten Diebstahl mit dem Vierfachen, den sonstigen Diebstahl mit dem Doppelten (duplum) ausgleichen. Die übrigen, von den Prätoren neu geschaffenen Tatbestände gehen im Westen überwiegend verloren.
Das Prinzip der Noxalhaftung wird für Hauskinder insofern eingeschränkt, als diese wegen der Auflösung der Hausgewalt unmittelbar selbst in Anspruch genommen werden können. Sklaven können auch an den Richter zur Bestrafung ausgeliefert werden. Nur bei Tierschäden gelten die früheren Regeln (Auslieferung des schadenden Tieres zwecks Freiheit von Leistung) unverändert fort.
Lit.: Kaser, M., Das römische Privatrecht, 2. Abschnitt, 2. A. 1975; Kreuter, N., Römisches Privatrecht im 5. Jahrhundert n. Chr., 1993; Levy, E., West Roman Vulgar Law. The Law of Property, 1951; Levy, E., Weströmisches Vulgarrecht. Das Obligationenrecht, 1956; Voss, W., Recht und Rhetorik in den Kaisergesetzen der Spätantike. Eine Untersuchung zum nachklassischen Kauf- und Übereignungsrecht, 1982
§ 3 Germanen (2. Jt. v. Chr.?-500 n. Chr.)
A) Grundlagen
Die Germanen sind der (etwa gleichzeitig mit den Römern nördlich von ihnen lebende, aber zivilisatorisch deutlich hinter den antiken Hochkulturen des Mittelmeerraums zurückstehende) Teil der Indogermanen, der die gemeinsame Vorform der besonderen germanistischen Sprachen (skandinavisch, gotisch, englisch, friesisch und deutsch), d. h. das Germanische, spricht.
Ihr nicht sicher deutbarer Name ist um 90 v. Chr. bei dem antiken Schriftsteller Poseidonios erstmals bezeugt. Die heutigen Kenntnisse stammen hauptsächlich aus den fremdsprachlichen Berichten lateinischer Autoren (Pytheas von Massilia 340 v. Chr., Caesar † 44 v. Chr. De bello Gallico [Über den gallischen Krieg 58-51 v. Chr.], Strabo † 20 n. Chr., Plinius † 79 n. Chr., Tacitus, 98 n. Chr. De origine et situ Germaniae [Über die Entstehung und Lage Germaniens], Ammianus Marcellinus, 2. H. des 4. Jh., Jordanes 551, Prokop † nach 562, Gregor von Tours 538/539-594). Ihre Glaubwürdigkeit ist umstritten, weil sie teils nie in Germanien waren, teils möglicherweise tendenziös schrieben, üblichen Topoi folgten oder Einzelerscheinungen verallgemeinerten. Ergänzt werden diese literarischen Zeugnisse durch archäologische Funde, die aber nur überliefern können, was dauerhafte Überreste hinterlassen kann und im konkreten Fall auch hinterlassen hat. Außerdem kommt dazu die bescheidene nationalsprachliche Überlieferung (Helm von Negau, 4.-1. Jh. v. Chr., harigasti teiwa, in norditalienischer Schrift, bis 500 mehrere hundert Rufnamen, rund 200-250 der insgesamt ca. 5000 meist nur schwer lesbaren und nicht sicher deutbaren Runeninschriften vom 1. oder 2. Jh. n. Chr. an, teilweise erhaltene Übersetzung der griechischen Bibel ins Gotische durch Wulfila 310-380). Im Übrigen muss auf die wissenschaftliche Rekonstruktion des germanischen Wortschatzes aus den germanistischen Einzelsprachen hauptsächlich des Frühmittelalters (vor allem aus dem Gotischen, Altenglischen, Althochdeutschen, Altsächsischen, Altfriesischen und Altnordischen) zurückgegriffen werden.
I. Politische Verhältnisse
Die Germanen werden am Übergang von der Steinzeit zur Kupferzeit bzw. Bronzezeit (1. H. des 2. Jt. v. Chr., nach anderer Ansicht erst um 500 v. Chr.) in (Südskandinavien und) Norddeutschland sichtbar und lassen sich wohl in mehrere Großgruppen (z. B. Nordgermanen, Ostgermanen und Westgermanen, im Einzelnen str.) und zahlreiche kleine Völkerschaften gliedern. Seit dem (ausgehenden) 1. Jt. v. Chr. dringen sie vielleicht wegen ihrer der Sesshaftigkeit folgenden Bevölkerungsvermehrung, der Klimaverschlechterung und der Landverluste durch die See auf der Suche nach besseren Lebensbedingungen langsam nach Süden vor (Teutonen 102 v. Chr. bei Aix, Kimbern 101 v. Chr. bei Vercellae von den Römern geschlagen). Um Christi Geburt werden unter Verdrängung der Kelten etwa Weichsel, Donau und Rhein erreicht. Nach wechselvollen Kämpfen unter Caesar und Augustus (9 n. Chr. Sieg der Germanen [unter dem Cherusker Arminius] über die Römer bei Kalkriese, sog. Varusschlacht im Teutoburger Wald) gelingt den Römern vorübergehend die Absicherung der Donau-Oberrhein-Grenze durch den ab 84 n. Chr. erbauten, 548 Kilometer langen und 60 Kastelle sowie rund 900 Wachtürme aufweisenden Grenzwall (Limes, bis 260 n. Chr.). Im 4. Jh. werden nach Vorstößen der Markomannen, Chatten, Alemannen, Goten und Franken germanische Völkerschaften als besoldete Verbündete (lat. foederati) in die römischen Grenzgebiete aufgenommen.
Im Jahre 375 beginnt unter dem Ansturm der aus China und Turkistan vertriebenen Hunnen auf die vielleicht aus Gotland stammenden, inzwischen in Südrussland ansässigen Ostgoten die Völkerwanderung. Während dieser lang andauernden Bewegung ziehen die Westgoten vom Schwarzen Meer (376) über Italien nach Südgallien und Spanien, die Wandalen von der Weichsel über Spanien nach Nordafrika (429), die Burgunder von der Oder an den Rhein (Worms) und dann nach Burgund, die Ostgoten nach Italien (488), die Jüten, Angeln und Sachsen von Weser, Elbe und Eider nach Britannien/England (450), die Franken (258) vom Niederrhein nach Gallien (450), die swebischen Alemannen von der Elbe an den oberen Rhein und die Langobarden von der Elbe nach Italien (568). Unter diesem Ansturm der Germanen endet im Jahre 476 mit der Absetzung des Kaisers Romulus Augustu(lu)s durch den Söldnerführer Odawakar das weströmische Reich. Italien, Spanien, Gallien und Britannien sowie die Provinzen Rätien und Norikum im Alpenraum werden danach ebenso von german(ist)ischen Völkern beherrscht wie der Bereich zwischen Skandinavien und dem (einstigen) Limes an Rhein und Donau.
II. Wirtschaft
Die Wirtschaft beruht auf Viehzucht und Ackerbau, wobei anfangs zwischen Acker und Brache laufend gewechselt wird (Zweifelderwirtschaft, wilde Feld-/Graswirtschaft). Trotz Caesars und Tacitus’ Schilderungen dürfte von der Zuweisung der Felder zu dauerhafter besonderer Nutzung auszugehen sein (kein Agrarkommunismus). Jede Wirtschaftseinheit erzeugt Güter im Wesentlichen nur für den eigenen Bedarf (Hauswirtschaft). Trotz der gelegentlichen Hortung fremder, meist römischer Münzen fehlt Geld als solches (Naturalwirtschaft).
Gewerbe entwickelt sich vermutlich erst allmählich (Schmied, Töpfer). Der Handel ist auf den Eintausch weniger seltener Artikel aus der Ferne beschränkt (Glas, Keramik, Metall gegen Felle, Sklaven, Bernstein, Frauenhaar). Bezeichnenderweise sind »Kauf, Kaufmann, kaufen« von lateinisch caupo, dem römischen Schankwirt an der Grenze, abgeleitet.
III. Gesellschaft
Die germanische Bevölkerung lässt sich auf eine Zahl von 1 bis 3 Millionen Menschen schätzen (bei einer vermuteten Zahl der Weltbevölkerung von rund 250 Millionen Menschen zur Zeit von Christi Geburt). Die Siedlung erfolgt in kleinen Dörfern mit fünf bis 15 Höfen, auf denen durchschnittlich 20 bis 30, nach anderer Ansicht etwa 10 Menschen leben, und Häusern bis zu 70 qm Grundfläche oder auch in verstreut liegenden Einzelhöfen. Städte fehlen. Die Existenz befestigter Herrensitze (Burgen) ist streitig und ist jedenfalls örtlich und zeitlich unterschiedlich.
Entsprechend umstritten ist die Gliederung der Gesellschaft. Während nach einer Ansicht von Anfang an ein starker, grundbeherrschender Adel vorhanden ist, steht nach klassischer und nicht durch Zeugnisse widerlegter Lehre die Gruppe der gleichen Freien (Gemeinfreien) im Vordergrund. Unter ihrer Herrschaft befinden sich (vielleicht einige) Unfreie (germ. *thegwaz ® Diener, *skalkaz, Schalk), die zu Freigelassenen (*letaz) aufsteigen können. Die Archäologie sichert jedenfalls (nur) unterschiedlich reiche Grabausstattungen (sog. Fürstengräber).
Die Religion der Germanen kennt zahlreiche Götter (Wodan, Thor, Ziu), die teilweise mit Naturgewalten verbunden und an Hainen, Bergen, Bäumen und Quellen verehrt werden. Der Totenkult weist in verwirrender Fülle von Ort zu Ort wechselnde Formen auf. Üblich scheinen Opfer - und zwar auch Menschenopfer - und Zauber zu sein. Ein geschlossener Priesterstand ist aber zumindest fraglich. Tempel fehlen. Unsicher ist, wie weit eine besondere literarische Kultur (Heldenlieder, Stabreim [in Runentexten nicht vor 400 bezeugt]) zurückreicht und in welchem Umfang besondere sittliche Vorstellungen von Ehre und Treue bestehen.
Seit dem 1. oder 2. Jh. n. Chr. setzt nach südlichem Vorbild die eigene schriftliche Aufzeichnung ein (Runen), der Überlieferung aber bescheiden ist. An der Wende zum 4. Jh. beginnt im Süden bei den Goten die Christianisierung, die in Skandinavien erst im 11. Jh. abgeschlossen wird. Dabei werden anfangs die meisten Völkerschaften Arianer und folgen nur die Franken von Anfang an der von den Römern anerkannten athanasianischen, d. h. katholischen Form des Christentums.
Lit.: Beiträge zum Verständnis der Germania des Tacitus, Teil 1, hg. v. Jankuhn, H. u. a., 1989; C. Julii Caesaris commentarii rerum gestarum, Bd. 1, hg. v. Seel, O., 1961; Eggers, H., Der römische Import im freien Germanien, 1951; Die Germanen, hg. v. Krüger, P., 1976; Germanenprobleme aus heutiger Sicht, hg. v. Beck, H., 1986; Die Germania des Tacitus, erl. v. Much, R., 3. A. 1967; Mildenberger, G., Sozial- und Kulturgeschichte der Germanen, 2. A. 1977; Reichert, H., Lexikon der altgermanischen Personennamen, Bd. 1ff. 1980ff.; Vries, J. de, Altgermanische Religionsgeschichte, 1956; Vries, J. de, Kelten und Germanen, 1960
B) Recht
Im Vergleich zum römischen Recht ist das germanische Recht entsprechend der einfacheren Lebensart erheblich weniger differenziert ausgebildet.
I. Allgemeines
1. Angesichts der Nachrichten über die germanischen Völkerschaften muss von einer Mehrzahl rechtlicher Verhaltensregeln ausgegangen werden. Diese rechtliche Sollensordnung ist vermutlich im Laufe der möglicherweise rund 2500 Jahre währenden germanischen Zeit nicht unverändert geblieben und wohl auch bei den verschiedenen Völkerschaften nicht völlig gleich gewesen. Auf Grund der dürftigen Quellenlage lässt sich diesen Differenzierungen aber in der Regel nicht mehr gerecht werden.
2. Die umfassendsten Berichte stammen von Tacitus, von dem man weiß, dass er als Gegner des römischen Sittenverfalls seinen Landsleuten bewusst ein unverdorbenes, vorbildliches Naturvolk vor Augen führen will. Fragwürdig sind die infolge der schlechten Quellenlage getätigten Rückschlüsse aus den späteren Quellen. Insbesondere zweifelhaft bleibt die früher übliche Übertragung der aus dem mittelalterlichen Norden überlieferten Nachrichten auf die römerzeitlichen Südgermanen.
3. Nach älterer, aber durch die Quellen überhaupt nicht zu belegender Ansicht soll bei den Germanen das Recht deswegen in Kraft sein, weil es alt und gut ist. Es soll von den Menschen nicht geschaffen werden können. Vielmehr soll es immer nur neu und besser wiedergefunden (reformiert, emendiert) werden können.
Diese Ansicht lässt nicht nur unbeachtet, dass schon früh Rechtssetzungsakte durchaus wahrscheinlich sind (Weineinfuhrverbot der Sweben), sondern setzt auch ein für die frühe Zeit zu hohes Maß abstrakter Reflexion voraus. Sicher lässt sich nach den Quellen nur feststellen, dass ein beachtliches Bündel von festen, wohl meist durch Gewohnheit entstandenen Regeln besteht, die aber durch die Germanen selbst nicht schriftlich aufgezeichnet sind. Sie werden in den Quellen weder einem bestimmten germanischen Rechtsgott noch einem einzelnen mythischen Gesetzgeber zugeschrieben.
Lit.: Kroeschell, K., Germanisches Recht als Forschungsproblem, FS Hans Thieme, 1986, 3; Kroeschell, K., Die Sippe im germanischen Recht, ZRG GA 77 (1960), 1
II. Öffentlicher Bereich
1. Verfassung
Die einzelne Völkerschaft (lat. civitas, germ. *theudo, Volk, Stamm), die zumindest anfangs wohl meist ziemlich klein war, behandelt ihre Angelegenheiten in regemäßig periodisch stattfindenden oder in außerordentlichen Volksversammlungen (lat. concilia) an besonderen Kultstätten.
Die Volksversammlung, der alle waffenfähigen Freien angehören, entscheidet über Krieg und Frieden und alle allgemein bedeutsamen Fragen. Dabei wird der Vorschlag eines Einzelnen durch Waffenschlagen angenommen . Durch allgemeines Murren wird er abgelehnt.
Neben der Volksversammlung kann ein König (*kuningaz) stehen.
Dieser wird von der Volksversammlung unter Schilderhebung aus einem mit Königsheil begabten Geschlecht (germ. *kunjam) gewählt. Andere Völkerschaften werden nur von Vornehmen (lat. principes) geleitet und wählen nur für die Heerfahrt einen Heerführer (Herzog, got. *harja-tugaz nach griech. stratelates oder strategos). Möglich sind vielleicht auch mehrere Könige oder Heerführer nebeneinander.
Ob zwischen Volksversammlung und Königen bzw. Vornehmen weitere Organe und Untergliederungen (Tausendschaft, Hunderschaft) vorhanden sind, ist vor allem angesichts der einfachen wirtschaftlichen Verhältnisse ziemlich zweifelhaft. Vielleicht gibt es aber bei einigen Königen oder Vornehmen zumindest vorübergehend eine Gefolgschaft von jungen Kriegern, die gegen Unterhalt, Ausrüstung und Beuteteil Kriegsdienste und Schutzdienste leisten.
2. Verwaltung
Die allgemeinen Aufgaben der Völkerschaft werden von der Volksversammlung oder den Führern der Völkerschaft behandelt und ausgeführt. Im Übrigen kümmert sich jeder um die Angelegenheiten seines Hauses selbst.
3. Verfahren
Streitigkeiten innerhalb einer Familie oder eines Verwandtschaftsverbandes (Sippe) werden dementsprechend jeweils dort beigelegt, wobei meist die körperliche Überlegenheit entschieden haben dürfte. Darüber hinaus steht vermutlich die (private) Selbsthilfe in Form von Blutrache oder Fehde (germ. *faihitho, [rechtmäßige] Feindschaft, Hass, Streit) im Vordergrund. Ein öffentliches Verfahren ist deshalb selten.
Sofern es durchgeführt wird, geschieht dies unter freiem Himmel in der Volksversammlung. Wenn die Allgemeinheit nicht selbst betroffen ist, geht dem Verfahren anfangs vielleicht eine Vereinbarung der Beteiligten voraus, den Streit in der Volksversammlung auszutragen, womöglich kann der Gegner aber auch schon durch Ladung einer Partei zur Einlassung auf das Verfahren gezwungen werden. In der Versammlung selbst trägt vermutlich die eine Seite ihre Anschuldigung vor und fordert zur Beantwortung auf. Der Gegner kann schweigen (Rechtsverweigerung), gestehen oder leugnen. Je nachdem schlägt vielleicht der Versammlungsleiter (König, Vornehmer) oder ein Einzelner aus dem umstehenden Volk (Umstand) ein Urteil vor (Urteilsvorschlag), das die Gesamtheit (Umstand) zum Wirksamwerden billigen muss. Es kann unbedingt sein oder von einer Bedingung (des Beweises einer Behauptung einer Partei durch diese) abhängig gemacht werden (zweizüngiges Urteil, z. B. schwört der Angeschuldigte binnen 14 Nächten mit 12 Eideshelfern[, dass er unschuldig ist,] so soll er frei sein, andernfalls soll er schuldig sein).
Dann ist durch den Angegriffenen der Beweis durch Eid (germ. *aithaz, vielleicht bedingte Selbstverfluchung für den Fall der Unwahrheit) mit oder ohne Eideshelfer (, die beschwören müssen, dass sie den Eid der Partei für wahrhaft [rein] halten,) oder durch Aussagen Dritter (»Zeugen«, got. weitwoths »Gesehenhabender«) zu führen, und zwar oftmals außerhalb der Verfahrensstätte und außerhalb der Versammlungszeit. Die betroffene Partei muss möglicherweise geloben, das Urteil zu erfüllen, falls sie nicht Rechtsverweigerung begehen will. Gegen das vom Umstand geschaffene Urteil gibt es anscheinend keine Rechtsmittel. Lediglich der noch nicht gebilligte Urteilsvorschlag kann möglicherweise mit dem Vorwurf, er sei Unrecht, von jedermann angegriffen werden, worauf es zum Zweikampf zwischen Vorschlagendem und Angreifendem kommt. Sein Ausgang entscheidet über den Bestand des Vorschlags.
Eine allgemeine Vollstreckung gibt es in den nur den Einzelnen betreffenden Angelegenheiten nicht. Falls der Gegner sein Urteilserfüllungsgelöbnis nicht freiwillig erfüllt, muss die Partei Selbsthilfe üben und Vermögensstücke oder Verbandsangehörige des anderen in ihre Gewalt nehmen und dadurch die Erfüllung erzwingen oder erreichen.
Ein Sonderverfahren ist vor allem das Handhaftverfahren. Der in unmittelbarem, augenscheinlichem Zusammenhang mit der Tat und möglichst unter Kundbarmachung (später sog. Gerüfte, zu rufen) Ergriffene kann sich nicht freischwören. Wird er durch den Entdecker getötet, so kann dieser sich im Verfahren gegen den toten Mann vom Vorwurf rechtswidriger Tat befreien.
Ob es ständige besondere Rechtsfinder oder auch Gesetzessprecher gegeben hat, ist fraglich. Jedenfalls ist der dafür als Zeugnis genommene Ausdruck ahd. esago (Rechtsager) nur die wörtliche Nachbildung des bibellateinischen Wortes legislator (Gesetzgeber).
4. Öffentliche Unrechtsfolge
Unrecht wird meist innerhalb der Familie oder des Verwandtschaftsverbandes (Sippe) verfolgt (z. B. Ehebruch) oder gegenüber Dritten durch Rache und Fehde (rechtmäßige Feindschaft) bekämpft. Die Allgemeinheit sieht sich dagegen selbst nur berührt bei Volksverrat und Überlaufen zum Gegner (sowie bei Unsittlichkeit und vielleicht den verheimlichten Formen der Tötung, Brandstiftung und Wegnahme). Nur hier geht sie selbst gegen den Täter vor.
Allerdings kommt es nach umstrittener Ansicht möglicherweise dabei wesentlich auf den Erfolg an, so dass einerseits der bloße Versuch, bei dem ein Erfolg nicht eingetreten ist, folgenlos bleibt und andererseits das Fehlen der Absicht, den eintretenden Erfolg herbeizuführen, grundsätzlich nicht berücksichtigt werden (Erfolgshaftung).
Frauen und Kinder scheinen von dieser Verfolgung gänzlich ausgenommen.
Rechtsfolgen sind vielleicht Friedlosigkeit, Tötung und als Nebenfolge Vermögensverwüstung. Davon soll die Friedlosigkeit, für die germanische Quellenzeugnisse nicht vorliegen, anfangs von selbst, später nur noch nach besonderer verfahrensmäßiger Feststellung eingetreten sein und bewirkt haben, dass der Betroffene folgenlos getötet werden kann (str.), was aber durch Vermögensleistung ablösbar gewesen sein könnte. Die Tötung (Todesstrafe?) hängt in der Form von der Tat ab (Verräter werden nach Tacitus gehängt, Unzüchtige im Moor versenkt).
Lit.: Amira, K., Die germanischen Todesstrafen, 1922; Beyerle, F., Das Entwicklungsproblem im germanischen Rechtsgang, 1915; Munske, E., Der germanische Rechtswortschatz im Bereich der Missetaten, 1973; Wenskus, R., Stammesbildung und Verfassung, 1961; Wilda, W., Das Strafrecht der Germanen, 1842, Neudruck 1960
III. Privater Bereich
1. Person
Vermutlich setzt sich die Völkerschaft aus im wesentlichen rechtlich gleichen Freien (sog. Gemeinfreien) zusammen (str.), von denen sich Große (lat. principes) nur wirtschaftlich-sozial und politisch abheben. Die Freiheit wird grundsätzlich durch Geburt erlangt und durch Kriegsgefangenschaft, Veräußerung und Selbsthingabe (z. B. im Würfelspiel) verloren. Der Fremde ist grundsätzlich rechtlos, kann aber als Gast freundschaftlichen Schutz erlangen.
Der Unfreie ist nicht Person. Nach Tacitus hat er aber eine eigene Behausung und einen selbständigen Wirtschaftsbereich, aus dem er seinem Herrn nur bestimmte Mengen Getreide, Vieh oder Tuch abliefern muss. Unfrei wird man durch Geburt, Gefangenschaft, Veräußerung und Selbsthingabe, frei durch Freilassung. Der Freigelassene ist zwar frei, steht aber doch dem Freien nicht gleich, sondern nach Tacitus nur wenig über dem Unfreien. Seine Stellung vererbt sich. Kinder, Frau und Unfreie stehen unter der Hausgewalt (germ. *mundu-, *munduz, ahd. munt, sprachlich verwandt mit lat. manus, Hand ® Schutz, Schutzgewalt ® Vormundschaft) des Hausvaters (*frauja[n], vgl. Fronhof u. a.), wobei nichteheliche Kinder einer Freien ehelichen Kindern gleichgestellt sind. Die Hausgewalt entsteht bei Kindern mit ihrer Aufnahme nach der Geburt und endet mit der Verselbständigung (Abschichtung, Verheiratung). Bei Frauen beginnt die Hausgewalt des Mannes mit der Heirat, mit der zugleich die Hausgewalt des Vaters endet.
Fehlt der Hausvater, so steht die Hausgewalt über Unmündige dem ältesten männlichen Verwandten des Mündels bis zur Wehrhaftmachung oder Geschlechtsreife zu.
Verwandte (»Magen«, zu *magaz Junger, Verwandter) sind die Blutsverwandten der Vaterseite und Mutterseite, wobei die Vaterseite in einzelnen Belangen einen Vorzug genießt. Die Nähe der Verwandtschaft berechnet sich nach Kreisen um die Hausgemeinschaft, die den Hausvater, seine Eltern, die Kinder und die Geschwister umfasst. Zur ersten Magschaft zählen daher Großeltern, Enkel, Elterngeschwister, Geschwisterkinder, zur zweiten Magschaft Urgroßeltern, Urenkel, Großonkel, Großtanten, Vettern, Basen, Großneffen, Großnichten usw. Ob es neben der Verwandtschaft noch einen Verband der Sippe (germ. *sebjo *sebnan), der sich aus den über Männern verwandten Abkömmlingen eines Stammvaters (Agnaten) zusammengesetzt hat und ein Friedensverband mit kultischer, rechtlicher und politischer Bedeutung (Blutrache, Eideshilfe, Vormundschaft) gewesen ist, gegeben hat, ist fraglich. Wahrscheinlicher ist ein ziemlich differenziertes Bild verwandtschaftlicher Beziehungen mit besonderer Bedeutung des nächsten männlichen Verwandten.
2. Ehe
a) Die Ehe ist grundsätzlich Einehe, obwohl Mehrehe für den Mann möglich ist. Die Ehe entsteht regelmäßig durch Verlobungsvertrag (Vertragsehe) zwischen dem Mann und dem Muntwalt (Vater, Vormund) des Mädchens (germ. *brudiz Neuvermählte) eines fremden Verwandtschaftsverbandes, durch den sich beide Verwandtschaftsverbände verschwägern. Der Bräutigam (*brudi-guman, Brautmann) gibt dann dem Brautvater bzw. den Brautverwandten Gaben und erhält dafür die Gewalt über die Braut. Mit dem Brautlauf (*brudi-hlaupaz) führt er sie in sein Haus.
Daneben ist vermutlich die Entführungsehe möglich, bei welcher der Mann das Mädchen unter ihrer Zustimmung gegen den Willen ihres Verwandtschaftsverbands entführt. Das dadurch ausgelöste Fehderecht kann durch Leistungen des Entführers beseitigt werden, durch die der Mann zugleich die Gewalt über die Entführte erwirbt. Unrecht ist der Raub des Mädchens gegen ihren Willen, doch kann vermutlich auch hier durch Leistungen die Aussöhnung und der Erwerb der Gewalt ermöglicht werden.
Neben der üblichen munt-Ehe und der möglichen muntfreien (Friedel-)Ehe steht das Kebsverhältnis, das von vornherein nicht auf die Begründung einer Ehe gerichtet ist.
b) Ehehindernisse bestehen wohl nur zwischen den engsten Verwandten und vielleicht im Verhältnis zu Unfreien.
c) Die Ehe endet mit dem Tod eines Ehegatten, der einverständlichen Auflösung oder der einseitigen Scheidung durch den Mann, bei der dieser aber mit der Fehde von seiten des anderen Verwandtschaftsverbandes rechnen muss, wenn kein rechtfertigender Grund (z. B. Ehebruch, Unfruchtbarkeit) vorliegt.
d) Wichtigste Folge der Ehe ist der Erwerb der Gewalt über die Frau, die eine gewisse Verfügungsgewalt verleiht (u. a. Verstoßungsrecht bei Ehebruch). Sofern die Frau Gut (Aussteuer, Unterhaltssicherung) einbringt, wird es wohl vom Mann verwaltet.
3. Erbe
a) Das einem Hausvater (während seines Lebens als Verwalter für die Familie oder den Verwandtschaftsverband) besonders zustehende Gut geht mit seinem Tod auf seine Kinder über. Grund und Boden fällt vielleicht nur an die Söhne. Mehreren gehört es bis zu einer Aufteilung gemeinschaftlich.
Fehlen Kinder, so gelangt, da der Vater des Verstorbenen meist vorverstorben ist, das Gut als Erbe (vgl. idg. *orbho-, lat. orphanus Verwaistes, germ. *arbjan, Erbe) an Brüder, sonst Onkel usw. Stirbt die Frau, so fällt das von ihr möglicherweise mitgebrachte wie das ihr gegebenenfalls vom Mann zugewandte Gut an die Kinder, bei deren Fehlen aber an den (ursprünglich) Berechtigten ihrer väterlichen Familie zurück.
b) Vielleicht gibt es für einzelne Güter eine Sondererbfolge. Nach Tacitus werden nämlich bei Bestattungen den Männern Pferd und Waffen mitgegeben. Möglicherweise hat sich hieraus das spätere Hergewäte (Heerbekleidung), das der nächste männliche Verwandte allein erhält, entwickelt (str.). Auch Frauen erhalten aber besondere Grabbeigaben.
c) Ein Testament gibt es nicht. Seine Stelle vertritt eine besondere Art von Annahme an Kindes Statt.
4. Sachen
a) Inwiefern Sachen einzelnen Personen besonders zugeordnet sind, ist streitig und hängt insbesondere von der Stellungnahme in den Fragen der Agrarverfassung und Sozialverfassung ab. Wahrscheinlich gehört jedem Hausvater bzw. jeder Familie das Haus mit einem gewissen Umland. Darüber hinaus scheinen jedenfalls später auch die jeweiligen Ackerflächen und Brachflächen eindeutig und fest besonders zugeordnet, während das sonstige, zur Genüge vorhandene Land allen Nachbarn zur gemeinsamen unabgegrenzten Nutzung zur Verfügung steht.
Legt man eine besondere Zuordnung von Haus und Feld zugrunde, so stellt sich die Frage nach den Befugnissen des jeweiligen Hausvaters. Sicher ist hierzu das schlichte Haben und Nutzen zu zählen und damit wohl auch das Abwehren einer Störung. Nach herrschender Ansicht bedarf eine Veräußerung der Zustimmung der künftigen Erben oder sogar der Siedlungsgenossen, obgleich der Hausvater im Würfelspiel allein alles (und damit wohl doch Haus und Hof) verlieren kann. Sichere Nachweise solcher einschränkender Mitwirkungsrechte, die im Übrigen auch im spätantiken hellenistischen Recht auftreten, finden sich jedoch erst in fränkischer Zeit, in der die Begegnung mit der Spätantike und der christlichen Kirche bereits zu früher wohl unbekannter Häufigkeit von Güterübertragungen geführt haben.
Bezeichnet wird die Zuordnung wohl nur als germ. *haben (»haben«), *aigan (»haben«). Üblicherweise wird die Stellung anfangs vermutlich durch ursprünglichen Erwerb (Aneignung) erlangt und durch Aufgabe (Dereliktion) verloren.
b) Nach der herrschenden Meinung ist weiter die Gewere ein Grundbegriff des germanischen Sachenrechts. Dabei wird diese Gewere (»Bekleidung«) regelmäßig als das Kleid (oder die sichtbare Rechtsform) des Sachenrechts („Eigentum“) beschrieben, das allein dem Träger des Sachenrechts (»Eigentümer«) den Grund für die Verteidigung gegen Angriffe und für die Rückforderung bei Entzug geliefert habe. Dementsprechend seien germanische Sachen nicht durch Übertragung des Sachenrechts selbst, sondern nur der Gewere als seines Kleides übertragen worden. Für diese recht komplizierte und abstrakte Betrachtungsweise enthalten die germanischen Quellen jedoch keinerlei Anhaltspunkte.
c) Zur Sicherung von Leistungen gibt es vermutlich ein Pfandrecht. Dabei erhält der Sicherungsnehmer eine Sache bis zur Leistung. Wird nicht geleistet, verbleibt sie bei ihm.
5. Schulden
a) Bei Unrechtserfolgen, die nicht die Allgemeinheit betreffen (wie z. B. Tötung, Körperverletzung, Raub, Diebstahl) hat der Verletzte mit seinem Verwandtschaftsverband ein Recht zu Rache (germ. *wreko, Verfolgung, Rache) und Fehde. Statt dessen können Leistungen in zu vereinbarender Höhe erbracht werden. Nach Tacitus ist dabei ein Ausgleich (lat. poena, Lösegeld) in Pferden und Rindern zu entrichten, und zwar teilweise an den König bzw. die Völkerschaft, teilweise an den Verletzten bzw. seine Verwandten.
b) Daneben dürften auch sonst grundsätzlich Leistungspflichten begründbar sein. Dies kann vielleicht durch Realvertrag, bei dem die Hingabe und Empfangnahme eines Gegenstands zu einer Leistung verpflichtet, geschehen oder durch Formalvertrag, bei dem ein Versprechen im Gewand einer besonderen Form (Schwur, Stabübergabe) abgegeben wird.
Soweit ein Tausch oder eine Gabe stattfinden, werden sie als sachenrechtliche Handgeschäfte abgewickelt.
c) Leistet jemand trotz Leistungspflicht nicht, so begeht er Rechtsverweigerung und sieht sich der Fehde (oder der Friedlosigkeit?) gegenüber. Diese kann er außer durch Leistung dadurch abwenden, dass er eine Sache als Pfand (ahd. *pfant -?, aus lat. pannus?) oder einen Menschen als Geisel (germ. *gisalaz, Geisel, Spross, Sprössling, aus dem Keltischen?, personales Faustpfand) gibt oder einen Bürgen für sich findet.
Lit.: Brunner, H., Deutsche Rechtsgeschichte, Bd. 1 2. A. 1906, Neudruck 1958; Joswig, D., Die germanische Grundstücksübertragung, 1984; Wiebrock, I., Die Sippe bei den Germanen der Frühzeit, 1979 (Diss.)
Zweiter Teil: Das fränkisch-deutsche Reich (5./6. Jh.-1806)
§ 4 Frühmittelalter (5./6. Jh.-10./11. Jh.)
Das fränkisch-deutsche Reich währt von der dem Untergang des weströmischen Reiches (476 n. Chr.) fast unmittelbar folgenden Zusammenfassung der Franken durch König Chlodwig bis zur Niederlegung der Krone des Heiligen Römischen Reiches durch den aus dem Geschlecht der Habsburger stammenden Kaiser Franz II. im Jahr 1806. Es umfasst damit das gesamte (frühe, hohe und späte) Mittelalter und die frühe Neuzeit. Als frühes Mittelalter oder Frühmittelalter lässt sich dabei die Zeit (des Mittelalters) zwischen dem Untergang des weströmischen Reiches infolge der Eroberung durch von den Germanen abstammende Einzelvölker (476) und dem Ende der ostfränkischen und westfränkischen Karolinger (911 bzw. 987) bzw. dem Investiturstreit zwischen deutschem Kaiser und römischem Papst bezeichnen (1075/1122).
A) Grundlagen
Gegenüber der germanischen Zeit nimmt infolge der verstärkten Sesshaftigkeit und der dadurch verbesserten Versorgung der Menschen die Bevölkerung zu. Ihre Zahl lässt sich für das deutsche Sprachgebiet im Frühmittelalter auf vielleicht 3 bis 4 Millionen schätzen (bei einer bis zum Jahre 900 auf rund 222 Millionen verminderten Weltbevölkerung). Dabei kann nach archäologischen Erkenntnissen von einer durchschnittlichen Zahl von 4,2 Geburten je Frau ausgegangen werden, der freilich eine hohe Kindersterblichkeit gegenübersteht.
I. Politische Verhältnisse
In der Vielzahl der einzelnen germanischen Völkerschaften werden im 3. Jh. n. Chr. (258) erstmals die Franken sichtbar. Vom Unterlauf des Rheins (Niederrhein) aus dringen sie im 5. Jh. in das südlich gelegene, römische Gallien (später Frankreich) ein. Unter ihrem sie gewaltsam einenden (salfränkischen) König Chlodwig ([*um 466,] König 481-511) aus dem Geschlecht der Merowinger besiegen sie den römischen Statthalter in Nordgallien (486), die am oberen Rhein und an der oberen Donau (Zürich, Basel, Augsburg, Rottweil) sitzenden Alemannen (498/499?) und die in Südgallien herrschenden Westgoten (507). Danach bringen sie die Thüringer (531), Burgunder (532/4, um Genf) und die im 6. Jh. im Voralpengebiet erscheinenden, in ihrer Entstehung unklaren, vermutlich aus Boiern und Romanen erwachsenen Bayern (um 550) in eine gewisse, in der Folge nicht immer gleich bleibende Abhängigkeit. In die von den Germanen geräumten östlichen Gebieten zwischen Ostsee und Schwarzem Meer dringen vor allem aus dem Osten und Norden vorstoßende Slawen ein.
Das in manchen Zügen an das Vorbild der römischen Herrscher anschließende fränkische Geschlecht der Merowinger schwächt sich nach Chlodwig durch viele Bruderkämpfe und Zugeständnisse an die mächtigeren ihrer Anhänger. Dies nutzen die zunächst im Osten des Herrschaftsgebiets (Austrasien) für den König wirkenden Hausmeier (maior domus) aus dem Geschlecht der Arnulfinger oder Pippiniden, unter deren Führung 732 bei Tours und Poitiers der Ansturm der seit 622 zum Islam des Propheten Mohammed übergetretenen, über Nordafrika 711 nach Spanien gelangten Araber in Südfrankreich abgewehrt wird, dazu, die Merowingerkönige im Einverständnis mit dem durch eine große Gabe (Pippinische Schenkung) italienischer Güter belohnten Papst abzusetzen (751). Ihre damit an die Macht gelangte, danach die Einrichtung der Hausmeier abschaffende Familie (Karolinger) gliedert unter Karl dem Großen (742-814, Karl I.), der an Weihnachten des Jahres 800 von Papst Leo III. zum römischen (weströmischen) Kaiser (imperator Romanorum) gekrönt wird, dem fränkischen Reich die Gebiete der Langobarden (773/774, Oberitalien und Mittelitalien), der inzwischen weit nach Osten (z. B. Wien) vorgedrungenen Bayern (788) und der Sachsen (772-804) im Norden erstmals bzw. erneut ein. Unter seinen Nachfolgern wird das Reich mehrfach geteilt (843 Dreiteilung in Westreich Karls II. = Karls des Kahlen, [in der Mitte gelegenes] Lotharingien Lothars I. und [deutschsprachiges] Ostreich Ludwigs des Deutschen), woraus sich seit 887 (Absetzung Karls III. = Karls des Dicken, des die Reichsteile letztmals zusammenfassenden Sohnes Ludwigs des Deutschen) endgültig eine Zweiteilung (ostfränkisch mit Elsass, Lothringen und den späteren Niederlanden, westfränkisch ® Frankreich] entwickelt, während sich Oberitalien zeitweise verselbständigt. Gleichzeitig bedrohen auswärtige Völker (Ungarn im Südosten, Normannen im Nordwesten) und erstarkende örtliche Gewalten im Inneren die Herrschaft. 911 sterben die Karolinger im Ostreich aus.
Spätestens mit der anschließenden Wahl Konrads I. von Franken (911) und danach Heinrichs I. von Sachsen (919, erster Herrscher aus dem Geschlecht der Ottonen) zum König des ostfränkischen Reiches beginnt aus dem umfassenden fränkischen Reich das kleinere deutsche Reich (deutsch zu ahd. diotisk, völkisch, das Volk betreffend) der bündnisartig verbundenen Franken (einschließlich der Lotharingier), Sachsen, (Thüringer,) Bayern und Alemannen (sowie Friesen) zu werden, das sich vor allem unter dem aus Sachsen stammenden König Otto I. infolge der erfolgreichen Unterdrückung der örtlichen Gewalten, des Sieges über die Ungarn (Lechfeld 955) und der Wiedergewinnung Oberitaliens rasch festigt. Otto I. wird 962 in Rom zum (römischen) Kaiser gekrönt, wodurch das (römische) Kaisertum mit dem ostfränkischen Reich verbunden wird. Sein Sohn Otto II. stellt durch die Heirat der byzantinischen Prinzessin Theophanu die Verbindung zum oströmischen Kaisertum her.
Im Südosten gelangt innerhalb des Herzogtums der Bayern im Jahre 976 die vor allem gegen die Ungarn gebildete bayerisch-fränkische Mark an der Donau (Grenzgebiet, Markgrafschaft) an das Geschlecht der Babenberger (wohl »Bamberger«?). In der 955 errichteten karantanischen Mark (des Herzogtums Kärnten) (Steiermark) wird die Familie der Traungauer führend, während der Kernbereich des slawischen Stammesherzogtums Karantanien 976 Herzogtum (Kärnten) wird. 996 erscheint für ein kleines Gebiet an der Donau erstmals die Bezeichnung Ostarrihhi (»Ostland«, lat. Austria) in einer vom König dem Bischof von Freising ausgestellten, Neuhofen an der Ybbs betreffenden Urkunde.
Das den sächsischen Herrschern (919-1024) folgende fränkische Geschlecht der Salier (1024-1125) erreicht dazu auf Grund Erbrechts die Angliederung des im Westen zwischen Deutschland und Frankreich mittlerweile entstandenen Königreichs Burgund (1032). Der früh verstorbene Salier Heinrich III. († 1056) vermag sogar den Papst abzusetzen. Nach seinem frühen Tod kommt es aber unter seinem jung König gewordenen Sohn Heinrich IV. nicht nur zu langwierigen inneren Kämpfen um die Macht, sondern auch zum Streit mit der Kirche. Diese folgt inzwischen entstandenen Reformvorstellungen (Cluny, Gorze, 1059 Papstwahldekret) und fordert, gestützt auf die im 8./9. Jh. hergestellte Fälschung einer angeblichen Schenkung des weströmischen Reiches an den Papst durch Kaiser Konstantin, unter Papst Gregor VII. (1073-1085) die Unterordnung der weltlichen Gewalt unter die geistliche Gewalt und die Freiheit der Kirche (libertas ecclesiae) vom weltlichen Einfluss, vor allem von der Bekleidung (Investitur) von Laien mit kirchlichen Ämtern (Investiturstreit, 1077 Gang König Heinrichs IV. nach Canossa/Oberitalien), die seit König bzw. Kaiser Otto I. zur Beseitigung der mit den dynastischen Interessen weltlicher Großer einerseits und der Immunität kirchlicher Güter andererseits verbundenen Schwächungstendenzen königlicher Gewalt (ottonische Reichskirchenpolitik) verstärkt zur Übung gelangt war. Etwa gleichzeitig wird um die Jahrtausendwende die Vorstellung von einem deutschen Reich (919 regnum Teutonicorum, regnum Teutonicum) im Gegensatz zum vorangehenden fränkischen Reich bewusst ausgesprochen.
II. Wirtschaft
1. Im Zuge der Völkerwanderung gewinnen die germanischen Völkerschaften, insbesondere die Franken, umfangreiche Gebiete bebauten Bodens. Wenn auch die römischen Grundherren nicht vollständig von ihrem Land getrennt werden, so treten die Eroberer doch zu einem wesentlichen Teil (je nach eroberndem Volk ein Drittel, die Hälfte oder zwei Drittel der Güter) an ihre Stelle. Zugute kommt der Gewinn unmittelbar dem König, mittelbar den Großen und der christlichen Kirche. Die Güter werden weiter fast ausschließlich landwirtschaftlich genutzt.
Eine Änderung tritt insofern ein, als auf Grund des Landzuwachses und des unmittelbar erlebten römischen Vorbilds die Grundherrschaft, die möglicherweise vereinzelt ansatzweise bereits bei den Germanen bestanden hat, wohl schon unmittelbar nach der Landnahme als Wirtschaftsform zur allgemeinen Verbreitung gelangt.
Bei ihr steht ein Fronhhof (Herrenhof, Salhof, lat. curtis salica) eines Grundherrn (z. B. König, Bischof, Abt, Graf) mit reichem umliegendem Land, das (vom Grundherrn selbst oder) durch Verwalter (Meier, zu lat. maior, der Größere) mit Unfreien bewirtschaftet wird, im Mittelpunkt. Teils geschlossen in der Nähe, teils in weitem Umkreis verstreut, liegen abhängige, von durchschnittlich 3 bis 4 Menschen bewohnte Höfe, von denen aus Zinsen und Dienste an den Grundherrn zu erbringen sind. Wirtschaftlich strebt die gesamte Einheit, die mehrere tausend weit auseinanderliegende Höfe umfassen kann, Selbstversorgung (Autarkie), rechtlich Aussonderung aus der allgemeinen Verwaltung (Immunität) an. Agrartechnisch vollzieht vermutlich sie den Übergang von der einfachen Zweifelderwirtschaft (Nutzung, Brache) zur ertragreicheren und damit die Ernährung einer größeren Bevölkerung sichernden Dreifelderwirtschaft (zwei Jahre Nutzung, ein Jahr Brache, dadurch Steigerung der Nutzung von der Hälfte auf zwei Drittel).
Trotz der Grundherrschaft besteht weiter Naturalwirtschaft, mag auch als Rechnungseinheit das Geld (lat. denarius [Pfennig] = ein Zwanzigstel solidus [Schilling] = ein Zweihundertvierzigstel Pfund [ca. 400 gr. Silber], wobei in karolingischer Zeit nur der königliche Silberdenar auch wirklich in bescheidenem Ausmaß geprägt wird,) stärker Verwendung finden. Auch der Grundsatz der Hauswirtschaft wird, obwohl die davon betroffene Einheit (Haus) sich mit der Grundherrschaft (als viele einzelne Häuser zusammenfassendes übergeordnetes Haus) teils wohl erheblich erweitert, weiterhin befolgt.
2. In der Grundherrschaft des zumindest über die Bibel die höher entwickelten Verhältnisse vieler alter Völker (z. B. Römer, Griechen, Juden, Assyrer, Ägypter) kennenden Grundherrn tritt allerdings auf der Suche nach günstigeren Lebensbedingungen eine stärkere Arbeitsdifferenzierung ein.
Einzelne handwerkliche Sondertätigkeiten (Schmied, Töpfer, Zimmermann, Weber) verselbständigen sich. Dadurch verstärken sich die Ansatzpunkte des Gewerbes. Dieses tritt als Erwerbsgrundlage neben die Landwirtschaft.
3. Der Handel, der durch das Vordringen der Araber die Verbindung mit dem Orient verliert, erfolgt anfangs noch durch reisende Fremde (Syrer, Juden, Griechen, jedoch auch Friesen). Schon in fränkischer Zeit entstehen aber immer mehr Märkte (Lehnwort aus lat. mercatum) als feste Handelsplätze. An ihnen ist der bewusste und gewollte Austausch von Waren wohl allmählich auch gegen Geld möglich.
Da sich hiermit Einnahmen erzielen lassen, fördern König und andere Grundherren allgemein die Tätigkeit auf dem Markt (Marktprivilegien, Kaufleuteprivilegien, deren Erteilung der König im 9. Jh. als ausschließliches königliches Recht [Marktregal] beansprucht).
III. Gesellschaft
1. Innerhalb der Gesellschaft sehen zumindest die Rechtsquellen die Freien (lat. ingenui, liberi) als die wichtigste Bevölkerungsschicht an. Inwieweit diese Freien ganz oder teilweise unfrei sind (Königsfreie, Herzogsfreie, Adelsfreie), ist umstritten (bejaht von der Lehre von den Königsfreien). Jedenfalls lässt sich aus den Quellen nicht nachweisen, dass die Mehrzahl der Freien unfrei ist, mögen auch viele Freie allmählich in unterschiedliche Abhängigkeiten geraten sein.
Unter den Freien stehen Unfreie (ahd. skalk, lat. servus, mancipium), deren Stellung insgesamt wohl nicht als ungünstig bewertet werden kann. Aus ihnen werden durch Freilassung Freigelassene (Liten, lat. liberti, liti).
Ein auch rechtlich abgesonderter Adel (lat. nobiles) wird erst in karolingischer Zeit sichtbar. Er stützt sich zum überwiegenden Teil auf seine Ländereien. Andererseits entsteht Adel auch durch Königsdienst oder Herrendienst (sog. Dienstmannen).
2. Städte im Rechtssinn gibt es, obwohl in den befestigten Römersiedlungen an Rhein und Donau (z. B. Vindobona/Wien, Carnuntum, Laureacum/Enns, Ovilava/Wels, Aguntum (bei Lienz), Virunum (Zollfeld), Teurnia (St. Peter im Holz), Juvavum/Salzburg, Brigantion/Bregenz, Regensburg, Augsburg, Straßburg, Worms, Mainz, Trier, Köln) die Siedlungskontinuität nicht abreißt, nicht. Vielmehr werden nach der Eroberung innerhalb der alten Gemäuer zunächst ebenso Ackerbau und Viehzucht betrieben wie anderswo. Es lässt sich auch nicht nachweisen, dass in bestimmten als wik (lat. vicus) bezeichneten Orten stets und zugleich nur Kaufleute gesessen hätten, vielmehr ist wik synonym mit dorf und lat. vicus synonym mit lat. villa.
3. Im Laufe des Frühmittelalters treten dann aber doch Veränderungen ein.
So kommt es zunächst vielleicht infolge der schon seit den Eroberungen verschieden großen Güter und der ständigen kriegerischen Auseinandersetzungen dazu, dass ein Teil der Freien in grundherrschaftliche Abhängigkeit gerät oder sich freiwillig in diese begibt, so dass die Bezeichnung frei (lat. liber) seltener wird. Zugleich führt der Herrendienst zum sozialen Aufstieg von Unfreien (lat. servientes, ministeriales, Ministeriale) zum (niederen) Adel. Dadurch verliert die Freiheit als Unterscheidungsmerkmal an Bedeutung.
Umgekehrt werden im 11. Jh. auch erste Ansätze einer völlig neuen berufsständischen Gliederung der Gesellschaft sichtbar, die ihre Ausgangspunkte davon nimmt, dass das ständige Wohnen in einer burg, wie die befestigte Siedlung (auch bei Überwiegen der gewerblich tätigen Bevölkerung) bezeichnet wird, und der kriegerische Reiterdienst bestimmte Gruppen (Bürger [Burgbewohner d. h. Stadtbewohner], Ritter [Reiter]) aus der Allgemeinheit herausheben und folgerichtig den verbleibenden Rest der übrigen Bewohner (buren) zu einem hiervon gesonderten Berufsstand (der »Bauern«) werden lässt.
IV. Geistesleben
Unter der Führung der christlichen Kirche lateinischer Prägung werden die frühmittelalterlichen Reiche von spätantikem Kulturgut durchdrungen. Unter Karl dem Großen kommt es zu einer ersten sog. karolingischen Renaissance. An den Hof werden bedeutende Gelehrte (Paulus Diaconus, Alkuin, Einhard) berufen, welche die freien Künste (lat. artes liberales) wiederbeleben sollen. In der Folge wird in zahlreichen Klosterschulen nach dem Vorbild der königlichen Palastschule das christliche (wie weltliche) Gedankengut der Antike aufgenommen und weitergegeben. Um 1000 ist dabei dann auch im Rahmen der artes liberales (freien Künste) an einzelnen Orten der Anschluss an die antike Rechtstheorie und ihre Unterscheidung von natürlichem Recht und vom Menschen geschaffenem Recht (lat. ius naturale bzw. ius gentium, ahd. diotreht, lat. ius civile, ahd. burgreht, „römisches Recht für Römer“) erreicht (Notker von Sankt Gallen), wenn auch noch kein eigentlicher Rechtsunterricht erteilt wird.
Allerdings beschränkt sich schon die Kunst des Schreibens und Lesens im Wesentlichen auf die Geistlichen und damit auf eine zahlenmäßig sehr kleine Gruppe. Sie fassen ihr Schriftgut fast ausschließlich in Latein ab. Daneben sind nur einige Übersetzungen spätantiker Werke in das Althochdeutsche oder Altniederdeutsche (Altsächsische, Altniederfränkische) überliefert. Zentren der Schreibtätigkeit sind Sankt Gallen (um 612), die Reichenau (724) (mit vielleicht 400 Büchern), Lorsch (764) (mit schätzungsweise 375 Büchern), Murbach (728), Freising, Regensburg (Sankt Emmeram mit möglicherweise 500 Büchern), Würzburg, Weißenburg (631/632), Trier, Mainz, Fulda, Essen (873), Werden (800), oder Corvey (822).
Die Aufnahme des griechisch-lateinisch-biblischen Wissens schlägt sich auch in Kunst und Technik (z. B. karolingische Baukunst) nieder.
Lit.: Adam, H., Das Zollwesen im fränkischen Reich, 1996; Althoff, G., Die Ottonen, 2000; Bosl, K., Frühformen der Gesellschaft im mittelalterlichen Europa, 1964; Classen, P., Fortleben und Wandel spätrömischen Urkundenwesens im frühen Mittelalter, Vorträge und Forschungen 23 1977, 13; Dopsch, A., Wirtschaftliche und soziale Grundlagen der europäischen Kulturentwicklung, 2. A. 1923f.; Ewig, E., Die fränkischen Teilungen und Teilreiche (511-613), 1952; Fehr, H., Zur Lehre vom mittelalterlichen Freiheitsbegriff, MIÖG 47 (1933), 290; Geuenich, D., Geschichte der Alemannen, 2. A. 2004; Kaiser, R., Die Burgunder, 2004; Köbler, G., Zur Lehre von den Ständen in fränkischer Zeit, ZRG 89 (1972), 171; Strukturen der Grundherrschaft im frühen Mittelalter, hg. v. Rösener, W., 1989; Wenskus, R., Stammesbildung und Verfassung, 1961
B) Recht
Das Recht wird nunmehr in einer Vielzahl einheimischer, aber noch lateinischer Rechtsquellen überliefert, innerhalb deren als Fortwirkung des Lebens und Wanderns in Völkern das Recht des einzelnen Volkes oder Stammes (Volksrecht) im Mittelpunkt steht.
I. Allgemeines
1. Das Recht innerhalb des fränkisch-deutschen Reiches ist nicht allgemein einheitlich, sondern vor allem nach personalen Gruppen verschieden und aus unterschiedlichen Quellen erwachsen .
Es ist - anders als schon im Frühmittelalter in England und im Hochmittelalter in Skandinavien - nur in lateinischer Sprache überliefert, so dass die hinter den Quellen stehende, im nationalsprachlichen Medium verlaufene Wirklichkeit erst mit Hilfe von lateinisch-altdeutschen Übersetzungsgleichungen angemessen erschlossen werden kann. Dass die durch die Geistlichkeit erfolgende Überlieferung die adelig-bäuerlichen Verhältnisse grundlegend falsch widerspiegelt, ist trotz gelegentlicher Behauptungen bisher nicht nachgewiesen. Andererseits dürfte auch das Recht durch sie als kulturtragende, an spätantikem Bibellatein und spätantik-christlicher Tradition orientierte Schicht beeinflusst worden sein, so dass eine erste Aufnahme römischen und auch kirchlichen Rechts in seiner vulgaren Form bzw. spätantiken Gedanklichkeit erfolgt.
2. Rechtserkenntnisquellen sind hauptsächlich Volksrecht, Kapitular und Urkunde.
a) Ganz im Vordergrund steht die in Parallele zur spätantike Kompilationstätigkeit (Codex Gregorianus, Codex Hermogenianus, Codex Theodosianus, Pandekten, Codex und Institutionen Kaiser Justinians, Rechtssammlungen der Kirche) verlaufende Aufzeichnung der allgemeinen Regeln, insbesondere der Rechte der einzelnen Völkerschaften (lat. lex, ahd. ewa, wizzod, Volksrecht, Stammesrecht), die vermutlich überwiegend ungesetztes, teilweise aber eindeutig auch gesetztes Recht erfasst.
Bei den Westgoten entsteht um 475/476 unter König Eurich (str.) der Codex Euricianus (CE, eurizianisches Gesetzbuch).
Ihm gehen vielleicht ältere Einzelgesetze voraus. Er ist formal wie inhaltlich vom römischen Recht beeinflusst. Er ist als Palimpsest (nach Abschaben älterer Schrift überschriebenes Pergament) fragmentarisch erhalten. Er wird nach der Abwanderung der Westgoten nach Spanien durch König Leovigild (568-86), König Rekkesvind (654) und König Ervig (681) überarbeitet und erweitert (Lex Visigothorum, Recht der Westgoten [für Römer und Goten]).
Bei den Burgundern erlässt König Gundobad um 500 einen liber constitutionum (Buch der Konstitutionen), der die Grundlage der erhaltenen Lex Gundobada bildet (Lex Burgundionum, Recht der Burgunder).
Bei den Ostgoten soll vermutlich das Edictum Theoderici (um 500, Edikt Theoderichs) außer für die Römer auch für die Goten gelten, während bei Burgundern wie Westgoten neben den Sammlungen des Rechts für das betreffende Volk eigene Aufzeichnungen für die im jeweiligen Reich ansässigen Römer durchgeführt werden (Lex Romana Burgundionum, Lex Romana Visigothorum).
Bei den Franken entsteht in Nordgallien für den Teilstamm der salischen Franken (Salfranken) eine älteste, 65 Titel umfassende Rechtsaufzeichnung (sog. Pactus Legis Salicae, Übereinkunft des salfränkischen Rechts) wenigstens im Kern vielleicht zwischen 507 und 511.
Sie enthält eine Reihe von volkssprachigen, aber nur teilweise noch verständlichen Wörtern (sog. malbergische Glossen von [lat.] in mallobergo, auf dem Verhandlungsberg) und wird bis 800 mehrfach überarbeitet und ergänzt (älteste überlieferte Handschrift von 751-768), so dass eine ganze Reihe weiterer Textfassungen entsteht.
Die Angelsachsen zeichnen unter verschiedenen Königen seit etwa 600 Recht in altenglischer Sprache auf.
Bei den Ribvariern (fränkischer Teilstamm) dürften seit dem 7. Jh. Vorformen der pippinischen (763/764) und karolingischen Fassung der Lex Ribvaria (ripuarisches Recht) entstanden sein.
Die Alemannen schreiben um 600 einen Pactus Alamannorum (Übereinkunft der Alemannen) und zwischen 712 und 725 die Lex Alamannorum (Recht der Alemannen) nieder.
Bei den Langobarden wird 643 auf einem Hoftag unter königlicher Führung der Edictus Rothari (Edikt Rotharis) verfasst, dem zahlreiche Novellen folgen.
Für die Bayern wird vielleicht um 743 die Lex Baiwariorum (Recht der Bayern) aufgezeichnet, die auffälligerweise enge Verwandtschaft zum Codex Euricianus und zur Lex Alamannorum aufweist.
Die letzten nur in wenigen Handschriften überlieferten Volksrechte der Sachsen (Lex Saxonum), Thüringer (Lex Angliorum et Werinorum hoc est Thuringorum), fränkischen Chamaven (Ewa Chamavorum, ahd. ewa entspricht lat. lex) und Friesen (Lex Frisionum) entstehen auf Veranlassung Karls des Großen auf dem Reichstag von Aachen (802/803).
Im Südwesten wird am Ende des 8. Jh. (vor 765?) noch die Lex Romana Curiensis (römisches Recht Churrätiens) aufgezeichnet, um 800 die sog. capitula Remedii (Kapitel des Remedius).
Außerdem wird auch das auf Synoden stetig fortgebildete Kirchenrecht in neuen Sammlungen erfasst (600 Vetus Gallica, 633 spanische Hispana, 774 von Papst Hadrian an Karl den Großen übermittelte Dionysio-Hadriana, 850 »Benedictus Levita«, 906 libri duo de causis synodalibus, zwei Bücher Synodalsachen des Regino von Prüm, 1007-1022 decretum Bischof Burchards von Worms, Bußbücher nach irisch-keltischen und angelsächsischen Vorbildern des 6. und 7. Jh.). Im Übrigen gilt für die Kirche der lateinische Satz: ecclesia vivit lege Romana, die Kirche lebt nach römischem Recht. Die römischrechtlichen Äußerungen, die zu einer einzelnen Frage vorhanden sind, weisen aber manchmal verwirrende Vielfalt und auffällige Uneinheitlichkeit auf.
b) Neben die Volksrechte treten die (kürzeren) Kapitularien (von etwa 500 bis 900, zu lat. capitula, Kapitel).
Sie setzt der Herrscher oft mit Zustimmung der Großen und des Volkes, meist für das ganze Reich. Sie behandeln die verschiedensten Gegenstände. Sie richten sich auch an unterschiedliche Empfänger.
c) Daneben überliefern Urkunden (lat. charta, notitia, ahd. buoh, brief) die Rechtswirklichkeit (Rechtserkenntnisquellen).
Die Zahl der merowingischen Urkunden beträgt etwa 700, die der karolingischen Urkunden etwa 10000, die der nachkarolingischen Urkunden des Frühmittelalters vielleicht gut 3000. Zwischen 900 und 1100 sind fast nur Königsurkunden überliefert. Die Königsurkunde ist im Gegensatz zur Privaturkunde unangreifbar. Meist geht es in den Urkunden inhaltlich um Grundstücksgeschäfte. Vielfach werden die einzelnen Urkunden formal zu Kopialbüchern (durch Abschreiben entstehende Bücher) oder Traditionsbüchern (Bücher über die Gaben) vereinigt oder in Urbare (Güterverzeichnisse) umgeformt.
Gegliedert ist jede Urkunde grundsätzlich in Protokoll (Invokation und Eingangsdatierung), Kontext (Arenga, Dispositio, Confirmatio und bzw. oder Pönformel) und Eschatokoll (Actum, Schlussdatierung, Ausstellerunterschrift und Zeugenunterschriften, Schreiberformel).
Den etwa 4000 frühmittelalterlichen Königsurkunden stehen etwa 10000 durchweg kirchliche Privaturkunden gegenüber.
Urkundenmuster enthalten die zahlreichen Formularsammlungen des 6.-9. Jh.
d) Eine juristische Literatur fehlt noch. Immerhin entstehen in karolingischer Zeit einige verfassungspolitische Traktate. Gewisse interessante Aufschlüsse liefert die Bearbeitung antiker Rhetorik durch Notker von Sankt Gallen († 1022).
Außerdem wird im oströmischen Reich trotz des justinianischen Kommentierungsverbots juristisches Schrifttum verfasst (A. 7. Jh. anonymer Kettenkommentar zu den Digesten bzw. einer Digestenparaphrase, A. 8. Jh. sog. Ekloge, E. 9. Jh. Basiliken (kaiserliches Recht) Leos VI. (886-912), die bis ins 13. Jh. überarbeitet werden). Im ehemals weströmischen Reich, in dem – im Gegensatz zu den Digesten oder Pandekten - Codex, Institutionen und Novellen Kaiser Justinians bekannt bleiben, erscheinen im 9. Jh. eine (Turiner) Institutionenglosse und eine (Perusiner) Codexsumme. Die in Südfrankreich trotz ihrer Aufhebung durch König Rekkesvind (654) bis ins 12. Jh. fortgeltende spätantike Lex Romana Visigothorum bzw. das Breviarium Alarici (römisches Recht der Westgoten bzw. Kurzfassung König Alarichs) wird in verschiedene Auszüge (Exzerpte) umgeformt.
e) Weitere Aufschlüsse vermitteln die allgemeine Literatur (Chroniken z. B. des Bischofs Gregor von Tours 539-594, Annalen [Jahrbücher], Viten [Lebensbeschreibungen] z. B. Karls des Großen durch Einhard 828), das bescheidene altdeutsche Sprachgut (z. B. der as. Heliand, die ahd. Evangelienübersetzungen und Psalmenübersetzungen) sowie die sonstigen Erkenntnisquellen (der Rechtsgeschichte) (z. B. etwa 50000 ermittelte merowingische Gräber).
3. Die von der herrschenden Meinung (ohne Nachweis zu Unrecht) als germanische Vorstellung vom Recht angesprochenen Ideen lassen sich auch jetzt in der breiten Masse der Quellen nicht nachweisen. In ihnen bezeichnen lex und ius eine objektive Ordnung (volkssprachig ewa, wizzod), die ständigen Veränderungen z. B. durch Konstitutionen und Kapitularien, aber auch durch gewohnheitsrechtliche Vorgänge (z. B. Entwicklung des Lehnswesens), unterliegt. Nur in der Rechtsüberlieferung der Kirche findet sich die Vorstellung eines ursprünglichen, von Anfang an bestehenden, alten und guten Rechts, das in einem zweiten Stadium von den Menschen verdunkelt und verschlechtert wird und vom jeweiligen Herrscher in seiner Gegenwart von der Verdunkelung durch die Menschen zu befreien und dadurch zurückzugestalten (reformieren) ist. Sie entspricht sachlich bestens der kirchlichen dogmatischen Dreiheit von Paradies, Sündenfall und Erlösung, so dass sie insgesamt als kirchlich angesehen werden muss.
Lit.: Baum, B., Der Stabreim im Recht, 1986; Beyerle, F., Die Malbergglossen der Lex Salica, ZRG GA 89 (1972), 1; Brühl, C., Merowingische Königsurkunden, 1998; Brunner, H., Zur Rechtsgeschichte der römischen und germanischen Urkunde, 1880; Buchner, R., Die Rechtsquellen, 1953, Beiheft zu Wattenbach/Levision, Deutschlands Geschichtsquellen im Mittelalter 1953; Die Urkunden der Merowinger, hg. v. Kölzer, T., 2001; Ganshof, F., Was waren die Kapitularien, 1961; Köbler, G., Das Recht im frühen Mittelalter, 1971; Köbler G., Die Begründungen der Lex Baiwariorum, Gedächtnisschrift Wilhelm Ebel, 1982, 69; Köbler, G., Vorstufen der Rechtswissenschaft, ZRG 100 (1983), 75; Köbler G., Zur Frührezeption der consuetudo, Hist. Jb. 89 (1969), 337; Kölzer, T., Merowingerstudien, 1998; Krause, H., Königtum und Rechtsordnung in der Zeit der sächsischen und salischen Herrscher, ZRG, 82 (1965), 1; Meyer, A., Felix et inclitus notarius, 2000; Recht im frühmittelalterlichen Gallien, hg. v. Siems, H. u. a., 1995
II. Öffentlicher Bereich
1. Verfassung
Durch die militärisch-politischen Erfolge einzelner fränkischer Herrscher (Chlodwig, Karl der Große) verstärkt sich die Stellung des Königs und setzt sich (wie im römischen Reich) die Monarchie (allgemein) durch.
Der König wird geistig unterstützt durch die christliche Kirche, die dem Königtum mit der Salbung Pippins des Jüngeren (751) christlich-sakralen Charakter verleiht. Karl der Große schließlich sieht in Anknüpfung an die Lehre des römischen Kirchenvaters Augustin vom Gottesstaat sich als Träger eines von Gott verliehenen Amtes (768 nach biblischem Vorbild die zunächst nur religiös zu verstehende Formel dei gratia, von Gottes Gnaden), das ihn zum Schutz und zur Leitung der - 867 bzw. dauerhaft 1054 in Westkirche (katholisch) und Ostkirche (orthodox) gespaltenen - Kirche verpflichtet. Der König wird theoretisch durch das Volk, tatsächlich durch die führenden weltlichen Adligen (Führer der Stämme [Franken, Alemannen, Bayern, Sachsen usw.] und seit dem Ende des 10. Jh. auch durch die Erzbischöfe von Mainz, Trier und Köln (lat. principes, proceres, Große) gewählt, folgt aber wegen der Wahl aus einer mit Königsheil begabten Familie (Merowinger, Karolinger) meist erblich einzeln oder gemeinschaftlich (tatsächliche Reichsteilung bei Wahrung der allgemeinen Reichseinheit) seinen dynastischen Vorgängern nach. Nach der Wahl wird er auf den Schild, später auf den Thron erhoben, seit 751 durch Salbung geweiht und seit dem 9. Jh. feierlich gekrönt. Danach folgt die Umfahrt durch das Reich.
Seine wichtigste Gewalt ist der Bann, d. h. die Möglichkeit, unter Androhung erheblicher Rechtsfolgen (Zahlung [Erbringung von Leistungen im Wert] von 60 Schillingen) Gebote oder Verbote auszusprechen. Er ist oder wird allmählich Träger finanziell bedeutsamer Rechte (Münzprägung, Marktbewilligung, Zollerhebung), Führer des Heeres, höchster Richter (Gerichtsleiter) und Herr der Kirche, deren Bistümer und Abteien er verleiht. Ihn umgibt der besondere Königsfriede. Als Kaiser (des imperium Romanum [des weströmischen Reichs]) wird er nur eine Art Oberherr über den neben ihm stehenden Königen (z. B. Frankreich, England, Dänemark) und ein besonderer Beschützer der Kirche, ohne gewichtige zusätzliche Rechte zu erlangen.
Neben den König treten, soweit er es jeweils zulässt, die weltlichen und geistlichen Großen des Reiches, von denen zeitweise einigen (Herzögen als Anführern eines Volkes) die weitgehende Verselbständigung gelingt. Sie stützen sich vor allem auf (teilweise als Grundherrschaft innegehabte, teilweise vom König durch Verleihung [Belehnung] erlangte) große Ländereien, aber auch auf im Königsdienst gewonnene Anerkennung und Gewalt.
Die frühere Volksversammlung tritt schon als Folge der großen Flächenausdehnung des Reiches zurück und gibt ihre Zuständigkeiten an König und Große ab.
Ihre letzten Reste enden mit der Aufgabe der jährlichen Heeresversammlung (ursprünglich Märzfeld, nach Umrüstung auf ein Reiterheer in der Mitte des 8. Jh. Maifeld) unter Ludwig dem Frommen.
Lit.: Brühl, C., Fodrum, gistum, servitium regis. Studien zu den wirtschaftlichen Grundlagen des Königtums, 1968; Goetz, H., Dux und ducatus, 1977; Mitteis, H., Die deutsche Königswahl, 1944; Sprandel, R., Dux und comes in der Merowingerzeit, ZRG GA 74 (1957), 41
2. Verwaltung
Der König verwaltet sein Reich im Umherziehen von Pfalz (von lat. palatium, Palast) zu Pfalz (® Itinerare [Aufenthaltsverzeichnisse] als neuzeitliche Rekonstruktionen der Reisewege der Könige). Ihm folgt der vielleicht spätantikem Vorbild nachgebildete Hof hauptsächlich mit dem Seneschall oder Truchsess (lat. senescalcus, dapifer, für die Verpflegung), dem Marschall (lat. marescalcus, für die Pferde), dem Schenk (lat. pincerna, für die Getränke) und dem Kämmerer (lat. camerarius, für die Einkünfte) sowie der für die Abfassung der königlichen Urkunden zuständigen Kanzlei (von lat. cancelli, Schranken des römischen Forums) mit bald nur noch geistlichen Schreibern (lat. notarii, referendarii, seit etwa 850 mit dem archicancellarius [Erzkanzler] an der Spitze). Auf Hoftagen kommen auch andere Große mit dem König zusammen.
Der König erhält die zur Unterhaltung des Hofes notwendigen Mittel vor allem aus den königlichen Gütern (Königshöfen seiner Grundherrschaft) und kirchlichen Gütern, aus jährlichen Gaben des Volkes und der Großen sowie aus Banngeldern und Friedensgeldern, Zöllen und Münzabgaben. Allgemeine Steuern lassen sich nicht durchsetzen. Das Heer versorgt sich selbst. An die Kirche ist schon seit der Spätantike der Zehnte als zehnter Teil der Erträgnisse eines Gutes zu entrichten, was der merowingische Hausmeier Karl Martell nach der im Zuge der Abwehr des Ansturmes der Araber (732) erzwungenen Säkularisierung (Verweltlichung, Einziehung) des Kirchenguts erneuert.
Die allgemeine Reichsverwaltung erfolgt seit der karolingischen Zeit durch die Grafen (lat. comes, Plural comites).
Ihre Vorläufer sind ein merowingischer comes, der in unklarem Zusammenhang zum spätantiken comes (Begleiter des Kaisers) steht und vor allem die königliche Aufgabe der Friedenswahrung durchführen soll, und ein ebenfalls merowingischer grafio (zu got. gagrefts, Befehl), der nach dem Pactus Legis Salicae für die Durchsetzung des Urteils mit Gewalt zuständig ist. Vielleicht sind beide auch örtliche militärische Befehlshaber, was die Verschmelzung um die Mitte des 8. Jh. zum Grafen (comes) erklären könnte.
Seitdem verkörpert der Graf die königliche Gewalt im Reich. Er sorgt in einem umgrenzten Gebiet für die Erhaltung des Königsguts, die Erhebung von Zöllen, die Stellung des militärischen Aufgebots, die Einziehung abgesprochener Güter und die Wahrung von Frieden und Recht. Er ist Richter vor allem für die Freiheit und Liegenschaften, worauf sich seine Tätigkeit mit dem Schwinden des Königsgute in nachkarolingischer Zeit immer mehr verlagert. Da bestimmten Bereichen (Grundherrschaften) rechtlich oder tatsächlich die Ausgrenzung aus der königlichen Gewalt gelingt (Immunität), besteht kein lückenlos das gesamte Reichsgebiet bedeckendes Geflecht von Grafschaften.
In einzelnen Grenzmarken (Grenzgebieten) erscheint als Graf der Markgraf (Grenzgraf). Wie weit neben dem Graf niedere Amtsträger vorhanden sind, ist unsicher. Genannt werden vor allem lat. vicarius und lat. centenarius (ahd. hunno, skuldheizo). Wahrscheinlich bestehen örtlich wie zeitlich Unterschiede.
Eine besondere Einrichtung sind die Königsboten (lat. missi dominici), die vor allem unter den Karolingern zur Beseitigung von Missbräuchen bestimmte Bezirke als beauftragte Boten des Königs bereisen sollen.
Das Grundprinzip der Verwaltung des Reiches bildet das von der Grundherrschaft grundsätzlich streng zu scheidende, wohl schon früh (str.) entstandene Lehnsprinzip.
Die Wurzeln des Lehens sind nach herkömmlicher Lehre die personenrechtliche Vasallität und das sachenrechtliche Benefizium. Bei der Vasallität (von kelt. gwas, Knecht) übernimmt nach einem Ergebungsakt (Kommendation, Legung der gefalteten Händes des Lehnsmanns in die Hände des Lehnsherrn) der Herr Schutz und Unterhalt des Vasallen gegen Gehorsam und (militärische) Dienste. Bei dem Benefizium gibt ein Mächtiger Land (oder andere Sachen) (mittels Investitur) zur Nutzung an andere gegen Dienste und Unterstützung. Mit der Verschmelzung des sachenrechtlichen Benefiziums mit der personenrechtlichen Vasallität entsteht das Lehen (zu ahd. lehan, leihen, lat. beneficium, Wohltat, lat.-ahd. feudum E. 9. Jh., zu ahd. fehu, Vieh), indem Land hauptsächlich an (adlige) Vasallen gegeben wird und (adlige) Vasallen in erster Linie Land erhalten (und dafür Treue und höhere Dienste (z. B. Unterstützung im Kampf, Bewachung) leisten). Das Lehnsverhältnis ist grundsätzlich ein höchstpersönliches, durch Vereinbarung entstehendes Rechtsverhältnis zwischen den beiden Beteiligten, endet also mit dem Tod des Lehnsherrn (Herrenfall) oder Lehnsmanns (Mannfall), tendiert aber zur Erblichkeit (Quierzy 877 Leihezwang, 1037 Erblichkeit, vielfach nur an Männer oder nur an den ältesten Sohn), wodurch es für den Lehnsherrn allmählich an Wert verliert.
Das einfache Lehnsverhältnis (z. B. zwischen König und Herzog) wird vielleicht schon früh durch die Möglichkeit der Weiterverlehnung erweitert, wodurch mit der Zeit die vom König abwärts reichende, vielleicht bis zu sieben Stufen umfassende Lehnspyramide entsteht (, die für Karl den Großen mit etwa 2000 Vasallen und 30000 Aftervasallen berechnet wird). Außerdem wird seit dem 9. Jh. die Stellung als Graf zu Lehen gegeben, später jedes andere Amt. Allmählich wird auf diese Weise die gesamte Verwaltung vom Lehnsprinzip durchdrungen. (Nicht erfasst vom Lehnsgedanken wird dabei das [auf eher privatrechtliche Rechte bezogene] Verhältnis zwischen Grundherren und ihren meist abhängigen Hintersassen [Grundherrschaft].)
Die allgemeine, vom König abgeleitete Gewalt wird eingeschränkt durch die Immunität.
Sie ist schon dem lateinischen Altertum bekannt, in dem sie im Wesentlichen in der Freiheit der kirchlichen, vielleicht auch der kaiserlichen Güter von öffentlichen Lasten besteht. Im 6./7. Jh. erweitert sie sich dahin, dass der (Graf als der) örtliche Gewalthaber (kraft königlichen Privilegs für einen begünstigten Empfänger) im Immunitätsgebiet (Grundherrschaft des Immunitätsberechtigten) ausgeschlossen wird (Freiheit von lat. exactio, districtio, introitus bzw. von Durchführung von Verhören, Einziehung von Abgaben, Wegführung von Geiseln, schließlich amtlicher Eintritt schlechthin). Seine Aufgaben (auch bei der Streitentscheidung) nehmen die weltlichen und geistlichen Großen (Erzbischöfe, Bischöfe, Äbte bzw. ihre Vögte) als Immunitätsberechtigte (z. B. im grrundherrschaftlichen Hofgericht) selbst wahr. König bzw. Kaiser Otto I. nutzt dann allerdings diese Art der Beseitigung des Einflusses der weltlichen Gewalt auf die immunitätsbegabte Kirche dazu, sich selbst durch Einsetzen der Immunitätsberechtigten (Erzbischofs, Bischofs, Abts usw.) (trotz des Immunitätsprivilegs wieder unter Missachtung von Befugnissen der Kirche) unmittelbare Herrschaft über die zunehmend zu geschlossenen Bezirken werdenden Immunitätsgebiete zu verschaffen (ottonisch-salisches Reichskirchensystem). Von der kirchlichen Reformbewegung des 11. Jh. wird dann gerade auch diese von den salischen Herrschern fortgeführte Form der Kirchenherrschaft (ottonisch-salisches Reichskirchensystem) angegriffen und die weitere Ausdehnung der auf einzelne Immunitäten gegründeten Reichskirche verhindert.
Lit.: Borgolte, M., Geschichte der Grafschaften Alemanniens in fränkischer Zeit, 1984; Bosl, K., Franken um 800, 2. A. 1980; Ganshof, F., Was ist das Lehnswesen?, 3. A. 1970; Mitteis, H., Lehnrecht und Staatsgewalt, 1933, Neudruck 1958; Schulze, H., Die Grafschaftsverfassung der Karolingerzeit in den Gebieten östlich des Rheins, 1973; Schulze, H., Grundstrukturen der Verfassung im Mittelalter, 1985; Stengel, E., Die Immunität in Deutschland bis zum Ende des 11. Jahrhunderts, 1910, Neudruck 1964
3. Verfahren
Nach dem salfränkischen Volksrecht (Pactus legis Salicae, Lex Salica) werden Streite auf (bis zu dreimaliges) Betreiben eines Verletzten (aller guten Dinge sind drei) unter Leitung eines (lat.) thunginus (»Dingmann«) auf dem Malberg (lat. in mallobergo) unter freiem Himmel an ordentlichen Terminen (® echtes Ding) und außerordentlichen Terminen (® gebotenes Ding) in Anwesenheit der (erscheinungspflichtigen) Freien (Dingpflicht) ausgetragen. Einer von sieben vom thunginus vorher ausgewählten rachinburgen (»Rechenbürgen«, »Ratbürgen«) schlägt ein Urteil vor, das die Gesamtheit (Umstand) annimmt oder ablehnt (str.).
Innerhalb der Immunität leitet der Immunitätsberechtigte oder sein Amtsträger (später regelmäßig ein [lat.] advocatus, Vogt) die Verhandlung. Außerdem wird bei bestimmten Parteien und in bestimmten Fällen (z. B. Rechtsverweigerung) der König selbst, später ein Pfalzgraf, tätig. Der König kann darüber hinaus jede Angelegenheit an sich ziehen, in gewissen Fällen auch während eines laufenden Verfahrens angerufen werden (Reklamationsrecht) und nach umstrittener Ansicht die Urteiler rein nach der Billigkeit entscheiden lassen.
In der Folge beeinflussen die stärkere Stellung des Königs und christliche Vorstellungen das Verfahren, das mit steigender Wirtschaftskraft bald auch in geschützten Räumen (Lauben) stattfindet.
Dabei wird die private Ladung durch den eine streitige Angelegenheit vortragenden (verletzten) Ansprecher (lat. mannitio) durch die öffentliche Ladung des Verfahrensleiters (lat. bannitio) ersetzt. Er gebietet dem Gegner auch, Antwort zu geben und das Urteil zu erfüllen. Außerdem verlangt er seinerseits von den Urteilern den Urteilsvorschlag und lädt Eideshelfer und Zeugen. Das Verhalten des Rechtssuchenden wird nun als klagen (über den Gegner bei dem Verfahrensleiter) bezeichnet (® Klage, Kläger, Beklagter) und die Aufgabe des Verfahrensleiters als rihten (lat. corrigere, richten, gerademachen des Ungerechten, ® Richter, Gericht) beschrieben. Bei dem Beweis, der in der Regel dem Angegriffenen (Beklagten) als Beweisrecht zusteht und nun meist in der Versammlung selbst durchgeführt wird, wird der Eideshelfer seltener verwendet, christliches Gedankengut eingeführt (Eid auf Evangelium, Altar, Reliquien sowie die Kreuzprobe als Gottesurteil) und die Urkunde (ahd. buoh, brief) zugelassen. Im Übrigen verdrängen Graf und niederer Amtsträger den frühfränkischen thunginus und bestimmt Karl der Große zwischen 770 und 780 je sieben geschworene Schöffen (lat.-afrk. scabini) anstelle der älteren Rachinburgen zum alleinigen Abgeben von Urteilsvorschlägen (Urteilern), wobei er außerdem die Zahl der besuchspflichtigen (echten) Versammlungen (Dinge) auf jährlich drei verringert.
In ersten Anfängen erscheint der Rechtszug zum höheren Richter. Die zuvor selbständig mögliche Pfändung zwecks Verwirklichung (Vollstreckung) des Urteils wird von der Genehmigung des Richters abhängig gemacht oder überhaupt Amtsträgern überlassen. Außer auf bewegliche Sachen und auf Personen kann auf Grund und Boden zugegriffen werden. Nichtauslösung des Pfandes hat den Verfall zur Folge.
Sonderregeln gelten für besondere Verfahren.
Bei handhaftem Diebstahl bleiben Tötungsrecht und Beweismitteleinschränkung erhalten. Dem Dieb darf zur Ergreifung nachgeeilt werden (Spurfolge). Wird die entwendete Sache erst später entdeckt, darf der Bestohlene Hand an sie legen (Anefang, Anfassen), woraufhin der Gegner versprechen muss, die einstweilen bei ihm verbleibende Sache in einem Verfahren zu verteidigen, falls er sie nicht sofort verlieren will.
In Anknüpfung an ein schon merowingisches Verfahren der öffentlichen Verfolgung bestimmter Taten entsteht in karolingischer Zeit ein Inquisitionsverfahren, bei dem glaubwürdige Männer durch Eid verpflichtet werden, ihnen bekannt gewordene Unrechtstaten kundzutun (Rügeverfahren). Im vielleicht auf christlichen Einfluss zurückgehenden Verfahren vor dem König kann man sich in Fällen begründeter Säumnis (echte Not) durch Dritte vertreten lassen.
Eine eigene Gerichtsbarkeit behauptet der Bischof in bestimmten, die Kirche berührenden Angelegenheiten.
Lit.: Brunner, H., Die Entstehung der Schwurgerichte, 1872; Hübner, R., Gerichtsurkunden der fränkischen Zeit, 1891; Hübner, R., Der Immobiliarprozess der fränkischen Zeit, 1893; Kaufmann, E., Aequitatis iudicium. Königsgericht und Billigkeit, 1959; Köbler, G., Klage, klagen, Kläger, ZRG GA 92 (1975), 1; Köbler, G., Richten, Richter, Gericht, ZRG 87 (1970), 57; Köbler, G., Welchen Gottes Urteil ist das Gottesurteil des Mittelalters?, FS Winfried Trusen, 1994, 84; Nottarp, H., Gottesurteilsstudien, 1956; Sohm, R., Der Prozess der Lex Salica, 1867, Neudruck 1971; Tolksdorf, M., Politische Prozesse der Merowinger des 6. Jahrhunderts, 1980; Weitzel, J., Dinggenossenschaft und Recht, 1985; Weitzel, J., Strafe und Strafverfahren in der Merowingerzeit, ZRG GA 111 (1994), 67
4. Strafe
Bei den Unrechtserfolgen ist sind Interesse und Möglichkeiten der Allgemeinheit noch immer gering, so dass der Bereich der öffentlichen Verfolgung sich kaum ausdehnt (str.) und die Rechtsquellen hauptsächlich das vom (privatrechtlichen) Ausgleich beherrschte Kompositionensystem widerspiegeln .
Nach herkömmlicher Meinung beginnt dabei allgemein eine stärkere Berücksichtigung der subjektiven Seite (Wille, ® u. a. Ansätze der Notwehr). Ist der Erfolg nicht gewollt, zieht er nur eine mildere Rechtsfolge nach sich. Umgekehrt unterfallen auch Frauen der öffentlichen Verfolgung, während Unmündige ausgenommen bleiben. Als neue Tatbestände erscheinen unter christlichem Einfluss Angriffe gegen den König (z. B. Königsverrat) und gegen das Christentum (z. B. Kirchendiebstahl, Zauberei, Grabraub?).
Bei den Rechtsfolgen dringt ganz vereinzelt die (allerdings teilweise ablösbare) Todesstrafe vor (z. B. Sachsen um 800). Daneben stehen vielleicht Friedlosigkeit (Acht, Verfolgung, Rechtloserklärung, vor allem bei Ergreifung auf frischer Tat), Verbannung, Wüstung oder Einziehung des Vermögens, Verstümmelung, Scherung, Prügelung (bzw. Brandmarkung), gelegentlich Geldleistung, Freiheitsentziehung und Entehrung. Der König kann zudem dem Betroffenen die Huld entziehen.
Lit.: Hagemann, H., Vom Verbrechenskatalog des altdeutschen Strafrechts, ZRG GA 91 (1974), 1; Hoheitliches Strafen in der Spätantike und im frühen Mittelalter, hg. v. Weitzel, J., 2002; Schmitt-Weigand, A., Rechtspflegedelikte in der fränkischen Zeit, 1962
III. Privater Bereich
1. Person
Vollberechtigt ist nach den merowingisch-karolingischen Volksrechten der Freie. Über ihn erhebt sich allmählich der Adel. Unter ihm stehen die unter sich recht verschiedenen Unfreien und Freigelassenen.
Wie weit der Unfreie (ahd. skalk) als Sache behandelt wird, ist zweifelhaft. Immerhin regeln manche Volksrechte seine Tötung parallel zu derjenigen Freier. Die Kirche bekämpft seit dem 6. Jh. ein Tötungsrecht des Herrn und erkennt im 10. Jh. Ehen unter Unfreien ohne weiteres an.
Die Freilassung kann entweder in römischrechtlichen (Freilassung in der Kirche, Freilassung durch Brief) oder heimischen Formen (Schatzwurf, lat. denariatio, bei dem der König oder Herr dem Begünstigten einen als symbolischen Zins verwandten Pfennig aus der Hand schlägt) erfolgen. Der Freigelassene ist im Vergleich zum Unfreien frei, im Vergleich zum Freien aber nur freigelassen.
Der Fremde bleibt grundsätzlich rechtlos.
Kinder, Frauen, Knechte und Mägde stehen unter der Hausgewalt (munt) des Hausvaters.
Sie entsteht bei (lebensfähigen) Kindern mit der Geburt, neben der eine besondere Aufnahme nur (noch) vereinzelt belegt ist. Sie währt bis zum Ausscheiden aus der Hausgemeinschaft (Abschichtung des Sohnes, Verheiratung der Tochter). Daneben erscheint ein fester Termin der Mündigkeit (bei den Angelsachsen 10, Saliern 12, Ribvariern 15 Jahre), von dem an einige Beschränkungen entfallen und das Kind z. B. frühere Geschäfte des Gewalthabers wirksam widerrufen kann. Die munt über die Frau beginnt sich zu lösen.
Unter dem Einfluss der Kirche, die alle außerehelichen Verbindungen bekämpft, verschlechtert sich die Stellung aller nichtehelichen Kinder. Sie verlieren das Erbrecht gegen den Vater. Allerdings können sie noch in karolingischer Zeit König werden.
Fehlt der Hausvater, so erhalten unmündige Söhne und unverheiratete Töchter bis zur Mündigkeit bzw. Verheiratung einen Vormund.
Dies ist der nächste männliche Verwandte (Schwertmage). Daneben tritt die Bedeutung des gesamten weiteren Verwandtschaftsverbands zurück. In karolingischer Zeit setzt auf Grund des christlichen Gebots, Witwen und Waisen besonders zu schützen, eine Art Obervormundschaft des Königs ein, die der Überwachung des Vormunds dient. Dieser hat vor allem unter eigenem Nutzungsrecht das Vermögen des Mündels zu verwalten und am Ende der Vormundschaft herauszugeben. Nur über Fahrnis darf er frei verfügen.
Mit Erreichung der Mündigkeit erlangt der vaterlose (vaterlos gewordene) Sohn volle Selbständigkeit.
Lit.: Kroeschell, K., Haus und Herrschaft im frühen deutschen Recht, 1968; Nehlsen, H., Sklavenrecht zwischen Antike und Mittelalter, 1972; Nehlsen-Stryk, K. v., Die boni homines des frühen Mittelalters, 1981
2. Ehe
a) Die Ehe, auf welche die Kirche mit ihrer Vorstellung einer unauflöslichen Verbindung eines Mannes und einer Frau zur völligen körperlich-geistigen Lebensgemeinschaft, in welcher der Mann das Haupt bildet, Einfluss nimmt, entsteht weiterhin in verschiedenen Formen.
Hauptform ist die Vertragsehe. Bei ihr treten nun Verlobung und Vollzug stärker auseinander. Beim Verlöbnis genügt eine symbolische Leistung, die eine Art Anrecht auf die Braut begründet. Der Vollzug geschieht durch Trauung und Heimführung (Brautlauf).
Beim Raub des Mädchens wird jetzt meist Rückgabe verlangt. Andernfalls muss wie bei der einverständlichen Entführung die munt (Personalgewalt) zusätzlich erworben werden. Möglich ist daneben die auf bloße Willensübereinstimmung von Mann und Frau gegründete muntfreie Ehe, welche die Frau wesentlich freier stellt. Vielleicht hat sich bei ihr die Übung entwickelt, dass der Mann der Frau am Morgen nach der Brautnacht eine Gabe (Morgengabe) überreicht oder verspricht. In fränkischer Zeit wird möglicherweise auch das Kebsverhältnis zwischen Freiem und Unfreier als Ehe betrachtet.
b) Die Zahl der Ehehindernisse, die nunmehr zur Nichtigkeit der Ehe führen, erhöht sich unter christlichem Einfluss (Erweiterung und Begründung der Eheverbote der Verwandtschaft, Schwägerschaft, Patenschaft, Polygamie und des kirchlichen Keuschheitsgelübdes).
c) Die Auflösung der Ehe durch Ehescheidung wird von der Kirche (auf Grund von 1. Korinther 7, 39ff.) seit dem 8. Jh., verstärkt seit 829, bekämpft.
d) Das von der Frau eingebrachte oder ihr sonst zustehende Gut (Aussteuer, vom Mann dem munt-Berechtigten gegebene und von diesem an die Frau weitergeleitete Gaben [lat. dos Wittum, Muntschatz, jetzt z.T. auch Grundstücke], Morgengabe) wird vom Mann verwaltet. Neben dieser grundsätzlichen Gütertrennung mit Verwaltungseinheit wird bei Franken und Westfalen eine Gemeinschaft an dem in der Ehe gewonnenen Gut sichtbar (Errungenschaftsgemeinschaft).
Lit.: Saar, S., Ehe – Scheidung – Wiederheirat, 2002
3. Erbe
a) Beim Tod des Hausvaters fällt sein Gut an die Angehörigen des Hauses (Verwandte) in der Reihenfolge Sohn, Tochter, Vater, Mutter, Bruder, Schwester, Grund und Boden bei den Franken des 6. Jh. dabei nur an Männer, hilfsweise an Nachbarn. Enkel sind auch beim Vorversterben ihres die Verwandtschaft vermittelnden Vorfahren ausgeschlossen (anders 596 bei den Franken, 938 bei den Sachsen) und erben nur als weitere, durch den Grad der Nähe bestimmte Verwandte. Die Witwe bleibt bis zu einer Auseinandersetzung mit den Kindern im Gut sitzen (Beisitz).
Beim Tod der Ehefrau fallen ihre Güter bei bekindeter Ehe an die Kinder, sonst an den ursprünglich Berechtigten zurück.
b) Nach Ausweis des Volksrechts der Thüringer gelangt hiervon abweichend in einer Sondererbfolge das Hergewäte (Heeresausrüstung) an den nächsten männlichen Verwandten (Schwertmagen) und die Gerade (Hausrat) der Frau an ihr nächste weibliche Verwandte. Außerdem erhält der Mann die Morgengabe zurück.
c) Unter kirchlichem Einfluss setzt sich die Anschauung durch, dass zum Heil der Seele an die Kirche von Todes wegen ein Freiteil als Kindesteil oder fester Bruchteil des Vermögens (sog. Seelgerät) gegeben werden kann (lat. donatio post obitum Gabe nach dem Tod, lat. donatio reservato usufructu Gabe unter Vorbehalt des Nutzungsrechts). Daneben kann der Erbenlose in einer Art Adoption sich einen Erben seiner Wahl setzen (bei den Franken Affatomie, bei den Langobarden gairethinx, Speergedinge). Testamente erscheinen nur ganz vereinzelt in Fortführung antiker Tradition.
Lit.: Beseler, G., Die Lehre von den Erbverträgen, Teil 1f. 1835ff.; Bruck, E., Kirchenväter und soziales Erbrecht, 1956; Kroeschell, K., Söhne und Töchter im germanischen Erbrecht, Gedächtnisschrift Wilhelm Ebel, 1982, 87; Nonn, U., Merowingische Testamente, Archiv für Diplomatik 18 (1972), 1; Schultze, A., Der Einfluss der Kirche auf die Entwicklung des germanischen Erbrechts, ZRG GA 35 (1914), 75
4. Sachen
a) Bei den Sachen verstärkt sich die individuelle Zuordnung.
Insbesondere können, wie zahlreiche Urkunden zeigen, Grundstücke an Dritte (d. h. die Kirche) gegeben werden. Im Rahmen des erbrechtlichen Freiteils kann der Geber dabei allein handeln, während er sonst der Mitwirkung (Zustimmung) des voraussichtlichen (wartenden) Erben bedarf. Begünstigend, wenn nicht überhaupt ursächlich, scheinen dabei die Entstehung von sehr umfangreichen Landgütern, deren Größe bei Grundherren (z. B. dem König) eine persönliche, die wirtschaftliche Existenz betreffende Beziehung des Berechtigten zum einzelnen Stück aufhebt, sowie das Interesse der Kirche an einem Gütererwerb, der ihr aus der Antike selbstverständlich ist, zu wirken.
Gegenstand der Berechtigung können sogar einzelne Kirchen sein (sog. Eigenkirchen), bis die Kirche im Investiturstreit dagegen einschreitet und im 11./12. Jh. dafür das Institut des Patronats(rechts) entwickelt.
Die Art und Weise der Übertragung von Liegenschaften (unbeweglichen Sachen) ist fraglich.
Nach herrschender Ansicht sind Einigung zwischen Veräußerer und Erwerber über den Eigentumsübergang (ahd. sala, lat. traditio unter Übergabe von Grundstücksbestandteilen und Herrschaftssymbolen wie Scholle und Handschuh) sowie Besitzeinräumung (lat. investitura, ahd. giwerida in rechtsförmlicher oder symbolischer, durch Stabübergabe oder Halmübergabe erfolgender Weise) erforderlich. Das ist deswegen zweifelhaft, weil die Quellen die investitura (Gewere) erst seit dem Ende des 8. Jh. belegen und sich zeigen lässt, dass die eigenartig abstrakt-symbolische Vorstellung von einem Bekleiden (lat. vestire, ahd. werien, bekleiden) mit Gütern auf die lateinische Kirchensprache (Tertullian) zurückgeht. Außerdem lassen die Quellen auch weitgehend unklar, was eigentlich zur traditio (Einigung) und was zu der davon unterschiedenen Investitur (Besitzeinräumung) gehören soll. Erst im späteren Frühmittelalter scheint sich die Investitur (Bekleidung, Einkleidung) als ein besondere Form der Übergabe von Gütern (bei den Lehen Übertragung von Lanze, Fahne, Stab u. Ä., in der Kirche Übertragung von Schlüsseln, Glockenseilen u. Ä.) und die Gewere als ein besonderer Zustand des »Bekleidetseins« mit Gütern durchzusetzen.
Möglich ist das Geben in der Dingversammlung, das die Beweissicherheit erhöht. Außerdem kann am Ende eines Verfahrens vor dem König dem Streitgegner auferlegt werden, das streitige Grundstück sofort herauszugeben oder zu übertragen. Weil die darüber ausgestellte Königsurkunde unangreifbar ist, führt man, um sie zu erreichen, in einzelnen Fällen wohl auch Scheinverfahren mit anschließender Übergabe durch, in denen ein künftiger Erwerber fälschlicherweise ein Recht am Grundstück behauptet und der wahre Berechtigte nicht widerspricht. Diese Übung ist später auch vor unteren Richtern möglich. Über ihre Häufigkeit sind allerdings Aussagen kaum möglich.
Die Übergabe selbst lässt sich auch sonst aufgliedern in ein Verhalten des Gebers und des Erwerbers, Ursprünglich verlässt der eine (Geber) wohl tatsächlich das Grundstück (lat. exire, hinausgehen), das dann der andere (Erwerber) betritt. Später genügt ein symbolisches oder verbales Verhalten (lat. se exitum dicere, erklären hinausgegangen zu sein).
Neben dem Erwerb von einem Berechtigten hat auch die erstmalige freie Aneignung noch Bedeutung, bis sie bei Land vom Herrschaftsanspruch des Königs (Bodenregal) zurückgedrängt wird, der dann die Rodung von seiner herrschaftlichen Genehmigung abhängig macht.
In ähnlicher Weise beansprucht der König bald auch die Herrschaft über die schiffbaren Flüsse, den Bergbau sowie Jagd und Fischerei.
b) Bei der Fahrnis (bewegliche Sachen) besteht eine Besonderheit für das Herausverlangen.
Wer einem anderen eine bewegliche Sache gegeben hat, kann sie nur von diesem selbst, nicht dagegen von einem Dritten zurückfordern. Ist die Sache entzogen worden, kann sie mit Spurfolge (Verfolgung) und Anefang (Anfassen) gegenüber dem jeweiligen Gewalthaber in Anspruch genommen werden.
c) Die Vergrößerung der Liegenschaften (Grundherrschaft) wie die antike Tradition begünstigen die Ausbildung von beschränkten Rechten an fremden Grundstücken. Am wichtigsten ist die (lat.) precaria (Prekarie, Bittleihe).
Bei ihr wird Land auf Zeit, auf Widerruf, auf Lebenszeit eines Menschen, auf Lebenszeit mehrerer Menschen oder überhaupt erblich gegeben. Das Land kann vom Geber stammen (lat. precaria data, gegebene Prekarie), vom Empfänger (lat. precaria oblata, angebotene Prekarie) oder von beiden zu je einem Teil (lat. precaria remuneratoria, belohnte Prekarie). In der Regel ist bei allen diesen Leiheverhältnissen eine Gegenleistung in Abgaben, Diensten oder Land zu erbringen.
d) Als Pfand können allmählich auch Liegenschaften gegeben werden.
Lit.: Beyerle, F., Die Treuhand im Grundriss des deutschen Privatrechts, 1932; Dorn, F., Die Landschenkungen der fränkischen Könige, 1991; Hattenhauer, H., Die Entdeckung der Verfügungsmacht, 1969; Hübner, R., Die donationes post obitum und die Schenkungen mit Vorbehalt des Nießbrauchs, 1888; Köbler, G., Die Herkunft der Gewere, TRG 43 (1975) 195
5. Schulden
a) Bei den Unrechtserfolgen (Tötung, Körperverletzung, Ehrverletzung, Diebstahl, Raub, Brandstiftung), die noch nicht zu einer Strafe als Rechtsfolge führen, wird vermutlich als Folge der verstärkten Stellung des Königstums wie des Christentums in den Volksrechten an Stelle der älteren Selbsthilfe ein umfangreiches System fester Ausgleichssätze sichtbar (lat. compositio, emendatio, Buße, vor allem [bei Tötung eines Menschen] Wergeld [Manngeld] ® Kompositionensystem), die offensichtlich Rache und Fehde zurückdrängen sollen. Zugleich wird die subjektive Seite stärker berücksichtigt. Ist der eingetretene Erfolg nicht gewollt (sog. »Ungefährwerk«, z. B. der fehlgehende Pfeil tötet ungewollt), so tritt wohl ebenso eine mildere Rechtsfolge ein wie bei der Handlung des Unmündigen. Umgekehrt kann schon ein verselbständigter Versuch (z. B. in Tötungsabsicht abgeschossener Pfeil geht fehl) eine Rechtsfolge nach sich ziehen.
Am wichtigsten ist dabei der für den Fall der Tötung angesetzte Betrag (wergeld, zu lat. vir, Mann). Er beläuft sich für den fränkischen Freien (lat. ingenuus) auf 200 Schillinge (lat. solidi), wovon zwei Drittel den Verwandten gebühren, ein Drittel dem König als Friedensgeld (lat. fredus)(, wobei nach dem ribuarischen Recht zwei Schillinge einem Rind entsprechen). Daneben kann die Komposition (Buße) wie in der Spätantike auch als Vielfaches eines Wertes oder als Wert überhaupt berechnet werden.
b) Auf Grund der Bevölkerungszunahme, der stärkeren Arbeitsdifferenzierung und der beginnenden Ausrichtung auf den Markt werden zur Verbesserung der Lebensverhältnisse vermutlich auch verstärkt Schulden durch nichtdeliktisches Handeln (Vereinbarung) begründet. Dabei erscheint nach herkömmlicher Lehre neben Realvertrag und Formalvertrag der Arrhalvertrag, bei dem statt der realen Leistung nur eine Teilleistung oder Symbolleistung (lat. arrha, Angeld) erbracht wird, deren Annahme eine Verbindlichkeit begründet.
Kauf, Tausch und Leihe werden noch als sachenrechtliche Handgeschäfte abgewickelt.
c) Die Nichterfüllung einer Leistungspflicht ist Rechtsverweigerung. Der dadurch Verletzte kann aber allmählich nicht mehr zur Selbsthilfe greifen, sondern muss ein öffentliches Verfahren betreiben. Pfandgestellung, Geiselgestellung und Bürgengestellung durch den Leistungspflichtigen bleiben möglich.
Lit.: Hagemann, H., Fides facta und wadiatio, ZRG GA 83 (1966), 1; Heusler, A., Institutionen des deutschen Privatrechts, Bd. 1ff. 1885f.; Kaufmann, E., Die Erfolgshaftung, 1958; Scherner, K., Salmannschaft, Servusgeschäft und venditio iusta, 1971; Siems, H., Handel und Wucher im Spiegel frühmittelalterlicher Rechtsquellen, 1992
§ 5 Hochmittelalter und Spätmittelalter (10./11. Jh.-15. Jh.)
Den Volksrechten der fränkischen, frühmittelalterlichen Zeit folgen nach einem überlieferungsarmen zeitlichen Zwischenraum die Landrechte. Sie finden sich sowohl im Hochmittelalter (10./11. Jh.-Mitte 13. Jh.) wie auch im Spätmittelalter (Mitte 13. Jh.-15. Jh.). Von daher lassen sich Hochmittelalter und Spätmittelalter rechtsgeschichtlich als Einheit zusammenfassen.
A) Grundlagen
Die Bevölkerungszahl des deutschsprachigen Raumes erhöht sich vor allem infolge stärkeren Wachstums zwischen 1000 und 1348 von 3 bis 4 Millionen am Beginn des Zeitraums auf rund 11 Millionen Menschen am Ende des Mittelalters (Weltbevölkerung 1200 schätzungsweise 400 Millionen, 1400 375 Millionen).
I. Politische Verhältnisse
Kurz vor dem Aussterben des Königsgeschlechts der Salier (1125) kommt es im Streit zwischen Papsttum (Papst Gregor VII.) und Königtum (König Heinrich IV., 1084 Kaiser) um (die vom König gewünschte Auswahl kirchlicher Amtsträger und) die Bekleidung (Investitur) kirchlicher Amtsträger mit weltlichen Herrschaftsrechten (ottonisch-salisches Reichskirchensystem) (Investiturstreit) und gleichzeitigen bürgerkriegsähnlichen Kämpfen im Reich zu einem ersten Ausgleich (1122 Wormser Konkordat, 1448 ersetzt durch sog. Wiener Konkordat), wobei der König seinen bisherigen unmittelbaren Einfluss auf die Besetzung geistlicher Ämter aufgibt und für alle Kirchen die kanonische Wahl und freie Weihe zugesteht, aber für die Übertragung der nun von den geistlichen Rechten klar geschiedenen weltlichen Rechte ([iura] temporalia) zuständig bleibt. Etwa gleichzeitig tritt der Papst durch den Aufruf an die abendländische Ritterschaft zum Kreuzzug gegen die Ungläubigen (deus lo vult, Gott will es, 1095) hervor, in dessen Verlauf die Erstürmung Jerusalems (1099) und eine kurzzeitige Herrschaft (1099-1187, 1229-1244) über die heiligen Stätten der Christenheit gelingt. Dem folgt später im deutschen Osten der ebenfalls von der Geistlichkeit unterstützte Kampf gegen die heidnischen Slawen und Balten (1190 Deutscher Orden, um 1225/1226 aus dem Heiligen Land zum Kampf gegen die an der Weichsel sitzenden (baltischen) Pruzzen [® Preußen] gerufen), der die vom König in Sachsen begonnene und später vom Adel getragene Ostkolonisation (Ostsiedlung mit rund 400000 Einwanderern im 12. und 13. Jh.) erheblich fördert.
Der nach dem Tode des dem letzten Salierkönig Heinrich V. folgenden, aus Sachsen kommenden Königs Lothar von Süpplingenburg (Supplinburg) von den Großen 1138 gewählte, schwäbische Staufer Konrad III., ein Enkel des Saliers Heinrichs IV., sieht sich der Schwierigkeit gegenüber, dass der unterlegene Mitbewerber um die Königswürde aus dem Geschlecht der Welfen sowohl Herzog von Sachsen wie auch Herzog von Bayern ist. Um diese für ihn machtmäßig ungünstige Lage zu ändern, entzieht König Konrad III. 1139 der Familie der Welfen das Herzogtum (der) Bayern und gibt es als Lehen an seinen Stiefbruder, den babenbergischen Markgrafen von Österreich Leopold IV., weil – wie jetzt erstmals behauptet wird – nach dem Recht kein Fürst zwei Herzogtümer gleichzeitig haben könne. Als der 1150 mündig gewordene Welfe Heinrich der Löwe Bayern vom König zurückverlangt, gelingt Konrads Nachfolger Friedrich I. Barbarossa dadurch ein Ausgleich, dass er 1156 Bayern seinem welfischen Vetter Heinrich dem Löwen wiedergewährt und den Babenbergern (Heinrich II. Jasomirgott und seiner byzantinischen Frau Theodora) dafür im (seit dem 19. Jh. so genannten) privilegium minus (kleineren Privileg) die Verselbständigung Österreichs als eigenes, von Bayern gelöstes Herzogtum (Territorialherzogtum, Reichsfürstentum) zugesteht. Diesem neuen, auf ein Gebiet bezogenen Herzogtum, in dem sich trotz Einheit als ein Reichslehen durch den Willen der Herzöge ein Land ob der Enns neben dem Land unter der Enns entwickelt, wird weiter die Erblichkeit im männlichen und weiblichen Stamm zugesichert. Bei Kinderlosigkeit sollen der Herzog und seine Gattin das Recht haben, den Nachfolger frei zu bestimmen. Ohne Zustimmung des Herzogs soll niemand (außer dem König) eine Gerichtsbarkeit im (neuen) Herzogtum ausüben. Die Pflicht des Herzogs, zu Hoftagen zu erscheinen wird auf Hoftage in Bayern und die Pflicht zur Heerfolge auf Kriegszüge in der Nachbarschaft des Herzogtums beschränkt.
Danach führt Kaiser Friedrich I. Barbarossa das seit 1157 als sacrum imperium (heiliges Reich) bezeichnete Reich auf einen neuen Höhepunkt, auf dem der Herrscher auch die Verbindung mit der in Italien neu erwachenden Jurisprudenz sucht (1158 Hoftag von Roncaglia bei Piacenza). Ihm bleibt allerdings in Italien, wo er sich mit den auf Sizilien heimisch gewordenen Normannen, dem immer mächtigeren Papst und den durch den neuen Orienthandel reich gewordenen oberitalienischen Städten auseinandersetzen muss, infolge mangelhafter Unterstützung durch seinen Vetter Heinrich den Löwen ein dauerhafter Erfolg versagt.
Er muss sogar im Jahre 1180, um den mächtigen Heinrich den Löwen stürzen zu können, den ihn unterstützenden Großen ein bedeutsames Zugeständnis machen. Mit der Verpflichtung, die wichtigen Lehen beim Heimfall an das Reich wieder auszugeben (Leihezwang), legt er den Grund für die Festigung der seit dem Wormser Konkordat von 1122 und vor allem seit 1156/1180 entstehenden Länder (Territorien) zu Lasten des Reiches, eine Entwicklung, die sein hauptsächlich in Italien (Sizilien) weilender Enkel Friedrich II., vor dem der Papst 1245 nach Frankreich ins Exil flieht, durch weitere, die Wirklichkeit anerkennende Privilegien (1220/1232) noch unterstützt.
Als neue Herzogtümer entstehen dabei 1180 etwa die Herzogtümer Westfalen und Steiermark (955 karantanische Mark des Herzogtums Kärnten), von denen das Herzogtum Steiermark 1192 infolge eines Erbvertrags von 1186 (Georgenberger Handfeste) an die neuen (1156) babenbergischen Herzöge von Österreich fällt.
1231 kauft der staufische König Heinrich (VII.) den Grafen von Habsburg die Leute von Uri ab und verspricht ihnen zur Sicherung des Alpenübergangs ewige Reichsunmittelbarkeit. 1240 erlangen die Leute von Schwyz ein ähnliches Privileg von Kaiser Friedrich II. Damit wird der erste Grund für die Entwicklung der Schweiz gelegt.
Im mit dem Aussterben der staufischen Familie beginnenden Interregnum (Zwischenreich, königlose Zeit, 1254-1273) verliert das Reich weiter an Bedeutung. Der 1273 von den Fürsten zum König gewählte schwäbische Graf Rudolf von Habsburg beschränkt sich zum Ausgleich des Verlusts der Verfügungsmacht über Reichskirche und Herzogtümer folgerichtig ganz auf den Ausbau einer festen Hausmacht des Königs in Deutschland selbst, was aber wegen der zunächst rasch wechselnden und verschiedenen Familien angehörigen Nachfolger dem Reich insgesamt ebenfalls nicht zugute kommt.
Rudolf von Habsburg selbst belehnt 1282 seine Söhne mit dem Herzogtum Österreich, das nach seinem Sieg (1278) über König Ottokar von Böhmen, der es 1246 nach dem Aussterben der Babenberger erlangt hatte, an das Reich gekommen war, sowie mit Steiermark und Krain. Von den Grafen von Görz bzw. Görz/Tirol übernehmen dann die Habsburger 1335 Kärnten, Teile Krains und der Windischen Mark, 1363/1364 (durch Vertrag mit der Erbtochter Margarethe Maultasch) die durch (Weiter-)Belehnung der Grafen von Tirol mit den Grafschaften im Inntal, Eisacktal und Etschtal seitens der Bischöfe von Brixen und Trient entstehende, ab 1335 als Reichslehen geltende Grafschaft Tirol, 1374 Istrien und weitere Teile Krains sowie 1500 die vordere und hintere Grafschaft Görz. Hierzu kommen 1368 der Breisgau und vor allem durch Kauf seit 1375 Herrschaften westlich des Arlbergs (1375 Feldkirch, 1418 Bludenz, 1523 Bregenz, „Land im Walgau“, später „Vorarlberg“). Umgekehrt schließen sich schon zwischen 1240 und 1273 sowie endgültig unmittelbar nach Rudolfs Tod 1291 die (1231/1240 vom Herrscher mit besonderen Freiheiten begabten) Leute von Uri, Schwyz und Unterwalden zu einem ewigen Bündnis zusammen, aus dem im Gefolge der Siege von Morgarten (1315) und Sempach (1388) über die Habsburger allmählich die von der Herrschaft der vertriebenen Habsburger freie Eidgenossenschaft der Schweiz (1332 Luzern, 1351 Zürich, 1352 Glarus, Zug, 1353 Bern und damit acht Orte) erwächst.
Unter Kaiser Karl IV. aus der Familie der Grafen von Luxemburg, der endgültig auf die italienische Kaiserpolitik verzichtet, kann in der Goldenen Bulle (1356), der in Österreich 1358/1359 das gefälschte, aus fünf Urkunden (von angeblich [Caesar, Nero,] 1058, 1156, 1228, 1245, 1283) zusammengesetzte (im 19. Jh. sog.) privilegium maius Herzog Rudolfs IV. folgt (angebliche Erhebung zum Pfalzerzherzog [später nur Erzherzog], Unteilbarkeit, Ältestenerbrecht, subsidiäre Testierfreiheit, Ausschließung des königlichen Hofgerichts, Beschränkung der Heerfolgepflicht [auf 12 Mann gegen Ungarn] und der Hoffahrtpflicht [nur freiwillig], Geltung für alle derzeitigen und künftigen Länder der Familie, zunächst als eindeutige Fälschung durch Kaiser Karl IV. [und Petrarca] abgelehnt, 1442 und 1453 von dem Habsburger Friedrich III. [1452 als letzter deutscher Kaiser in Rom gekrönt] bestätigt und damit wirksam, aber bereits 1545/1546 wieder angezweifelt), nur noch der bestehende Zustand zugunsten der Kurfürsten anerkannt werden. Vom 15. Jh. an bedrohen Religionsstreitigkeiten (1419-1436 Hussitenkriege) im Inneren das Reich, dessen Thron bald infolge nahezu ununterbrochener Wiederwahl (tatsächliche Erbmonarchie) der Familie der Habsburger zufällt. Böhmen, das 1310 im Wege der Erbfolge an die Grafen von Luxemburg gelangt war, und Ungarn, das der Luxemburger Sigismund über die Erbtochter gewonnen hatte, werden rasch wieder selbständig. Im Südosten erobern die seit dem 11. Jahrhundert zum Islam übertretenden Türken unter der Führung der Dynastie der Osmanen (Osman I. um 1300) Konstantinopel (1453) und beenden das oströmische Reich. Im Westen gelangt das im Laufe der Zeit an Frankreich gefallene, seit 1363 aber in einem Herzogtum wieder verselbständigte Burgund (mit Luxemburg, Flandern und Holland) über die 1477 mit dem späteren König und Kaiser Maximilian verheiratete Erbtochter Maria († 1482) 1491 an Habsburg.
Lit.: Angermeier, H., Königtum und Landfriede im deutschen Spätmittelalter, 1966; Appelt, H., Privilegium minus, 1973; Boshof, E., Die Salier, 4. A. 2000; Das spätmittelalterliche Königtum im europäischen Vergleich, hg. v. Schneider, R., 1987; Die Ostsiedlung des Mittelalters als Problem der europäischen Geschichte, 1975; Die Rolle der Juristen bei der Entstehung des modernen Staates, hg. v. Schnur, R., 1986; Engels, O., Die Staufer, 8. A. 2004; Hoensch, J., Die Luxemburger, 2000; Investiturstreit und Reichsverfassung, hg. v. Fleckenstein, J., 1973; Landfrieden – Anspruch und Wirklichkeit, hg. v. Buschmann, A. u. a., 2002; Landwehr, G., Die Verpfändung der deutschen Reichsstädte im Mittelalter, 1967; Moraw, P., König, Reich und Territorium im späten Mittelalter, 1971; Moraw, P., Von offener Verfassung zu gestalteter Verdichtung, 1985; Schneidmüller, B., Die Welfen, 2000; Wadle, E., Landfrieden, Strafe, Recht, 2001
II. Wirtschaft
Die Wirtschaft ist in erster Linie Landwirtschaft. Auf der Suche nach besseren Lebensbedingungen steigt aber die Bedeutung von Gewerbe und Handel rasch. Sie finden ihre Schwerpunkte in den nun entstehenden Städten.
Die Entstehung der Stadt im Rechtssinn beginnt dabei damit, dass den Kaufleuten (an einzelnen Orten) seit dem 11. Jh. von Herren auch über ihre unmittelbare Tätigkeit hinaus besondere Vorrechte verliehen werden (z. B. 1033 Jena/Naumburg), die seit Anfang des 12. Jh. an die Bewohner (lat. cives, mhd. buren) einer burg (lat. civitas) gewährt werden (Personenrecht, Erbrecht, Grundstücksrecht, Verfahrensrecht). Zugleich wird das Recht der burg (civitas) als im Verhältnis zur Umgebung besonderes Recht angesehen und bezeichnet (1101 Speyer lat. ius civile, mhd. burgreht). Wenig später werden civitates neu geschaffen und mit besonderem Recht ausgestattet (»Gründungsstadt«, bekanntestes Beispiel 1120 Freiburg im Breisgau) und die Bewohner der nun als stat, Stadt von den Burgen der Ritter unterschiedenen Orte als Bürger (lat. civis, burgensis) bezeichnet.
Zwar sind nicht alle Gründungen und Rechtsverleihungen erfolgreich, doch gibt es am Ende des Mittelalters insgesamt rund 4000 Städte (mit besonderem Recht, Befestigung, vielfältigem Gewerbe und Selbstverwaltung) im Reich, von denen Köln als größte etwa 40000 und Metz, Straßburg, Nürnberg, Augsburg, Wien, Prag, Magdeburg, Lübeck, Danzig ungefähr je 20000, freilich rund 90% der Städte aber jeweils nicht mehr als 2000 Bewohner haben.
Die Stadt ermöglicht den eigentlichen Beginn und Aufschwung der Marktwirtschaft und der Geldwirtschaft.
1. In der Landwirtschaft, die im Wege der Binnenkolonisation wie der Ostkolonisation (Ostsiedlung) neues Land gewinnt, dringt die Grundherrschaft weiter vor. Die Dreifelderwirtschaft setzt sich durch, wobei zwecks Intensivierung bald die Dorfflur in einzelne Gewanne geteilt wird (Vergewannung), in denen grundsätzlich jeder Hof einen einheitlich zu bewirtschaftenden (Flurzwang) Anteil hat, während die Nutzung des knapper werdenden Gemeinlandes an den Grenzen (Marken) der Orte zu den nächsten Orten (mhd. almeinde, nhd. Allmende) nun (str.) in der Form der Markgenossenschaft (Bezeichnung des 19. Jh.) der Hofstelleninhaber erfolgt.
Seit dem 12. Jh. wird auf der Suche nach besseren Lebensbedingungen die Fronhofsverfassung (Villikationsverfassung) der Grundherrschaft teilweise aufgelöst und der Bauer vielfach tatsächlich verselbständigt.
Damit soll den Gefahren des langsamen Verlustes der Haupthöfe an die sie bewirtschaftenden Meier (von lat. maior, der Größere) und der Abwanderung der abhängigen Bauern (Hintersassen) in die freieres Recht gewährenden Städte und damit der Wüstung (Wüstwerdung) ihrer Dörfer vorgebeugt und zugleich eine bessere Nutzung erzielt werden. Deshalb werden die Nebenhöfe vom Haupthof gelöst und außerdem das Land auf Zeit gegen Geld verpachtet (Rentenwirtschaft, Rentengrundherrshcaft). Dadurch werden die Bauern von Naturalabgaben und Frondiensten befreit, zugleich aber gezwungen, sich Geld durch Vertrieb von Waren auf dem Markt zu besorgen.
Im Osten werden anlässlich der Kolonisation (Ostsiedlung) den Siedlern verhältnismäßig große Freiheiten zugesichert (Rodung macht frei). Da aber der vielfach ritterliche Siedlungsunternehmer (lat. locator) die ihm gewährte bevorrechtigte Stellung allmählich dazu ausnutzt, seine infolge der Umwandlung des Ritterheeres in Söldnertruppen verringerten Einkünfte durch Erweiterung seiner Landwirtschaft zu erhöhen, verschlechtert sich bald die Lage seiner Bauern.
Am Ende des Mittelalters trifft die infolge der Verbesserung und Intensivierung der Wirtschaftsweise erhöhte Gütererzeugung auf einen durch die im Gefolge der Kreuzzüge seit 1348 (Belagerung der genuesischen Niederlassung in Caffa auf der Halbinsel Krim) eingeschleppte Pest (Epidemien auch 1360-1362, 1366-1369, 1374-1375, 1400, 1407, 1414-1417, 1424, 1427, 1432-1435, 1438-1439, 1445, 1464 usw.) hervorgerufenen Bevölkerungsrückgang in den Absatzgebieten (Städten). Als Folge verfallen die Preise. Die Landwirtschaft gerät in eine Krise (Agrarkrise).
2. Das Gewerbe differenziert sich mit dem Aufblühen der Städte sehr rasch und sehr stark (z. B. Bäcker, Metzger, Schneider, Tischler, Glaser usw.). Das Handwerk schließt sich in anfangs freiwilligen Zünften (mhd. zumft, Übereinkunft) zusammen, die aber bald Zwangsverbände zur wirtschaftlichen Sicherung der Mitglieder und Bekämpfung der Außenseiter (Bönhasen, mnd. buten der hanse, außerhalb der Schar) werden.
Seit dem 13. Jh. ist die Qualifikation als Meister, die ihrerseits eine Lehrtätigkeit und Gesellentätigkeit bedingt, Voraussetzung der Aufnahme in die Zunft.
Zur gleichen Zeit zeigt sich allmählich die neue Organisationsform des Verlages.
Bei ihr vertreibt nicht der Hersteller das Erzeugnis, sondern der von ihm verschiedene Verleger. Er liefert oft auch einen Teil der Geräte und Stoffe. Er bestimmt Art und Umfang der Erzeugung.
3. Der Handel belebt sich rasch seit dem 11. Jh., nachdem immer mehr Menschen Waren nachfragen, die sie selbst nicht oder nicht günstig herstellen können, und umgekehrt auch immer mehr Menschen in der Lage sind, solche Güter durch Gegenleistungen (Geld) zu erwerben. Begünstigend wirkt dabei der Außenhandel mit dem Orient und infolge der Ostsiedlung mit dem Osten und Norden (Gründung Lübecks 1158). Entscheidend wird aber das Wachstum des Binnenhandels selbst, das mit der Verstädterung erfolgt.
Voraussetzung für die Belebung des Handels ist der Übergang zur Geldwirtschaft.
Er setzt eine hinreichende Menge Münzmetall voraus. Dieses steht in Form der seit Ende des Frühmittelalters durch Bergbau gewonnenen Edelmetalle nunmehr zur Verfügung, wobei neben dem silbernen Denar (Pfennig) jetzt in zahllosen örtlichen Münzstätten auch größere sowie goldene Münzen (Groschen [lat. grossus dick] bzw. Florenus [zu Florenz] = Gulden) geprägt werden und als neue Gewichtseinheit die Mark (zwei Drittel eines Pfunds) erscheint. Dazu kommen bald die spezifischen Tätigkeiten des wegen der örtlichen Verschiedenheit der Münzen sehr wichtigen, in Italien entwickelten Geldwechsels (auf Geldbänken) und anderer Bankgeschäfte.
Zum Schutz ihrer Geschäfte schließen sich Kaufleute und die von ihnen geprägten Städte vielfach zu bedeutenden Bündnissen (Städtebünden) zusammen.
Das bekannteste Beispiel ist die Hanse (ahd. hansa, Schar). Sie beruht auf früheren Einzelverbänden von Kaufleuten, die sich im Interregnum (1254-1273) vereinigen. Dem seit 1358 als Städte der deutschen Hanse bezeichneten Bund gehören als Mitglieder mehr als 70 meist norddeutsche Städte mit Niederlassungen in London, Bergen und Nowgorod an. Seit dem 15. Jh. treten ihm die Flächenstaaten entgegen.
Daneben ändert sich auch die Wirtschaftsweise des einzelnen Kaufmanns in vielerlei Hinsicht.
Seit dem 13. Jh. betreibt er sein Geschäft von einem festen Hauptsitz (Laden) aus. Er bedient sich der Schrift und führt nach italienischen Vorbild über seine Tätigkeit Bücher. Er verwendet kaufmännisches Hilfspersonal (Kaufgesellen, Agenten), schließt sich mit anderen zu Gesellschaften zusammen (z. B. Große Ravensburger Gesellschaft 1380-1530) und spezialisiert sich (Transport, Kommission).
Der Förderung des Handels dienen Messen (lat. missa, kirchliche Messe) an verkehrsgünstigen Orten (Champagne, Brügge, Genf, Frankfurt, Leipzig). Behindert wird der Handel vor allem durch Zölle, Stapelrecht und Umschlagsrecht (Pflicht zum Anbieten oder Umsetzen an bestimmten bevorrechtigten Orten), politische Wirren und auch Überfälle (z. B. Raubritter). Dennoch bietet der Handel die besten Gewinnmöglichkeiten.
Lit.: Bader, K., Studien zur Rechtsgeschichte des mittelalterlichen Dorfes, Bd. 1ff. 1957ff.; Die Grundherrschaft im späten Mittelalter, hg. v. Patze, H., 1983; Die Stadt des Mittelalters, hg. v. Haase, C., Bd. 1ff. 1969ff.; Dollinger, P., Die Hanse, 1966; Dilcher, G., Die Entstehung der lombardischen Stadtkommune, 1967; Gilden und Zünfte, 1985; Goetz, H., Leben im Mittelalter, 1986; Hammel-Kiesow, R., Die Hanse, 2000; Planitz, H., Die deutsche Stadt im Mittelalter, 5. A. 1980; Simon, T., Grundherrschaft und Vogtei, 1995; Steppan, M., Das bäuerliche Recht an der Liegenschaft, 1995
III. Gesellschaft
Grundsätzlich erhalten bleibt die Gliederung der Gesellschaft in Adel, Freie(, Freigelassene) und Unfreie.
Dabei teilt sich der Adel wegen der stark gegliederten Lehnspyramide (Heerschildordnung, König, geistliche Fürsten, weltliche Fürsten, freie Herren, schöffenbar Freie, Mannen der schöffenbar Freien[, Ministeriale]) in Fürsten (zu ahd. furisto, der vorderste), Grafen und freie Herren. Die Freien geraten auf dem Land vielfach in Abhängigkeit (grundherrschaftlich durch Leiheverhältnisse, im Osten später auch gutsherrschaftlich), doch kann auch Freiheit neu erlangt werden (Herrendienst der Ministerialen, Rodungsfreiheit und Siedlungsfreiheit, Freiheit der Stadtbewohner). Die Freigelassenen und Unfreien verbessern ihre Lage wegen der Anziehungskraft der Städte, in denen sie ohne große Schwierigkeiten frei werden können, der Siedlungsfreiheit und der insgesamt blühenden Wirtschaft.
Die Unterscheidung nach der Freiheit verliert aber an Gewicht durch die seit dem 11. Jh. zunächst vielleicht in Frankreich, dann aber bald auch im Reich sichtbare berufsständische Gliederung in Ritter, Bürger und Bauern.
Ritter ist ursprünglich jeder (Burgbewohner), der (meist als Dienstmann) Kriegsdienst als Reiter zu Pferd leistet. Später tritt eine besondere ritterliche Lebensweise als weiteres kennzeichnendes Merkmal hinzu. Seit dem 12. Jh. schließen sich die Ritter nach unten ab und fordern bald Ritterbürtigkeit und besondere Aufnahme (Schwertleite, Ritterschlag) auf Grund vorangehender Schulung (Knappe) für ihren Stand. Verleihung der Zugehörigkeit wird seit 1346 unter französischem Einfluss möglich (Briefadel). Wohnsitz des Ritters ist die durch die Befestigung (Mauer) gekennzeichnete Burg (ca. 10000 im deutschen Sprachraum).
Der Bürger ist zunächst lediglich der Bewohner der burg. Soweit er Handel betreibt, erlangt er im 11. Jh. aber besondere Rechte. Sie verfestigen sich im 12. Jh. zu einem eigenen Rechtsstatus, der den Bürger vom Nichtbürger unterscheidet und der dann durch Geburt, Aufnahme (z. T. gegen Bürgergeld und Eidesleistung) oder Ersitzung erworben wird. Seine Art burg wird seit dem 12. Jh. im Gegensatz zu der burg des Ritters mehr und mehr als stat, Stadt, und ihr Recht nicht mehr als burgreht, sondern als Stadtrecht bezeichnet.
Der Bauer (ahd. buari, giburo, Bewohner, zu ahd. bur, Haus, vgl. Vogelbauer, Nachba[ue]r) ist anfangs nur der Hausbewohner, Nachbar. Seit dem 11. Jh. wird die landwirtschaftliche Tätigkeit ein besonderes Kennzeichen für jedermann, der nicht Ritter oder Bürger ist. Bauer heißt dann, wer Landwirtschaft betreibt. Die dazu gehörigen Personen werden von den Rechtsquellen des späten 11. Jh. besonders erfasst und geschützt. Seit 1152 wird ihnen die Führung von Schwert und Speer verboten.
Von gewisser ständischer Bedeutung ist auch die von der Kirche ausgehende Trennung von Geistlichen (Klerus, zu griech. kleros, Los, Erbteil) und Laien.
Die Zahl der Angehörigen eines Haushalts umfasst jedenfalls in der Stadt im Durchschnitt nicht mehr als 5 Menschen.
Lit.: Bosl, K., Die Reichsministerialität der Staufer, Bd. 1f. 1950f.; Bumke, J., Studien zum Ritterbegriff des 12. und 13. Jahrhunderts, 2. A. 1976; Zallinger, O., Ministeriales und milites, 1878
IV. Geistesleben
Die christliche Religion ist die Grundlage der geistig-politischen Ordnung. Allerdings beginnt nun über die bloße Fortführung und Aneignung des antiken Kulturgutes hinaus, wie sie für das Frühmittelalter kennzeichnend gewesen waren, ein Ausgriff auf neue eigene Formen. Dabei durchdenkt die sog. Scholastik (zu lat. schola, Schule) mit ihrer noch kleinen Zahl kluger Gelehrter die bisher nur weitergegebenen Glaubensinhalte in gewisser Weise neu.
Sie entwickelt dazu die scholastische (dialektische) Methode des (lat.) sic et non (ja und nein, Petrus Abaelardus, 1079-1142), die gekennzeichnet ist durch klares Herausarbeiten der Frage, scharfe Abgrenzung und Unterscheidung von Begriffen, logisch geformte Beweise sowie - in der Praxis allerdings leicht spitzfindige und wirklichkeitsfremde - Erörterung der Gründe und Gegengründe. Mit ihr versucht man, über das bisherige bloße Erklären hinaus gegensätzliche Aussprüche der als solche als nicht angreifbar geltenden Autoritäten durch systematisches Denken (als Scheinwidersprüche aufzulösen und dadurch) auszugleichen. Damit gelingt auch ein intellektuell vertieftes Glaubensverständnis, das etwa Gott für durch die Scholastik bewiesen hält.
Den Höhepunkt bilden die Arbeiten des italienischen Dominikaners Thomas von Aquin (1225-1274), in denen auf der Grundlage der von den Arabern vermittelten Werke des antiken griechischen Philosophen Aristoteles einem selbständigen wissenschaftlichen Denken Bahn gebrochen wird. Überwunden wird die Scholastik am Ende des Mittelalters durch die Schriften des (Bischofs) Nikolaus von Kues (1401-1464).
Parallel zur Entwicklung der scholastischen Methode beginnt eine neue Beschäftigung mit den Grundfragen auch auf anderen, nicht philosophischen Sachgebieten. Sie erfolgt auf den von den alten Klosterschulen grundsätzlich verschiedenen neuen Universitäten mit ihren bis zu vier Fakultäten (Theologie, Jurisprudenz, Medizin und der die Eingangsphase erfassenden artistischen Fakultät [lat. artes liberales, freie Künste]). Diese Bildungseinrichtungen breiten sich seit dem 12. Jh. von Italien aus über ganz Europa aus (nach 1139 Oxford, um 1170 Montpellier, 1219 Paris, 1348 Prag, 1364 Krakau, 1365 Wien [kirchliches Recht, ab 1493 auch weltliches Recht], 1386 Heidelberg) und gewinnen - wenn auch mit deutlichem Rückstand gegenüber Italien und Frankreich, das bereits um 1400 etwa 3000 bis 3300 Juristen aufweist - rasch erheblichen Zulauf (etwa 200000 Immatrikulationen an den 12 Universitäten des Deutschen Reiches, d. h. allmählich zunehmend jährlich bis zu 3000 Studienanfänger, davon 80-90% Artisten, ca. 80% aus Städten und Märkten, rund 50000 Namen in der Kölner Universitätsmatrikel bis 1800). Die an ihnen ausgebildeten Juristen finden vor allem an den Fürstenhöfen, in kirchlichen Zentren und in Städten Verwendung (zwischen 1273 und 1493 begegnen insgesamt 230 Juristen in der Nähe des Königs, zwischen 1250 und 1440 etwa 700 Juristen in 60 deutschen »Ländern«).
Unterhalb der Universitäten entstehen an vielen Orten nun meist städtisch-weltliche Schulen (überwiegend Lateinschulen mit 50 bis 200 Schülern, gelegentlich auch bereits deutsche Schulen). Das Schreiben wird hinsichtlich des Beschreibstoffs durch die Übernahme der chinesischen Erfindung des aus Lumpen gewonnenen und damit 25-90% billigeren Papieres (nach einzelnen Papiermühlen der Mitte des 13. Jahrhunderts in Italien 1390 eine Papiermühle in Nürnberg für Spielkarten) erleichtert (aus der Zeit bis 1500 sind im deutschsprachigen Raum mehr als 100000, zu etwa 90% lateinische Handschriften überliefert, die zu 85% aus der Zeit nach 1300 und zu 66% aus der Zeit nach 1400 stammen), doch kostet ein Buch noch etwa den Wert von Unterkunft und Verpflegung für ein Jahr. Um 1500 können etwa 2-6% der Bevölkerung lesen und schreiben.
Im Übrigen erwächst im Gefolge der von den Rittern getragenen Kreuzzüge zuerst in Frankreich eine besondere ritterliche Kultur, die Mäßigkeit, Tapferkeit, Gerechtigkeit und Weisheit als Lebensziele ansieht. Sie werden in Liedern (Walther von der Vogelweide 1190-1230) und Epen (Parsifal 1210, Wolfram von Eschenbach) verherrlicht. Auf das vor allem rührige und strebsame Bürgertum und den im Verhältnis hierzu allmählich rückständig werdenden Bauern strahlt dies allerdings nur wenig aus.
In der Baukunst folgt dem karolingischen Baustil im 10. Jh. die Romanik und im 13. Jh. die Gotik.
Lit.: Die Renaissance der Wissenschaften im 12. Jahrhundert, hg. v. Weimar, P., 1969, 1981; Dotzauer, W., Deutsches Studium und deutsche Studenten an europäischen Hochschulen, in: Stadt und Universität, hg. v. Maschke, E./Sydow, J., 1977; Fichtenau, H., Ketzer und Professoren, 1992; Fried, J., Die Entstehung des Juristenstandes im 12. Jahrhundert, 1974; Geschichte der Universität in Europa, hg. v. Rüegg, W., Bd. 1ff. 1993ff.; Schulen und Studium im sozialen Wandel des hohen und späten Mittelalters, hg. v. Fried, J., 1986; Schwinges, R., Deutsche Universitätsbesucher im 14. und 15. Jahrhundert, 1986; Steffen, W., Die studentische Autonomie im mittelalterlichen Bologna, 1981; Weber, W., Geschichte der europäischen Universität, 2002
B) Recht
I. Allgemeines
1. Die rechtliche Zersplitterung nimmt mit der Aufgliederung der alten Völker(schaften) (Franken, Alemannen, Bayern, Sachsen[, Friesen, Thüringer] usw.) in zahllose gebietsbezogene Herrschaftsbereiche zu. Aus dem allgemeinen, personal bestimmten Stammesrecht oder Volksrecht (z. B. lat. Lex Baiwariorum, Recht der Bayern), das seit dem 11. Jh. territorial gesehen und als Landrecht (lat. ius terrae, mos provinciae) bezeichnet wird, scheiden zunächst die Städte aus, von denen jede ihr besonderes Recht (Stadtrecht) erlangt. Daneben bilden sich auch immer kleinere Länder (lat. terrae) mit eigenem Recht aus. Außerdem tritt neben das insofern noch als allgemein geltendes Recht angesehene Landrecht (zunächst außerhalb der Städte bzw. der Bürger) das schon im 12. Jh. in Oberitalien in den Libri feudorum (Lehnbüchern) verselbständigte sachlich besondere, die Lehnsverhältnisse betreffende Lehnsrecht. Für die Dienstleute der jeweiligen Herren entstehen eigene, das Dienstverhältnis erfassende Regelungen (Dienstmannenrecht, Hofrecht), für einzelne Bauernschaften, Grundherrschaften oder Dorfer besondere Bestimmungen ihrer eigentümlichen Verhältnisse (Öffnung, Weistum, Hofrecht). Der Herkunft nach können die diesen Rechtsquellen zugehörigen Rechtssätze auf bewusster Setzung (Gesetz) oder auf gewohnheitsmäßiger Anerkennung (Gewohnheitsrecht) beruhen. Die Setzung kann durch einen Herrn (König, Fürst, Grundherr) oder durch die Betroffenen (Dienstleute, Bürger, Bauern) selbst (Einung, Satzung) oder auch im Zusammenwirken beider Kräfte geschehen. Sie kann als besonderes Privileg Einzelner für Einzelne oder mit allgemeiner Geltungskraft für mehrere erfolgen.
Neben dieser verwirrenden Vielfalt von Rechtsregeln stehen zwei weitere, überwiegend in sich geschlossene, allgemeine Geltung anstrebende (universale) Rechtsordnungen. Dies sind das seit dem 11. Jh. wiederbelebte antikrömische Recht (weltliche Recht) einerseits und das auf der Grundlage spätantiker, vielfach römischrechtlicher Regeln stetig fortgebildete kirchliche Recht (kanonische Recht) andererseits. Beide wirken sich nun verstärkt auf das im Reich vorhandene Recht aus.
2. Dementsprechend ist zwischen zahllosen verschiedenen Rechtsquellen zu unterscheiden.
a) Die allgemeinen Bestimmungen lassen sich, so sehr damit der unterschiedliche Ursprung wie die verschiedene Geltungskraft in den Hintergrund gedrängt werden, am besten noch nach dem angesprochenen Rechtskreis gliedern.
aa) Das Reich betreffen zunächst die die Grundordnung ([materielle] Verfassung) aufzeichnenden Regeln. Dazu lassen sich etwa zählen der Ausspruch über die königlichen Rechte auf dem Hoftag von Roncaglia 1158 (lat. sententia de regalibus), Kaiser Friedrichs II. Bündnis mit den geistlichen Fürsten (lat. confoederatio cum principibus ecclesiasticis 1220) und Kaiser Friedrichs II. Festsetzung zugunsten der Fürsten (lat. statutum in favorem principum 1231), das nach seinen Eingangsworten benannte Licet iuris Kaiser Ludwigs des Bayern von 1338 sowie die Goldene Bulle Kaiser Karls IV. von 1356.
Daneben wird das Reich auch in der Friedensgesetzgebung tätig, die einen wesentlichen Anstoß durch die spanisch-französische Gottesfriedensbewegung (lat. treuga Dei, Waffenruhe Gottes - zu bestimmten Zeiten -) des 10. Jh. (Charroux 989 u. a.) erfährt, die sich die Bekämpfung der Gewalt und den Schutz der Schwachen als Ziele setzt.
Hier führt nach älteren Landfriedensvereinbarungen des ausgehenden 11. Jh. Kaiser Heinrich IV. 1103 einen Reichslandfrieden bzw. Reichsfrieden herbei. König bzw. Kaiser Friedrich I. Barbarossa erlässt 1152 und 1186 wichtige Landfriedensgesetze. Ihnen folgen vor allem der authentisch in Latein, daneben aber auch deutsch abgefasste Mainzer Reichslandfriede Kaiser Friedrichs II. von 1235 und der unter König Maximilian beschlossene ewige Landfriede von 1495.
Verschiedentlich wird Reichsrecht in - seltenen - Reichsweistümern und Reichssprüchen von Reichsorganen zum Ausdruck gebracht.
Außerdem gewähren die Herrscher zahlreiche einzelne Privilegien.
Lit.: Dilcher, H., Die sizilianische Gesetzgebung Kaiser Friedrichs II., 1975; Gernhuber, J., Die Landfriedensbewegung in Deutschland bis zum Mainzer Reichslandfrieden, 1952; Klingelhöfer, E., Die Reichsgesetze von 1220, 1231/2 und 1235, 1955; Die Konstitutionen Friedrichs II. von Hohenstaufen für sein Königreich Sizilien, 1973; Wolf, A., Gesetzgebung in Europa 1100-1500, 2. A. 1996
bb) Für das Land wird entscheidend die Sammlung des Rechts durch einzelne im Rechtsbuch, während das Gesetz (auch hier) noch im Hintergrund bleibt .
Ihr geht die Wiederentdeckung der justinianischen Sammlung des römischen Rechts der Juristenschriften in den Digesten durch einzelne Gelehrte in Italien, wo vielleicht seit dem (9. oder) 10. oder 11. Jh. schon eine Schule des langobardischen Rechts in Pavia besteht (sog. Liber Papiensis, Buch von Pavia, mit Expositio bzw. Erklärung), um die Wende des 11. zum 12. Jh. voraus, neben der auch auf eine Wiederbesinnung auf das justinianische Recht im oströmischen Reich hinzuweisen ist. Außerdem verfasst - ebenfalls mit gewissen oströmischen Parallelen – in Bologna um (1124 bis) 1140 (erste, durch vier Handschriften überlieferte Fassung um 1140, zweite Fassung um 1144/1145) der italienische Magister und (kamaldulensische?) Mönch (?) Gratian mit seiner neuartigen, rund 3800 Kapitel kirchenrechtlicher Quellen umfassenden, Konzilscanones, päpstliche Dekretalen (meist Entscheidungen einzelner Fälle, durch Verallgemeinerung auch Erlasse allgemeinerer Art) und Texte von Kirchenvätern einschließenden Concordia discordantium canonum (Zusammenfassung widersprüchlicher Regeln, sog. decretum Gratiani, Dekret Gratians mit 101 Distinktionen, 36 Causae und nochmals 5 Distinktionen, mindestens zwei Redaktionen unterscheidbar) eine neue, scholastischer Methode folgende systematisch auswählende Sammlung kirchlichen Rechts (allgemeine Rechtslehre, Recht des Klerus, Verfahrensrecht, Vermögensrecht, Eid, Krieg, Ehe, Buße), deren Kenntnis sich in Deutschland bereits vor 1160 nachweisen lässt. An sie schließen sich schon in der Kirche selbst zwischen 1187 und 1215 fünf Sammlungen der meist für einzelne Fälle ergangenen päpstlichen Dekretalen (compilationes antiquae, alte Kompilationen) und später weitere Sammlungen an (1234 Sammlung der Dekretalen (Entscheidungen) Gregors IX. durch Raimund von Penaforte im fünfteiligen liber (decretalium) extra (decretum vagantium) (X) d. h. Buch außerhalb des gratianischen Dekrets (Gerichtsverfassung, Prozessrecht, Ämterwesen, Eherecht, Strafrecht), 1298 liber sextus (VI.) (d. h. sechstes Buch nach den fünf Büchern des liber extra) Papst Bonifaz’ VIII., 1317 Clementinen d. h. durch Papst Clemens V. begonnene Sammlung der weiteren bis dahin entstehenden Dekretalen und Konzilsbeschlüsse), die zusammen mit dem (niemals amtlich approbierten) Dekret (Gratians) die Gesamtheit der kirchlichen Rechtes enthalten (»Corpus iuris canonici« so seit etwa 1500, amtlich 1580).
Sowohl das gesammelte römische Recht wie auch die neuen Sammlungen des kirchlichen Rechts erweisen sich als so eindrucksvoll, dass zu Beginn des 13. Jh. auch in anderen Bereichen (private) Aufzeichnungen des geltenden Rechts veranstaltet werden (Très Ancien Coutumier 1199-1223 Normandie, Skanske Lov 1202-1220 Dänemark, Västgötalagen 1220 Schweden, Consuetudines Ilerdenses 1228 Spanien usw.).
In Deutschland entsteht als bekannteste mittelalterliche Rechterkenntnisquelle überhaupt das vom Namen her vielleicht dem speculum ecclesiae des Honorius Augustodunenis (erste Hälfte des 12. Jh., sog. Spiegelliteratur z. T. schon im 10. Jh.) folgende Rechtsbuch Sachsenspiegel (1221-24) des Eike von Repgow (Dorf Reppichau bei Dessau).
Der Verfasser nennt sich in der gereimten Vorrede selbst. Er ist zwischen 1209 und 1233 sechsmal urkundlich bezeugt und war vielleicht ursprünglich frei und später Dienstmann des Grafen Hoyer von Falkenstein. Möglicherweise hat er die Domschule in Magdeburg besucht. Er bezeichnet sein Werk als spigel der sachsen, in dem die Sachsen ihr Recht wie sonst Frauen im Spiegel ihr Antlitz erschauen sollen. Die einerseits noch verwerteten, andererseits nicht mehr berücksichtigten zeitgenössischen Ereignisse lassen vielleicht eine Datierung der ersten Fassung zwischen 1221 und 1224 zu. Sie ist in Latein gehalten und mit Ausnahme des Lehnrechts (sog. auctor vetus de beneficiis, alter Urheber vom Lehnrecht) nicht erhalten. Vom Verfasser selbst stammt die bald danach verfertigte völlig neuartige Übersetzung aus dem Lateinischen in das Mittelniederdeutsche, die anscheinend bis 1270 mehrfach erweitert wird. Insgesamt stellt der Sachsenspiegel eine private Aufzeichnung des geltenden Rechts durch einen Laien (Rechtsbuch) dar. Sie erfasst das aus verschiedensten Wurzeln (Landfriedensgesetze, Gewohnheitsrecht) erwachsende Recht Ostfalens, bezieht aber auch allgemeinere, selbst biblische und gelehrte Quellen ein. Sie ist vermutlich anfangs nur in zwei Teile (Landrecht, Lehnrecht) und Artikel gegliedert. Zitiert wird sie (als Ssp LdR bzw. LehnR) nach (Buch,) Artikel und Paragraph.
Vom Ende des 13. Jh. breitet sich der Sachsenspiegel, dessen Landrecht jetzt in drei Bücher geteilt wird, in Hunderten teilweise noch erhaltener Handschriften in einem von Holland bis Polen reichenden Gebiet aus. Es werden (4) Bilderhandschriften (Dresdener, Heidelberger, Wolfenbütteler, Oldenburger Bilderhandschrift), Übersetzungen (Latein, Mittelhochdeutsch) und Bearbeitungen (Glossen u. a. des Johann von Buch 1325, Nikolaus Wurm, Brandt von Tzerstede, Dietrich von Bocksdorff) verfasst. Trotz der Verwerfung 14er Artikeln(lat. articuli reprobati, zurückgewiesene Artikel) durch den Papst auf Vorschlag des Augustinermönches Johann von Klenkok wird der Sachsenspiegel, als dessen Schöpfer später die Kaiser Karl (der Große) und Friedrich (Barbarossa) gelten, als Quelle des objektiven Rechts behandelt und als Grundlage des in der Neuzeit verbreiteten gemeinen Sachsenrechts verwendet.
Dem Sachsenspiegel schließen sich im Norden zahlreiche weitere Rechtsbücher an (Görlitzer Rechtsbuch 1300, Breslauer Landrecht 1356, Berliner Stadtbuch 1397, Richtsteig Landrechts 1335, Richtsteig Lehnrechts E. 14. Jh., sächsisches Weichbild 1300 u. a.).
Zwischen 1260 und 1270 wird der Sachsenspiegel in Augsburg ins Mitteloberdeutsche (Mittelhochdeutsche) übersetzt und um 1274/1275 durch Aufnahme lokalen und gelehrten Rechts zum nur in einer (Innsbrucker) Handschrift überlieferten Deutschenspiegel (Spiegel aller deutschen Leute) umgearbeitet. Diese noch unvollständige Bearbeitung wird in unmittelbarem Anschluss hieran von dem unbekannten Verfasser des Land- und Lehnrechtsbuchs (Kaiserrechts) fortgesetzt, das seit 1609 (Goldast) allgemein als Schwabenspiegel bezeichnet wird.
Dieser wird in mehr als 400 bekannten Handschriften über ganz Süddeutschland (einschließlich Österreichs und der Schweiz) verbreitet. Ihm folgen das Rechtsbuch des Ruprecht von Freising (1328), das oberbayerische Landrecht (1335) und der vielleicht um 1344/50 in Hessen verfasste sog. Frankenspiegel (Kleines Kaiserrecht). Wichtige andere landschaftliche Rechtsaufzeichnungen sind in Friesland die 17 Küren und 24 Landrechte vermutlich des 12. Jh., denen sich noch zahlreiche jüngere Texte anschließen, in Österreich (unter der Enns) die ältere Fassung des österreichischen Landrechts von vielleicht 1237 und die lanndtsrecht in Steir von der Wende vom 14. zum 15. Jh., in der Schweiz die Landbücher und Talbücher von Glarus (1387), Appenzell (1409), Zug (1432) sowie in Frankreich vor allem li livres des coustumes et des usages de Beauvoisins (Coutumes de Beauvaisis, Gewohnheiten von Beauvaisis) des Philippe des Beaumanoir (1280/1283).
Lit.: Bühler, T., Gewohnheitsrecht und Landsherrschaft im ehemaligen Fürstbistum Basel, 1972; Droege, G., Landrecht und Lehnrecht im hohen Mittelalter, 1969; Eckhardt, K., Der Deutschenspiegel, 1924; Eike von Repgow, Sachsenspiegel, hg. v. Schott, C./Schmidt-Wiegand, R., 1984; Elsener, F., Notare und Stadtschreiber, 1962; Gudian, G., Ingelheimer Recht im 15. Jahrhundert, 1968; Guterman, S., From personal to territorial law, 1972; Ignor, A., Über das allgemeine Rechtsdenken Eikes von Repgow 1984; Hagemann, H., Basler Rechtsleben im Mittelalter, Bd. 1 1981ff.; Landau, P., Der Einfluss des kanonischen Rechts auf die europäische Rechtskultur, in: Schriften zur europäischen Rechts- und Verfassungsgeschichte 3 1991, 39ff.; Kroeschell, K., Rechtsaufzeichnung und Rechtswirklichkeit. Das Beispiel des Sachsenspiegels, in: Kroeschell, K., Studien zum frühen und mittelalterlichen deutschen Recht, 1995, 419; Kisch, G., Sachsenspiegel and Bible, 1941; Köbler, G., Land und Landrecht im Mittelalter, ZRG 86 (1989), 1; Oppitz, U., Deutsche Rechtsbücher des Mittelalters, Bd. 1ff. 1990ff.; Sachsenspiegel Landrecht, hg. v. Eckhardt, K., 3. A. 1973; Sachsenspiegel Lehnrecht, hg. v. Eckhardt, K., 2. A. 1956; Winroth, A., The Making of Gratian’s Decretum, 2000
cc) Das Stadtrecht kann sowohl auf Grund privater als auch öffentlich veranlasster Tätigkeit aufgezeichnet sein. Es kann auf einem Privileg eines Stadtherrn, auf eigener städtischer Satzung oder auch auf städtischer Gewohnheit beruhen. Es wird im Norden seit Ende des 12. Jh. als Weichbild (vielleicht lat. forma vici, »so wie es in einer geschlossenen Siedlung üblich ist«) und im Süden wohl schon früher als burgreht bezeichnet.
»Gemeinsame Beschlüsse« des Volkes über die innere Ordnung der Stadt werden dabei in Italien für Mailand schon vor 1077 erwähnt. Die ältesten datierbaren Fälle von Statuten gehören in die Jahre um 1140 (Piacenza, Pisa, Genua), die ältesten datierten Einzelstatuten an die Wende vom 12. zum 13. Jh. (Como 1184, Bergamo 1204, Vercelli 1209, Mailand 1216). Kodizes von Statuten folgen seit der Mitte des 13. Jh.
Im deutschen Teil des Reichs am bekanntesten sind die Stadtrechte von Freiburg im Breisgau (ab 1120, str.), Soest (ab 1150), Augsburg (1156), Lausanne (1157), Freiburg im Üechtland (1157), Bern 1191/1218, Straßburg (12. Jh.), Lübeck (13. Jh.), Enns (1212), Goslar (1219), Wien (1221), Mühlhausen im Eichsfeld (1225), Braunschweig (1227), Innsbruck (1239), Zürich (1218/1255), Basel (1264), Hamburg (1270), Magdeburg (12./13. Jh.), München (1340), Zwickau (vor 1350), Wien (um 1350), Meißen (1358, sog. Rechtsbuch nach Distinktionen) und Eisenach (1384/1387). Vielfach wird dabei das Recht selbst bedeutender Städte nur dadurch sichtbar, dass es schriftlich (von der Mutterstadt) an andere (Tochter-)Städte mitgeteilt oder verliehen wird. Diese sog. Bewidmung führt zur Bildung von Stadtrechtsfamilien insbesondere des Lübecker, Magdeburger, Leipziger, Aachener, Dortmunder, Nürnberger oder Freiburger Rechts.
Lit.: Diestelkamp, B., Die Städteprivilegien Herzog Ottos des Kindes, 1961; Ebel, W., Der Bürgereid als Geltungsgrund und Gestaltungsprinzip des deutschen mittelalterlichen Stadtrechts, 1958; Ebel, W., Lübisches Recht, Bd. 1 1971; Ebel, W., Die Willkür, 1953; Keutgen, F., Urkunden zur städtischen Verfassungsgeschichte, 1901, Neudruck 1965; Köbler, G., Zur Entwicklung des mittelalterlichen Stadtrechts, ZRG GA 86 (1969), 1; Kroeschell, K., Weichbild, 1960
dd) Das Lehnswesen betreffen außer den italienischen libri feudorum (Lehnbücher) von 1150/1220 die Bücher Lehnrecht des Sachsenspiegels (lat. auctor vetus de beneficiis) und des Schwabenspiegels.
ee) Dienstrechte der Dienstleute sind neben dem frühen Hofrecht des Bischofs Burchard von Worms (1023/1025) vor allem von Bamberg (1057-1064), St. Maximin/Trier (1135), den Grafen von Ahr (1150), Köln (1154) sowie Basel, Tecklenburg, Hildesheim und Magdeburg (13. Jh.) überliefert.
ff) Dem Stadtrecht folgen etwas später zahllose ländliche Rechtsquellen, die sich unter dem wissenschaftlichen Begriff Weistum zusammenfassen lassen.
Bäuerliche Rechte (ländliche Rechtsquellen) erscheinen abgesehen von den früheren Hofrechten (Worms 1023/1025, Limburg 1035) erst im 13. Jh. Sie kommen teilweise als sog. Weistümer (Ausdruck quellenmäßig auf Norddeutschland und Westdeutschland beschränkt, sonst Öffnung, Taiding, Ehaft, Ruge, Beliebung, Willkür, Ordnung) zustande, in denen das auf Setzung wie auf Gewohnheit beruhende Recht auf Anfrage von den Betroffenen gewiesen sind.
Lit.: Werkmüller, D., Über Aufkommen und Verbreitung der Weistümer nach der Sammlung von Jacob Grimm, 1973
b) Die Urkunden nehmen vom Ende des 11. Jh. an stark zu.
Als Urkundensprache erscheint im 13. Jh. allmählich das Deutsche, doch stehen von 1230 bis 1300 den etwa 500000 lateinischen Urkunden (70000 Originalurkunden) erst 4200 deutsche Originalurkunden (= 6%, 7 deutsche, im Original überlieferte Urkunden bis 1250, 300 bis 1270, 1100 bis 1290) gegenüber.
Dabei wird in der Königsurkunde, mit der vor allem Einzelrechte verliehen oder bestätigt werden, die Unterschrift des Königs durch das Siegel ersetzt und werden Zeugen aufgenommen. Seit Ende des 12. Jh. wird auch bei Privaturkunden das Siegel (siegelfähiger Personen) üblich.
Im 13. Jh. erscheinen Notariatsurkunden, nachdem das im 11. und 12. Jh. in Oberitalien ausgebildete Notariat über die Kirche auch in Deutschland eingedrungen war. Vielfach werden die Einzelurkunden in Traditionsbücher oder Kopialbücher übernommen, in Registerbüchern registriert oder in Güterübersichten (Urbaren) z. B. Codex Balduineus (Trier), Landbuch der Mark Brandenburg, Habsburger Urbar (1303-1308) usw. verwertet. In der Stadt entstehen dabei die sog. Stadtbücher, auf dem Land sog. Amtsbücher. Bei Gerichten werden die Urteile und Auskünfte gesammelt niedergelegt (z. B. Schöffensprüche aus Ingelheim, Ratsurteile aus Lübeck).
Schließlich werden seit dem 14. Jh. nach dem Vorbild des kirchlichen Verfahrens die Einzelurkunden zu laufenden, meist durch den Sachzusammenhang verbundenen Akten vereinigt und später in Archiven, die der Moderne durch Bestandsübersichten und Findebücher erschlossen werden, abgelegt. In den Pfarreien werden in Italien seit dem 14. Jh. und im Übrigen seit dem 15. Jh. Kirchenbücher für die Verzeichnung der Geburten, Eheschließungen und Sterbefälle eingerichtet.
Seit dem 13. Jh. finden sich wieder einzelne Formularsammlungen.
c) Am Anfang des 12. Jahrhunderts beginnt auch die neue juristische Literatur. Sie nimmt ihren Anfang in Italien, wo die einzige vollständige Handschrift der Digesten (im Mittelalter als ff. abgekürzt) Justinians (Pisaner bzw. Florentiner Handschrift, im 6. Jh. in Konstantinopel entstanden, am Ende des 11. Jh. in Süditalien, [um 1060 oder] 1135 von Amalfi nach Pisa, 1406 von Pisa nach Florenz gebracht) wiederentdeckt und in der zweiten Hälfte des 11. Jahrhunderts (um 1070) abschriftlich nach Bologna vermittelt wird, wobei der heute verlorenen Abschrift bis Buch 33 zusätzlich eine zweite, nicht erhaltene Handschrift zugrundeliegt. Damit wird nicht nur ein sehr umfangreicher Rechtstext wieder zugänglich gemacht, sondern zugleich eine Quelle wieder eröffnet, in der eine große Zahl verallgemeinerter Lebenssachverhalte (Fälle) mit juristischen Lösungen und teilweise auch argumentativen Erwägungen (Begründungen) versehen ist. Als Urheber der durch Wiedergewinnung dieses Textes veranlassten, durch die zunehmende Schulung in den artes liberales (freien Künsten) ermöglichten und im Ergebnis wohl auch gewissen praktischen Bedürfnissen entsprechenden neuen juristischen Literatur gilt Irnerius (1060?-1125?)
Bei ihm, dem später die Bezeichnung (lat.) lucerna iuris, Leuchte des Rechts, verliehen wird, handelt es sich vielleicht um einen Deutschen (Wernerius, Beiname Teutonicus). Er ist zwischen 1112 und 1125 teilweise in der Nähe Heinrichs V. als iudex und causidicus (Richter und Sachwalter) urkundlich bezeugt. Vermutlich erteilt er zuerst Unterricht in den artes liberales (freien Künsten) und erörtert dabei im Rahmen der Rhetorik auch das Recht. Danach wendet er sich wohl den justinianischen Rechtsbüchern zu und versieht sie mit Glossen, d. h. der Erläuterung schwer verständlicher Stellen dienenden Bemerkungen. Dabei werden die in den Quellen vorhandenen Widersprüche im Wege distinktiver Harmonisierung als nur scheinbare Gegensätze dargestellt und vor allem mit dem Kunstgriff der Bestimmung von Regel und Ausnahme (als nunmehr) widerspruchsfrei vereint. Außerdem ist von Irnerius eine kurze Distinktion überliefert, aus der sich ergibt, dass er einen weitreichenden Überblick über den Inhalt der römischen Rechtstexte besaß. Dagegen weiß man von seinem angeblichen Vorläufer Pepo (Petrus?) wie von seinem Zeitgenossen Walfred nur wenig mehr als den Namen. Seine Schüler sind die vier Doktoren (lat. quattuor doctores) Bulgarus, Hugo, Jacobus und Martinus, die 1158 auf dem Hoftag von Roncaglia auftreten.
Fast gleichzeitig bewirkt Gratian noch in der ersten Hälfte des 12. Jh., dass neben dem römischen Recht auch das kirchliche Recht (Dekret, Dekretistik) wissenschaftlich betrachtet wird und wohl bereits vor 1150 einen Gegenstand eines Rechtsunterrichts bildet.
Beides führt dazu, dass seit der Mitte des 12. Jh. zahlreiche Studenten an die bis zum Ende des 12. Jh. äußerlich nicht besonders organisierte Universität von Bologna (um 1200 rund 1000 juristische Studenten, zwischen 1289 und 1562 insgesamt allein 4400 Studenten deutscher Nation, dabei zwischen 1255 und 1330 221 Schweizer) ziehen, um in Vorlesungen (lat. praelectiones) über 6 bis 10 Jahre hinweg das weltliche Recht (lat. ius civile, leges ® Legistik) und das geistliche Recht (lat. ius canonicum, canones ® Kanonistik, canon [M.] Stab, Richtschnur, Regel)) - mit dem Ziel der Erlernung der Fähigkeit, über Rechtsfragen unter Verwendung anerkannter Sätze zu argumentieren, - zu studieren, wobei dies grundsätzlich in den drei Schritten der Textermittlung, Analyse (Aufgliederung, Exemplifizierung, Begründung) und Synthese (Verallgemeinerung, Harmonisierung, Abgrenzung) geschieht und als Ziel der (lat. baccalaureus, licentiatus und schließlich) doctor iuris (utriusque) d. h. Lehrer der (beiden) Rechte angestrebt wird. Am Anfang des 13. Jh. (nach 1215) werden dann die Glossen zum weltlichen Recht, bei dem die römischen Quellen um einige mittelalterliche Anhänge (Codex vermehrt um zwei Konstitutionen Kaiser Friedrichs I. und 11 Konstitutionen Kaiser Friedrichs II. [1312 unter Heinrich VII. Kaisergesetz als Authentica aufgenommen] und Lehnsrecht [libri feudorum]) erweitert werden, durch den Bologneser Professor Accursius (1182/1185-1260/1263) und zum Dekret Gratians durch Johannes Teutonicus (1216? oder 1217) in je einer glossa ordinaria (ordentlicher Glosse) zusammengefasst.
Die um 1230 verfasste accursische Glosse enthält 96940 Einzelglossen. Sie weist mit bis heute unübertroffener Genauigkeit die Parallelstellen und Konträrstellen zu jedem Rechtssatz nach. Sie bestimmt später den Umfang des römischen Rechts, weil, was die Glosse nicht anerkennt, auch das Gericht nicht anerkennt (17. Jh. lat. quidquid non agnoscit glossa, non agnoscit curia).
Neben den Glossen als reinen Texterklärungen stehen die Summen (lat. summae) zur dogmatischen Zusammenfassung des Rechtsstoffes vor allem der Institutionen und des Codex (von Rogerius, Azo [1150-1230], Odofredus (um 1200-1265), für das Dekret von Huguccio um 1188). Die wissenschaftlichen Streitfragen werden in (lat.) dissensiones (Meinungsverschiedenheiten) oder (lat.) quaestiones (Untersuchungen) gesammelt. Die Unterschiede zwischen verschiedenen Rechtsordnungen stellt die sog. Differentienliteratur zusammen.
Der inhaltlichen Erfassung des Stoffes durch die Glossatoren folgt ab der Mitte des 13. Jh. die Sachdurchdringung in Form der vom jeweiligen Text deutlich getrennten zusammenhängenden Kommentierung (in Kommentaren, lat. lecturae) und der jeweils begründeten gutachterlichen Anwendung auf die Praxis (Kommentatoren), wobei das als unmittelbar geltendes Recht angesehene gelehrte Recht den örtlichen Statuten (gesetzten Rechtssätzen) als ius commune (gemeines Recht) gegenübertritt und im Verhältnis beider zueinander für die Juristen der oberitalienischen Städte das eigene Stadtrecht (Statut) stets den Vorrang hat.
Wegen der Kommentierungstätigkeit bezeichnet man die Juristen des 14. und 15. Jh. meist als Kommentatoren oder Konsiliatoren (lat. consilium, Rat, Gutachten) - früher einfach als Postglossatoren, d. h. die den Glossatoren Nachfolgenden -. Ihre bekanntesten Vertreter sind Bartolus de Saxoferrato (1313-1357) und Baldus de Ubaldis (1327-1400). Bartolus entwickelt die Auslegung der weltlichen Rechtsquellen zu so hoher Vollkommenheit, dass das Sprichwort entsteht, niemand sei ein guter Jurist, der nicht Bartolist sei (lat. nemo bonus iurista nisi bartolista). Baldus ragt durch seine vorzügliche Beherrschung des gesamten geltenden römischen, kirchlichen und einheimischen Rechts sowie seine rund 2800 Gutachten hervor, durch die etwa das Gesellschaftsrecht, Wechselrecht und internationale Privatrecht wesentlich gefördert werden. Für das Verfahren wird dagegen nach älteren (lat.) ordines iudiciorum (Gerichtsordnungen), z. B. des Tancredus um 1216) das monographische (lat.) speculum iudiciale (Gerichtsspiegel) des französischen Geistlichen und Modeneser Rechtslehrers Wilhelm Durantis d. Ä. (1230-1296) von 1276/90 grundlegend. Die Kanonistik beschäftigt sich nun hauptsächlich mit den Dekretalen (Dekretalistik, z. B. Hostiensis, Papst Bonifaz VIII.).
In Deutschland stammen die ältesten rechtswissenschaftlichen Arbeiten von Klerikern (z. B. [lat.] tabula iuris utriusque, Tafel beider Rechte des Johannes von Erfurt von 1280). Sie verfassen vor allem auch Schriften über das Reich und seine Rechte (Alexander von Roes [lat. Memoriale de prerogativa Romani imperii], Lupold von Bebenburg 1338, Wilhelm von Occam, Marsilius von Padua). Mit den einheimischen Quellen befassen sich die deutschen Juristen seit dem Beginn des 14. Jh. (u. a. Sachsenspiegelglosse, Richtsteig Landrechts).
Im oströmischen Reich entsteht um 1345 der Basilikenauszug des Konstantinos Harmenopoulos (griech. Hexabiblos, »Sechs-Bücher«).
In den lateinischen Rechtshandschriften entwickelt sich aus lateinisch c bzw. cc (= capitulum bzw. capitulum capituli) das Paragraphenzeichen (§§) (str.).
Lit.: Ascheri, M., I consilia dei giuristi medievali, 1982; Bellomo, M., L’Europa del diritto comune, 5. A. 1991; Caenegem, R. van, The Birth of the English Common Law, 1973; Coing, H., Römisches Recht in Deutschland, in: Ius Romanum medii aevi V 6 1964; Das Privileg im europäischen Vergleich, 1999; Die Protokoll- und Urteilsbücher des königlichen Kammergerichts aus den Jahren 1465 bis 1480, hg. v. Battenberg, F. u. a., 2004; Dolezalek, G., Verzeichnis der Handschriften zum römischen Recht bis 1600, Bd. 1f. 1972; Dolezalek, G., Repertorium manuscriptorum veterum Codicis Iustiniani, 1985; Ebel, F., Über Legaldefinitionen, 1974; Engelmann, W., Die Wiedergeburt der Rechtskultur in Italien durch die wissenschaftliche Lehre, 1938; Fried, J., Die Entstehung des Juristenstandes im 12. Jahrhundert, 1974; Fried, J., Die Rezeption Bologneser Wissenschaft in Deutschland während des 12. Jahrhunderts, Viator 21 (1990), 103; Gaudemet, J., Das römische Recht in Gratians Dekret, Österreich. Archiv f. Kirchenrecht 12 (1961), 177; Glossen zum Sachsenspiegel Landrecht – Buch’sche Glosse, hg. v. Kaufmann, F., 2002; Gutzwiller, M., Geschichte des Internationalprivatrechts, 1977; Herberger, M., Dogmatik 1981; Horn, N., Aequitas in den Lehren des Baldus, 1968; Koschaker, P., Europa und das römische Recht, 4. A. 1966; Krause, H., Kaiserrecht und Rezeption, 1952; Otte, G., Dialektik und Jurisprudenz, 1971; Papsturkunden und europäisches Urkundenwesen, hg. v. Herde, P. u. a., 1999; Ridder-Symoens, H. de, Deutsche Studenten an italienischen Rechtsfakultäten, Ius commune 12 (1984); Savigny, F. v., Geschichte des römischen Rechts im Mittelalter, Bd. 1ff. 2. A. 1834ff.; Schmutz, J., Juristen für das Reich, 2000; Trusen, W., Anfänge des gelehrten Rechts in Deutschland, 1962; Trusen, W., Spätmittelalterliche Jurisprudenz und Wirtschaftsethik, 1961; Utrumque ius, hg. v. Schrage, E., 1992; Visky, K., Geistige Arbeit und die artes liberales in den Quellen des römischen Rechts, 1977; Wolter, U., Ius canonicum in iure civili, 1975; Wiegand, W., Studien zur Rechtsanwendungslehre der Rezeptionszeit, 1977; Willoweit, D., Das juristische Studium in Heidelberg und die Lizentiaten der Juristenfakultät von 1386 bis 1436, FS Universität Heidelberg Bd. 1 1985, 85
d) Neben diesen vielfältigen und umfassenden unmittelbaren Rechtserkenntnisquellen verlieren die allgemeinen Geschichtsquellen für die Rechtsgeschichte verhältnismäßig an Bedeutung.
3. Für das Recht im allgemeinen wird einerseits die aus der Kirche stammende Vorstellung, dass das Recht von Gott kommt (Kirchenvater Augustinus [lat.] deus fons iustitiae, Gott ist die Quelle des Rechts, Psalm 10, 8 [lat.] Quoniam iustus [est] dominus, et iustitias dilexit, weil der Herr gerecht ist und das Recht liebt; Sachsenspiegel (1221/1224) Gott ist selbst das Recht) und dementsprechend gut und alt ist und daher nicht geschaffen, sondern nur nach eventueller Verdunkelung wiederhergestellt (reformiert) werden kann, verbreitet.
Andererseits wird aber schon seit dem 12. Jh. unter Rückbesinnung auf die antiken Herrscher Recht stärker als zuvor bewusst gesetzt (päpstliche Dekretalen, Landfrieden, Assissen von Ariano Rogers II. [1140], ronkalische Gesetze 1158, [lat.] liber augustalis [1231] Friedrichs II. für Sizilien [Konstitutionen von Melfi], 1234 [lat.] liber extra Gregors IX.), wobei die Bezeichnung lex wieder von dem allgemeinen Inhalt »Recht« auf den im klassischen Latein üblichen Inhalt »Gesetz« zurückgeführt wird. Weiter neigt man zur schriftlichen Festlegung (Schriftlichkeit) und zum Gebrauch der Nationalsprache (Volkssprache). Außerdem interessieren sich zunehmende Bevölkerungsschichten für das gelehrte und rationale Recht der kirchlichen und römischen Quellen, dessen Vorstellung man mehr und mehr übernimmt (Rezeption, Aufnahme des gelehrten Rechts).
Lit.: Kroeschell, K., Recht und Rechtsbegriff im 12. Jahrhundert, in: Kroeschell, K., Studien zum frühen und mittelalterlichen Recht, 1995, 277; Zwerenz, G., Der Rechtswortschatz der Urteile des Ingelheimer Oberhofes, 1988 (Diss.)
II. Öffentlicher Bereich
1. Verfassung
a) Reich
An der Spitze des Reiches steht der König (, der in Realunion auch König Burgunds und Italiens ist). Er ist (divina favente clementia, kraft Gottes Gnade) Stellvertreter Gottes auf Erden. Er verkörpert das Reich, dessen transpersonale, von der Person des Königs unabhängige Existenz seit dem 13. Jh. in den Vordergrund tritt.
Der König wird bestimmt durch Geblütsrecht einerseits und Wahl andererseits, wobei diese vor allem zwischen 1250 und 1450 stark an Gewicht gewinnt (Könige aus wechselnden Familien). Bei den Wählern gilt infolge einer schiedsgerichtlichen Stellungnahme des Papstes Innozenz III. (1200) anlässlich einer Doppelwahl am Ende des 12. Jh. die Beteiligung der Erzbischöfe von Mainz, Trier und Köln sowie des Pfalzgrafen bei Rhein - des ursprünglichen Stammespfalzgrafen von Lothringen - als unverzichtbar. Der Sachsenspiegel (1221/1224) nennt außerdem den Herzog von Sachsen und den Markgrafen von Brandenburg als Königswähler besonders. Seit 1273 bilden diese sechs Fürsten zusammen mit dem (nichtdeutschen) König von Böhmen den geschlossenen Wahlkörper der Kurfürsten (Wort seit 1298 belegt).
Gewählt wird in Frankfurt am Main, gekrönt in Aachen (936-1531, danach in Frankfurt am Main). An beiden Orten gilt fränkisches Recht, nach dem der König lebt. Im 14. Jh. setzt sich für die Wahl das Mehrheitsprinzip durch, das in der Kirche nach antiken Anfängen (4. Jh.) seit dem 11. Jh. zur Anwendung gelangt war.
Die Kaiserwürde ändert die Stellung des Königs vor allem politisch, weil sie ihn zum weltlichen Haupt der westlichen Christenheit erhebt.
Als besondere, vielfach nicht selbst ausgeübte, sondern weitergegebene Rechte (iura reservata) stehen (auch) dem Kaiser die Königserhebung bzw. Adelserhebung, Universitätsgründung, Unehelichenlegitimation, Gradverleihung (z. B. Doktorgrad), Notarernennung sowie Dichterkrönung zu.
Das Verhältnis von Kaisertum und Papsttum wird seit dem 11. Jh. vom kirchlichen Freiheitsanspruch und Herrschaftsanspruch beherrscht. Es wird vielfach an Hand der Zwei-Schwerter-Lehre (Zwei-Gewalten-Lehre) erörtert. Sie knüpft an die Bibelstelle Lukas 22, 38 an, in der die Jünger vor der Gefangennahme zu Jesus sprechen »Herr, siehe, hier sind zwei Schwerter«. Nach kurialistischer Ansicht (Schwabenspiegel, str.) überträgt der Papst eines der beiden Schwerter an den jeweiligen Kaiser, wobei entsprechend der seit dem 11. Jh. vorhandenen Vorstellung von der (lat.) translatio imperii (Übergang des Kaisertums) das Kaisertum von den Römern über die Oströmer und Franken (Karl der Große) auf die Deutschen übergegangen ist. Nach imperialer Ansicht (Sachsenspiegel) stehen geistliches Schwert des Papstes und weltliches Schwert des Kaisers gleichberechtigt nebeneinander und ist das Steigbügelhalten des Kaisers für den Papst kein Zeichen für eine rechtliche Unterordnung. Marsilius von Padua geht in seiner Schrift (lat.) defensor pacis (Verteidiger des Friedens, 1324) von der Herrschaft des Kaisers über die Kirche aus, als deren höchstes Organ er im Übrigen nicht den Papst, sondern das Konzil (Konziliarismus) ansieht. Ungeachtet dieses theoretischen Streites wird der König, der im (lat.) Licet iuris benannten Reichsgesetz (1338) die Unabhängigkeit des Kaisers vom Papst verkündet, bis 1452 Kaiser nur durch päpstliche Krönung in Rom.
Die Rechte des von Hofkanzlei und einzelnen Beratern unterstützten Königs werden seit 1158 (Roncaglia) als Regalien (lat. regalia, königliche [Rechte]) zusammengefasst (z. B. über Wege, Zölle, Münze, Berg, Juden). Bei wichtigen Angelegenheiten (z. B. Reichsheerfahrt, Reichssteuer, Reichsgut, Erhebung in den Reichsfürstenstand) bedarf der König seit dem 12. Jh. der Zustimmung der Großen, die er in Reichsversammlungen (Hoftagen) einholt - in England muss zur gleichen Zeit der König wie schon einzelne seiner Vorgänger in der (lat.) magna charta libertatum (großen Urkunde der Freiheiten) wahrscheinlich zwischen dem 15. und 19. 6. 1215 den Baronen überhaupt feste Rechte (z. B. Steuerbewilligung, Pairsgericht) verbriefen -. Zur Teilnahme an den (vom König vorzuschlagenden) Reichsversammlungen sind zunächst die Reichsfürsten (, von denen es etwa 110 bis 120 gibt, darunter etwa drei Viertel geistliche Reichsfürsten), später auch andere Herren sowie manchmal auch die Städte (des Reiches) berufen. Seit 1356 schließen sich die 6 bzw. 7 Kurfürsten, danach auch die (übrigen) weltlichen und geistlichen Reichsfürsten (Herzöge, Grafen, Erzbischöfe, Bischöfe, Äbte) sowie seit 1471 allmählich selbst die Reichsstädte zu jeweils einem Kollegium (Reichsstand) zusammen, das auf den sich seit dem Ende des 15. Jh. institutionalisierenden (und seit 1495 als Reichstag bezeichneten) Versammlungen geschlossen handelt und stimmt. Weil dann die Kriegssteuerordnung des Jahres 1471 vorsieht, dass die der Verteidigung gegen die Türken dienende Reichssteuer durch den jeweiligen Landesherrn von seinen Untertanen einzuheben ist, ergibt sich die Notwendigkeit, Reichsunmittelbarkeit (der Landesherren und der anderen Reichsunmittelbaren [wie die vom Reichstag und damit von der Reichsstandschaft ausgeschlossenen Reichsritter [1422 Reichsritterschaft] und Reichsdörfer]) und Reichsmittelbarkeit (der Untertanen der Reichsunmittelbaren) eindeutig zu bestimmen.
Das Volk spielt nur in der Verfassungstheorie eine Rolle.
So sieht Manegold von Lautenbach um 1100 den König dem Volk, welches das Werkzeug darstellt, mit dem Gott dem Herrscher seine Gewalt verleiht, verpflichtet. Nach dem Sachsenspiegel (1221/1224) darf folglich der Mann Widerstand leisten, wenn König und Richter Unrecht tun. Marsilius von Padua geht auf der Grundlage aristotelischer Philosophie im Kampf gegen den päpstlichen Absolutheitsanspruch von der Souveränität des Volkes aus, dem es zustehe, den König durch Wahl einzusetzen oder abzusetzen und Gesetze zu schaffen.
Seit dem Ende des 14. Jh. herrscht wohl vor allem infolge der wachsenden Verselbständigung der Landesherren vom Reich bzw. vom Königsgericht über den Zustand des (ersten [fränkisch-]deutschen) Reiches, dass 1474 erstmals als Heiliges Römisches Reich (deutscher Nation) bezeichnet wird (offiziell erstmals 1512, amtlich bis 1806 Heiliges Römisches Reich, lat. Sanctum Romanum imperium), verbreitete Unzufriedenheit. Reformpläne (Nikolaus von Kues, [lat.] De condordantia catholica, 1433, Anonymus, [lat.] Reformatio Sigismundi, 1440) bleiben erfolglos. Erst auf dem Reichstag von 1495 gelingen kleinere Veränderungen.
b) Länder
An der Spitze der sich seit der Abtrennung des Herzogtums Österreich von (dem Herzogtum der) Bayern (1156) sowie seit dem Sturz Heinrich des Löwen und der Wiederausleihung seiner vom König geteilten Herrschaftsgebiete (1180) rasch verfestigenden, bald durch den Bau vieler neuer Burgen gesicherten Territorien (Länder, »Flächenstaaten« im Gegensatz zu älteren »Personenverbandsstaaten«) steht der seit 1231 in einem Reichsweistum so bezeichnete Landesherr (lat. dominus terrae). Seine politische Ausgangsstellung ist im Einzelnen sehr unterschiedlich (Grundherrschaft, Banngewalt, Gerichtsgewalt, Vogtei, Schirmvertrag, königliches Amt u. a.). Sobald das Land, wie dies 1356 für die Kurfürstentümer und 1358/1359 (in einer Fälschung [lat. privilegium maius]) für das Herzogtum Österreich festgelegt wird, nicht mehr geteilt werden kann, tritt die Vorstellung von der privaten, (bei weltlichen Landesherren) im Erbfall ohne weiteres teilbaren Sachherrschaft des Landesherrn über das Land zugunsten der öffentlichen Einordnung zurück (Entstehung des modernen, Hoheitsidee, Gesetzgebung und rationales Verwaltungsverständnis voraussetzenden Staates). Bald wird der Landesherr als Fürst (princeps) angesehen (vgl. schon Thomas von Aquin, [lat.] De regimine principum, Von der Herrschaft der Fürsten, um 1260).
Neben den Landesherren stehen im Sinne eines Dualismus schon 1231 die Besseren und Größeren des Landes (lat. meliores et maiores terrae), die in wichtigen Angelegenheiten (Kriegserklärung, Gebietsveräußerung, Steuerbewilligung) mitwirken müssen. Zu ihnen gehören vor allem der weltliche Adel (Ritter, fehlen etwa in Vorarlberg), der geistliche Adel (Prälaten, fehlen etwa in Vorarlberg) und meist auch die Städte sowie in Tirol (und „vor dem Arlberg“ die Täler und Gerichte bzw.) die landesunmittelbaren Bauern. Sie bilden seit dem Ende des 13. Jh. allmählich die mit Landstandschaft begabten Landstände, die auf den Landtagen auftreten.
Das Volk ist auch in der Verfassung der Länder überwiegend ohne politische Bedeutung.
c) Städte
An der Spitze der Stadt steht anfangs der Stadtherr (König, Landesherr, Grundherr des Stadtgebiets). In manchen Städten gelingt es im 12. und 13. Jh. den Bürgern, seine Herrschaft abzuschütteln und die Stadt zur freien Stadt zu machen (Regensburg, Augsburg, Basel, Straßburg, Worms, Speyer, Köln, Bremen, Hamburg, Lübeck). Die königlichen Städte werden weitgehend Reichsstadt (lat. civitas imperii 1238, Reichsstadt seit 1313, insgesamt etwa 125, bis 1521 noch 84 Reichsstädte, z. B. Nürnberg, Ulm, Speyer, Frankfurt am Main, Wetzlar, Dortmund, Aachen, Goslar).
Unabhängig hiervon wird nach italienischem Vorbild seit dem Ende des 12. Jh. zuerst in diesen Städten, dann aber auch allgemein die Ratsverfassung (Speyer 1188, Basel 1190) eingeführt. Danach steht an der Spitze der Stadt der durch Einsetzung oder Wahl zustande gekommene Rat mehrerer Ratsherren (lat. consules), dessen laufende Geschäfte von Ratsmeistern oder Bürgermeistern (lat. magistri civium) geführt werden. Schon im 14. Jh. wird dieser Rat vielfach zur Obrigkeit.
Ratsfähig sind dabei anfangs meist nur bestimmte Kaufmannsfamilien (Patrizier), nach Umstürzen seit dem 14. Jh. oft auch Handwerker. Die Zuständigkeit des Rates hängt vom jeweiligen Verhältnis der Stadt zu einem Stadtherren ab.
Lit.: Appelt, M., Privilegium minus, 2. A. 1976; Brunner, O., Land und Herrschaft, 5. A. 1965; Erkens, F., Kurfürsten und Königswahl, 2002; Goez, W., Der Leihezwang, 1962; Haider, S., Die Wahlversprechen der römisch-deutschen Könige bis zum Ende des 12. Jahrhunderts, 1968; Königliche Tochterstämme, hg. v. Wolf, A., 2002; Marquardt, B., Das römisch-deutsche Reich als segmentäres Verfassungssystem, 1999; Mitteis, H., Die deutsche Königswahl, 2. A. 1944, Neudruck 1981; Mitteis, H., Der Staat des hohen Mittelalters, 11. A. 1987; Plassmann, A., Die Struktur des Hofes unter Friedrich I. Babarossa, 1998; Scheyhing, R., Eide, Amtsgewalt und Bannleihe, 1960; Schmidt, G., Der Städtetag in der Reichsverfassung 1984; Sprandel, R., Verfassung und Gesellschaft im Mittelalter, 5. A. 1994; Willoweit, D., Gebot und Verbot im Spätmittelalter, Hess. Jb. f. Landesgesch. 30 (1980), 94; Zeumer, K., Quellensammlung zur Geschichte der Deutschen Reichsverfassung in Mittelalter und Neuzeit, 2. A. 1913
2. Verwaltung
a) Reich
Der König verwaltet eher zurückwirkend als handelnd das Reich im Umherziehen von Königshof zu Königshof, wobei er seit dem Interregnum (1254-1273) verstärkt seine Stammlande (Gebiete der Hausmacht) bevorzugt. Am ihn begleitenden Hof werden die Hofämter zu erblichen oder amtsgebundenen Ehrenämtern (Kanzler der Erzbischof von Mainz, Truchsess der Pfalzgraf bei Rhein, Marschall der Herzog von Sachsen, Schenk der König von Böhmen, Kämmerer der Markgraf von Brandenburg). Die tatsächlichen Aufgaben führen Reichsdienstleute (z. B. die Aufgaben des Marschalls das Geschlecht derer von Pappenheim) aus. Seit dem 13. Jh. werden neben den großen Fürsten ständige Ratgeber (lat. consiliarii, Räte) zugezogen, die in ihrer unbestimmten und unklar umgrenzten Gesamtheit von jeweils ungefähr einem Dutzend mehr oder minder wichtiger Herren bald den allzuständigen Hofrat (lat. curia consilium, Hof, Rat) bilden.
Die Gliederung des Reiches in Stammesherzogtümer tritt vor allem nach dem Ringen der Staufer mit den Welfen und der Neuverteilung der welfischen Güter in den Hintergrund zugunsten der dabei geschaffenen neuen Territorialherzogtümer (1156 Österreich, 1168 Ostfranken, 1180 Westfalen, Sachsen, Steiermark). Die Grafschaften entgleiten wegen des Dazwischentretens des Landesherren dem unmittelbaren Einfluss des Königs. Außerdem führt auch die Entstehung der Städte zu einer erheblichen Durchbrechung der vordem einheitlicheren Grafschaften.
Organisiert ist die Reichsverwaltung nach dem Lehnsprinzip.
Anders als etwa in Frankreich oder England, wo erledigte Lehen an den König zurückfallen und Untervasallen dem Herrn nur so weit verpflichtet sind, als dadurch die Treue gegen den König nicht verletzt wird, gibt es im Reich keinen solchen Treuevorbehalt und besteht Leihezwang, wenn nicht überhaupt Erblichkeit. Damit wird die Reichsgewalt (anders als der französische oder englische König) durch das Lehnsprinzip geschwächt.
Das Heer wird bis zum 12. Jh. in ein Reiterheer umgewandelt, aus dem der einfache Mann (Bauer) ausscheidet. Die im Lehnsverband stehenden Ritterheere erweisen sich im 14. und 15. Jh. als von Fußtruppen schlagbar (Sempach/Schweiz 1386, Hussitenkriege) und nach Erfindung des Schießpulvers (zwischen 1325 und 1345 von China nach Italien gelangt) und der Feuerrohre (Gewehre, Kanonen) als überholt, wodurch das Lehnswesen insgesamt an Bedeutung verliert. Als neue, dem technischen Fortschritt entsprechende Fußtruppen werden berufsmäßige Söldnerheere aufgestellt, deren Entlohnung dem Reich jedoch Schwierigkeiten bereitet (vgl. die Reichsmatrikel von 1422).
Die Einkünfte des Königs stammen aus dem seit dem Interregnum klarer vom Hausgut geschiedenen Reichsgut, das vor allem im 14. Jh. zur Belohnung von Anhängern und mehr noch zur kurzfristigen Mittelbeschaffung häufig verpfändet wird (bis 1500 mehr als 1100 königliche Verpfändungen für insgesamt 7750000 Gulden). Daneben stehen dem König zwar die jetzt als Regalien (königliche [Rechte]) bezeichneten nutzbaren Hoheitsrechte (Münze, Zoll, Markt, Geleit, Stromregal, Jagdregal, Bergregal und Schatzregal) zu. Sie gehen aber bald größtenteils auf die Landesherren über (1220, 1231). Einzelne seit dem 11. Jh. betriebene Versuche, allgemeine Reichssteuern einzuführen, bleiben, von Ausnahmen abgesehen (Hussitenkrieg, Türkengefahr), ohne Erfolg.
b) Länder
Für die Verwaltung der Länder wird seit dem 13. Jh. das Lehnsprinzip aufgegeben und das Amtsträgerprinzip eingeführt. An die Stelle des erblichen Lehnsträgers tritt in der örtlichen Verwaltung daher allmählich der absetzbare, festbesoldete und für einen bestimmten Bezirk eingesetzte Ministeriale oder Amtmann, der allerdings vielfach einem ganz engen Kreis von wenigen Familien entstammt. Die Aufsicht führt die zentrale Landesverwaltung mit Hofämtern unter den ebenfalls festbesoldeten und absetzbaren Verwaltungsspitzen (Hofmeister [2. H. 13. Jh.], Kanzler, Landeshauptmann [13. Jh.]) sowie dem zunächst aus dem Adel gebildeten Rat (Hofrat). Er wird seit dem Ende des 15. Jh. zur zentralen kollegialen Behörde der (etwa in der Landgrafschaft Hessen zwischen 1170 und 1520 immerhin bereits rund 3500 namentlich bekannte Bedienstete umfassenden) Landesverwaltung, die der Landesherr zunehmend (auch) mit an der Universität ausgebildeten Juristen besetzt.
Die Einnahmen des Landesherrn stammen zunächst aus seinen Gütern und nutzbaren Rechten. Seit dem 13. Jh. werden Beden (Bitten, Steuern [zu mhd. stiure, Stärkung], zuerst von Grund und Gebäuden) erhoben, die sich aber nur allmählich in allgemeinerem Umfang durchsetzen lassen. Sie hängen außerdem zunächst noch regelmäßig von der Bewilligung durch die Landstände ab.
Neben der landesherrlichen Verwaltung besteht eine landschaftliche Verwaltung zur Durchführung der Beschlüsse des Landtags.
c) Städte
Anfangs führt der Amtsträger ([lat.] iudex, scultetus, advocatus, Schultheiß, Amtmann, Vogt) des Stadtherrn für diesen die Verwaltungsaufgaben durch. Neben ihm erlangen aber die Bürger die Zuständigkeit für Marktangelegenheiten, später auch für das Bauwesen, Verkehrswesen, Gewerbewesen, Gesundheitswesen, Schulwesen und Armenwesen. Soweit sie die Stadtherrschaft gewinnen, verwalten sie die Angelegenheiten durch eigene Organe und Amtsträger, wobei der Rat durch Anordnungen obrigkeitlich regelnd eingreift (z. B. Nürnberg seit 1281). Die für die Vergütung der Verwaltungsträger notwendigen Einnahmen stammen außer aus den Stadtgütern und nutzbaren Rechten (Münze, Zoll) aus dem allmählich entwickelten Abgabenwesen mit direkten Steuern und indirekten Steuern (Ungeld, Akzise)
Lit.: Bader, K., Studien zur Rechtsgeschichte des mittelalterlichen Dorfes, Bd. 1ff. 1962ff.; Bornhak, C., Geschichte des preußischen Verwaltungsrechts, Bd. 1ff. 1884ff.; Diestelkamp, B., Das Lehnrecht der Grafschaft Katzenelnbogen (13. Jh. bis 1479), 1969; Erler, A., Bürgerrecht und Steuerpflicht im mittelalterlichen Städtewesen, 1939, Neudruck 1963; Helbig, H., Der wettinische Ständestaat, 1955; Isenmann, E., Reichsfinanzen und Reichssteuern im 15. Jahrhundert, ZHF 7 (1980), 1; Kroeschell, K., Verfassungsgeschichte und Rechtsgeschichte des Mittelalters, Der Staat, Beiheft 6 (1984), 47; Die Anfänge der Landgemeinde und ihr Wesen, hg. v. Mayer, T., Bd. 1f. 1964, Neudruck 1986; Der deutsche Territorialstaat im 14. Jahrhundert, hg. v. Patze, H., 1970f.; Pitz, E., Die Entstehung der Ratsherrschaft in Nürnberg im 13. und 14. Jahrhundert, 1956, Neudruck 1986; Rabe, H., Der Rat der niederschwäbischen Reichsstädte, 1966; Schlesinger, W., Die Entstehung der Landesherrschaft, 1964; Schubert, E., Fürstliche Herrschaft und Territorium, 1996; Spiess, K., Lehnrecht, Lehnspolitik und Lehnsverwaltung der Pfalzgrafen bei Rhein im Spätmittelalter, 1978; Wadle, E., Reichsgut und Königsherrschaft unter Lothar III. (1125-1137), 1969
3. Verfahren
a) Organisation
Allgemeiner Richter (Verfahrensleiter) überall ist noch nach dem Sachsenspiegel (1221/1224) der König, der jede Streitsache jederzeit an sich ziehen kann (Evokationsrecht). Tatsächlich beschränkt sich aber die königliche Gerichtsbarkeit schon im 13. Jh. nur noch auf wenige Gerichte. Zu ihnen zählt in erster Linie das mit dem König ziehende königliche Hofgericht (Reichshofgericht), das seit 1235 neben dem König zu dessen Vertretung einen besonderen Hofrichter kennt, an dem seit dem späten 13. Jh. als Urteiler neben den Fürsten auch Juristen wirken (zwischen 1273 und 1347 sind in der Nähe des Königs 27, zwischen 1347 und 1410 65 sowie zwischen 1410 und 1493 138 Juristen nachweisbar) und dessen Zuständigkeit (Reichsunmittelbare, Reichsgut, Rechtsverweigerung, Appellation) durch die seit dem 13. Jh. vermehrt einzelnen Landesherren (z. B. 1379 Schwyz) und 1356 allen Kurfürsten erteilten Nichtevokationsprivilegien und Nichtappellationsprivilegien (ab 1470) beschnitten wird (Achtregister 1290, 1346, 1353, Ladungsregister 1396, Hofgerichtsregister 1409, Entwurf einer Hofgerichtsordnung 1409, ca. 1800 Urkunden der Kanzlei des Hofgerichts überliefert.) 1415 erscheint das vielleicht bereits im 14. Jh. aus dem königlichen Rat entstandene königliche, mit (gelehrten) Räten des Königs besetzte Kammergericht, welches das ältere Hofgericht gegen 1451 ersetzt (Sitzungsprotokollbuch 1455, Urteilsbuch 1467, Entwurf einer Kammergerichtsordnung 1471, welche die Zahl der Juristen auf die Hälfte der Urteiler erhöht). Es wird zwar häufig von Angehörigen sämtlicher, vor allem süddeutscher Stände angerufen, gelangt aber vielfach nur sehr langsam zu Entscheidungen und vermag nur selten diese in der Wirklichkeit durchzusetzen. Seit 1461 verpachtet der König das Kammergericht aus Geldnot an Reichsfürsten, seit 1475 tritt es nur noch selten zusammen. Zugleich beginnt (wieder) eine Rechtsprechung im Hofrat des Königs.
Reste der Grafengerichte halten sich auf Reichsgut und als kaiserliche Landgerichte in Franken und Schwaben (Rottweil, Ulm, Nürnberg, Rothenburg ob der Tauber). In Westfalen bilden sie sich seit dem 13. Jh. zu Femegerichten (mnd. veme, Bund, Strafe?) um, die sich allmählich über das gesamte Reich ausbreiten, seit der Mitte des 15. Jh. (1442) aber wieder zurücktreten. Bei ihnen ist jeder Freischöffe - rund 15000 bis 30000 Freischöffen im ganzen Reich -, der in feierlicher Form in die Geheimnisse der Veme eingeweiht wird, verpflichtet, todeswürdiges Unrecht zu rügen. Bei Bedarf können drei Freischöffen überall ein Notgericht durchführen und nach Überführung sofort mit dem Strang richten. Missachtet ein Beschuldigter eine Ladung, so wird das Verfahren in seiner Abwesenheit durchgeführt. Ohne dass er das Urteil (z. B. Todesurteil) kennt, muss er jederzeit mit dessen Vollstreckung rechnen.
In den Ländern bilden die Landesherren eine eigene Gerichtsbarkeit mit dem aus Richter und Urteilern zusammengesetzten Hofgericht (um 1400) an der Spitze aus. Anstelle der älteren gräflichen Gerichte und niederen Gerichte erscheinen seit dem 13. Jh. höhere Landgerichte und niedere Zentgerichte, Gogerichte oder Schulzengerichte (Niedergerichte mit Zuständigkeit für Klagen um Schuld und Fahrnis sowie leichtere Straffälle), wobei die Zuständigkeit teils sachlich, teils ständisch bestimmt ist.
Daneben bestehen außer besonderen Lehnsgerichten und Dienstmannengerichten bäuerliche Dorfgerichte und grundherrschaftliche Hofgerichte. Diese untersten Gerichte werden vielfach verliehen oder verpfändet und werden dadurch zusammen mit der alten Immunität zum Ausgangspunkt der späteren Patrimonialgerichtsbarkeit.
Die Städte werden schon seit dem Ende des Frühmittelalters aus der allgemeinen Gerichtsbarkeit ausgesondert. Richter ist zunächst der stadtherrliche Amtsträger (z. B. Schultheiß, Vogt mit Schöffen als Urteilern), dann an seiner Stelle oder neben ihm der städtische Amtsträger (z. B. Stadtschultheiß mit Schöffen als Urteilern) oder der städtische Rat (mit Ratmannen als Urteilern).
Schließlich behauptet auch die Kirche eine eigene Gerichtsbarkeit für Laien. Alle unrechten Taten, die nach christlicher Ansicht Sünde sind, sollen vor dem zunächst aus Bischof als Richter und Sendschöffen als Urteilern gebildeten Sendgericht (von lat. synodus, Synode, Versammlung), das seit dem 11. Jh. wegen Überlastung vom Bischof auf die Archidiakone und Archipresbyter sowie seit dem 12. Jh. auf die Pfarrer übergeht, gerügt und verhandelt werden. Vereinzelt seit dem späten 12. Jh. (Reims, Mainz), allgemeiner seit 1246 erscheint der gelehrte Offizial des Bischofs als ständiger, ordentlicher (berufsmäßiger) Einzelrichter, der selbst entscheidet. Dabei wird von der Kirche sachlich vom Ausgangspunkt Sünde aus auch die Zuständigkeit über Witwen und Waisen, Eide und Wucher, Ehe und Testament beansprucht.
b) Ablauf
Seit dem 13. Jh. wird eine Trennung zwischen bürgerlichen Sachen (lat. causae civiles) und peinlichen Sachen (lat. causae criminales) sichtbar. Sie geht vermutlich auf rationale, wirtschaftliche Überlegungen zurück, die zwischen öffentlicher Strafe und privatem Ausgleich unterscheiden. Vielleicht wird darin auch bereits ein Einfluss des römischen Rechts sichtbar.
Außerdem entwickelt sich in Oberitalien ein besonderes römisch-kanonisches Verfahren und bilden sich auch festere Grundsätze für Schiedsverfahren (vor Schiedsgerichten) aus.
aa) Zivilverfahren
Bei den bürgerlichen Klagen werden als verschiedene Arten die Klage um Schuld (Leistung von Geld oder Geldeswert), um Gut (Herausgabe beweglicher Sachen) und um Eigen und Erbe (Liegenschaften) unterschieden.
Auf Antrag des Klägers leitet der Richter das Verfahren ein, das im (besonders abgegrenzten und eröffneten d. h. gehegten) Gericht (Ding) stattfindet. Die Parteien müssen nach Ausweis verschiedener Quellen, wenn sie nicht schon aus formalen Gründen den Rechtsstreit verlieren wollen, bestimmte Formeln genau einhalten (sog. [mhd.] vare, Prozessgefahr, deren Herkunft [germanisch?, oder eher gelehrt?] wegen Fehlens von Quellenaussagen unklar ist), wovon allerdings die Stadtrechte des 12. Jh. schon wieder befreien. Zur Vermeidung dieser Proessgefahr kann für die Partei (jetzt) ein Fürsprecher auftreten (Vertreter im Wort), während sachliche Verfahrensvertretung (Vertreter in der Sache) erst allmählich zugelassen wird (Königsgericht, 13. Jh. Stadtrechte, 1471 Kammergerichtsordnung). Der Beklagte kann und darf sich, falls er sich dem Begehren des Klägers widersetzt, durch Eid von der Klage reinigen, sofern ihm der Kläger nicht unter bestimmten Voraussetzungen den Eid verlegt. Im Fall dieser Eidverlegung entscheidet das Gericht durch Urteil der Schöffen, wer das bessere Recht glaubhaft macht oder das stärkere Beweismittel anbietet und damit »näher« zum Beweis ist (Beweisrecht im Gegensatz zur modernen Beweislast). Als Beweismittel dringen Urkunden und Zeugen wegen ihrer größeren Einsichtigkeit vor allem seit dem 13. Jh. gegenüber Gottesurteil und Eideshilfe vor.
Für das von den Schöffen oder sonstigen Urteilern (nach Durchführung des Beweises) zu fällende Urteil, das allmählich von Gerichtsschreibern aufgezeichnet wird, wird die zunächst mündliche Bitte um vorherige gutachtliche Auskunft und dann auch die Berufung an ein anderes Gericht (insbesondere in Mutterstädten von Stadtrechtsfamilien wie z. B. in Lübeck oder Magdeburg, daneben aber auch in anderen Fällen wie z. B. Ingelheim oder Neustadt an der Weinstraße, wissenschaftlich meist sog. Oberhof) möglich. Später verdrängt die seit dem 14./15. Jh. eindringende Appellation (Berufung) des oberitalienisch-kanonischen Verfahrens an den König oder Landesherrn (oder im lübischen Recht an den Lübecker Rat str.) die ältere Urteilsschelte (Schelte eines Urteilsvorschlags) und die damit verbundene Einschichtigkeit des Verfahrens allmählich, wobei allerdings zahlreiche Nichtappellationsprivilegien zugunsten der Landesherren die Appellation an den König beschränken.
Die Vollstreckung - durch Büttel oder Fronboten - erfolgt durch öffentliche Pfändung von beweglichen Sachen und Grundstücken (z. T. Fronung), die im Fall der Nichtauslösung meist veräußert werden (mhd. gant zu lat. quantum [wieviel]?). Bei fruchtloser Vermögensvollstreckung kann die Person des Verurteilten in private Schuldhaft oder in öffentliche Schuldhaft genommen werden. Die außergerichtliche Pfändung durch einen Verfahrensbeteiligten tritt zurück.
Als Sonderformen des Verfahrens werden in den Städten als Folge des zunehmenden Handelsverkehrs Mahnverfahren, Kummer (Arrest) und Konkurs (»Zusammenlauf [der Gläubiger«, gemeinsame Vollstreckung mehrerer Gläubiger gegen einen überschuldeten Schuldner mit gleichmäßiger prozentualer Verteilung des geringen Schuldnervermögens auf alle Gläubiger entsprechend der Höhe ihrer Forderungen) ausgebildet.
Beim Kummer kann der Gläubiger den flüchtigen, später auch schon den nur fluchtverdächtigen Schuldner festnehmen bzw. seine Vermögensstücke beschlagnahmen, um dadurch die Rechtsverweigerung zu verfolgen, später auch um die Erfüllung der Ansprüche zu sichern. Bei mehreren Gläubigern wirkt seit dem 13. Jh. die arrestweise Beschlagnahme durch einen für alle, wobei die Befriedigung nach dem Verhältnis des Wertes ihres Anspruchs zum Wert aller Ansprüche (anteilig statt nach der zeitlichen Reihenfolge der Beschlagnahmehandlung) erfolgt.
Während des Mittelalters bildet sich in Oberitalien auf der Grundlage des justinianischen Rechts durch literarische Durchdringung des Verfahrensablaufs in zahlreichen gelehrten ordines iudicii (Gerichtsordnungen) das römisch-kanonische Verfahren aus, das allmählich vor allem in den geistlichen Gerichten üblich wird.
Es beginnt mit der vom Kläger bei dem allein (ohne Urteiler) und wohl überwiegend auch in festen Gebäuden tätigen (gelehrten) Richter erwirkten Ladung des Beklagten zu einem Termin. Hier überreicht der Kläger dem Beklagten die Klagschrift mit seiner Rechtsbehauptung. In einem nächsten Termin hat der Beklagte alle verfahrensablehnenden Verteidigungsgründe vorzubringen. Beide Parteien können sich dabei vor Gericht durch Prokuratoren vertreten und im übrigen außerhalb des Gerichts durch Advokaten beraten lassen. Sie haben einen Gefährdeeid oder Schikaneeid (lat. iusiurandum calumniae) zu leisten. Nach Abschluss des Vorverfahrens erfolgt die Streitbefestigung (lat. litis contestatio, Einlassung) durch feierliche, allgemein gehaltene Gegenbehauptung des Beklagten zum Zweck der Kundgabe der Streitabsicht (Quasikontrakt). Danach muss der Kläger seinen Stoff in scharf abgegrenzte Behauptungen einzelner Tatsachen (lat. positiones, Positionen, später auch lat. articuli, Artikel) gliedern, zu denen der Gegner Punkt für Punkt Stellung nehmen muss (artikuliertes Verfahren). Unbestrittene Tatsachen gelten als zugestanden, bestrittene sind vom Kläger - am besten mit Urkunden, die vielfach von den ab 1275 auftretenden Notaren angefertigt werden - zu beweisen. Die weiteren Verfahrenshandlungen sind in bestimmter Reihenfolge zu vollziehen. Die geheime Beurteilung der Beweisergebnisse durch den selbst durch Subsumtion des Sachverhalts unter den Tatbestand entscheidenden Richter ist an feste Beweisregeln gebunden. Der gesamte Verfahrensstoff wird aufgezeichnet (lat. quod non est in actis, non est in mundo, was nicht in den Akten ist, ist nicht vorhanden). Der Vollstreckung dient schließlich die durch keinerlei Gerichtssprengelgrenzen eingeschränkte Exkommunikation. Gegen das Urteil ist Appellation und seit dem 12./13. Jh. in bestimmten Fällen auch Nichtigkeitsklage (lat. actio nullitatis) zulässig. Auf der Grundlage der Dekretale Saepe Papst Clemens’ V. entwickelt sich auch ein beschleunigtes summarisches Verfahren für einfache Sachverhalte (z. B. Rentensachen).
bb) Strafverfahren
Seit dem 12. Jh. zeigen sich - vielleicht unter kirchlichem Einfluss - verschiedene Ansätze zur öffentlichen Klage in peinlichen Sachen.
So werden etwa bestimmte Personen (z. B. die Freischöffen der Femegerichte) verpflichtet, Unrechtsgeschehnisse im Gericht zu rügen. Landschädliche Leute (lat. nocivi terrae) sollen öffentlich verfolgt und wie handhafte Täter durch den Eid des Verletzten und seiner sechs Eideshelfer überführt (»übersiebnet«) werden. In der Kirche werden Ketzer schon in der ausgehenden Antike durch Verbot ihrer Gottesdienste, Enteignung ihrer Güter und Androhung der Todesstrafe sowie im Mittelalter seit 1231/1232 durch besondere Inquisitoren (Untersucher) bekämpft. Überhaupt wird das Verfahren vor allem auch in den Städten allmählich zu einem einseitigen Verfahren des (öffentlichen) Richters gegen den Verdächtigen, in dem der Richter zur Unrechtsverfolgung verpflichtet ist (Offizialmaxime, Amtsbetrieb) und sich selbst über die erheblichen Tatsachen unterrichten muss (Instruktionsmaxime).
Ziel dieser Verfolgungen ist die unbedingte Sühnung von Unrecht, weshalb es stärker als zuvor auf die Ermittlung der tatsächlichen Wahrheit ankommt (z. B. durch Zeugen oder Urkunden). Als ihr sicherster Beweis gilt, nachdem das Gottesurteil von der Kirche bekämpft wird (4. Laterankonzil 1215), das Geständnis (lat. confessio est regina probationum, das Geständnis ist die Königin der Beweismittel). Um das Geständnis zu erreichen, darf der verdächtigte Beschuldigte durch den Richter und die Folterknechte sowie gegebenenfalls zwei Schöffen der schon der Antike bekannten und von daher auch vielleicht im Frühmittelalter gegenüber Unfreien verwandten Folter (zu lat. poledrus »Fohlen«, Holzpferd als Foltergerät) durch Gefängnis, Schläge, Hunger, Kälte und andere Mittel (Daumenschrauben, Strecken) ausgesetzt werden (Recht der Wiener Neustadt [1221/1230 str.], kirchliche Inquisition 1215/1231/1252). Nach dem Geständnis in dieser Untersuchung (Inquisition, vgl. von daher Inquisitionsmaxime, Inquisitionsprozess) beginnt das eigentliche öffentliche Verfahren (sog. endlicher Rechtstag), in dem nach der Anklageerhebung der Richter den Beweis der Tat durch das Geständnis des Angeklagten oder im unerwünschten Fall des Leugnens des Angeklagten durch das Zeugnis zweier Schöffen über das Geständnis führt und an dessen Ende das Urteil verlesen, der Stab (des Richters) über dem Angeklagten gebrochen und das Urteil vollstreckt wird.
Im 15. Jh. wird zur Bekämpfung der sich mehrenden Straftaten die Folter auch ohne besondere Verdachtsgründe angewandt und der endliche Rechtstag mit seiner öffentlichen Verhandlung teilweise zurückgedrängt. Die Vollstreckung der peinlichen Strafen erfolgt seit dem 13. Jh. durch den Henker (1276 Augsburg) als berufsmäßigen Scharfrichter (1312 Braunschweig).
Lit.: Battenberg, F., Reichsacht und Anleite im Spätmittelalter, 1984; Budischin, H., Der gelehrte Zivilprozess in der Praxis geistlicher Gerichte, 1974; Caenegem, R. van, History of European Civil Procedure, 1973; Die Anfänge der Inquisition, hg. v. Segl, P., 1993; Drüppel, H., Iudex civitatis, 1981; Eisenhardt, U., Die kaiserlichen privilegia de non appellando, 1980; Feine, H., Die kaiserlichen Landgerichte in Schwaben im Spätmittelalter, 1948; Fiorelli, P., La tortura giudiziaria nel diritto commune, 1953; Fowler-Magerl, L., Ordo iudiciorum vel ordo iudiciarius, 1984; Franklin, O., Das Reichshofgericht im Mittelalter, Bd. 1f. 1867ff., Neudruck 1967; Gudian, G., Die Begründung in Schöffensprüchen des 14. und 15. Jahrhunderts, 1960; Hirsch, H., Die hohe Gerichtsbarkeit im Mittelalter, 1922, Neudruck 1959; Köbler, G., Wie der Prozess zur Ordnung fand und so die Prozessordnung entstand, FS W. Litewski, 2004; Kobler, M., Das Schiedsgerichtsverfahren nach bayerischen Rechtsquellen des Mittelalters, 1967; Koeniger, A., Die Sendgerichte in Deutschland, 1907; Kornblum, U., Das Beweisrecht des Ingelheimer Oberhofes, 1960; Kraß, G., Das Arrestverfahren in Frankfurt am Main im Spätmittelalter, 1996; Landwehr, G., Die althannoverschen Landgerichte, 1964; Leiser W., Strafgerichtsbarkeit in Süddeutschland, 1971; Lepsius, S., Von Zweifeln zur Überzeugung, 2003; Lepsius, S., Der Richter und die Zeugen, 2003; Lindner, T., Die Veme, 1888; Litewski, W., Der römisch-kanonische Zivilprozess, 1999; Müller-Volbehr, J., Die geistlichen Gerichte in den Braunschweig-Wolfenbüttelschen Landen, 1972; Nörr, K., Zur Stellung des Richters im gelehrten Prozess der Frühzeit, 1967; Planck, J., Das deutsche Gerichtsverfahren im Mittelalter, Bd. 1f. 1879, Neudruck 1973; Planitz, H., Grundlagen des deutschen Arrestprozesses, 1922; Sagstetter, M., Hoch- und Niedergerichtsbarkeit im spätmittelalterlichen Herzogtum Bayern, 2000; Schild, W., Alte Gerichtsbarkeit, 2. A. 1987; Schlosser, H., Spätmittelalterlicher Zivilprozess nach bayerischen Quellen, 1971; Schmidt, E., Die maximilianischen Halsgerichtsordnungen für Tirol (1499) und Radolfzell (1506) als Zeugnisse mittelalterlicher Rechtspflege, 1949; Schmoeckel, M., Humanität und Staatsraison, 2000; Spieß, P., Rüge und Einung, 1988; Weitzel, J., Der Kampf um die Appellation ans Reichskammergericht, 1976
4. Strafe
a) Das Recht der Verfolgung von Unrechtstaten durch die Allgemeinheit wird erheblich von der seit dem 10. Jh. erwachsenden Gottesfriedensbewegung und Landfriedensbewegung beeinflusst, die zur Sicherung des allgemeinen Friedens die öffentliche Bekämpfung der Unrechtstat durch die Allgemeinheit in weitem Umfang anstrebt. Sie will das Recht durch Vergeltung des Unrechts wiederherstellen und daneben auch Abschreckung und Ausschluss der Wiederholung erreichen. Zu diesem Zweck versieht sie zahlreiche vorher dem privaten Ausgleich überlassene Tatbestände mit einer peinlichen (von lat. poena, das gegenüber seinem ersten Auftreten den Inhalt verändert hat,) Strafe an Leben und Leib, die allmählich das zuvor überwiegende, auch durch Betragsentwertung bzw. Geldentwertung fragwürdig gewordene Kompositionensystem verdrängt.
b) Allerdings entstehen die späteren Allgemeinbegriffe erst allmählich (Verbrechen 15. Jh., Vergehen 18. Jh., Strafe 14. Jh.). Der Inhalt der Tatbestände (z. B. Dieb) wird als allgemein bekannt vorausgesetzt und nicht bestimmt beschrieben. Die subjektive Seite wird in Ansätzen berücksichtigt, wenn auch der Versuch als solcher (im Gegensatz zu einzelnen vollendeten Versuchhandlungen wie z. B. Messerziehen als Beginn eines Tötungsdelikts) noch kaum erkannt ist. Gelegentlich wird zwischen Täter und Gehilfen unterschieden. Handeln in Notwehr begründet ebenso eine mildere Folge wie Unmündigkeit (nach dem Sachsenspiegel (1221/1224) bei Tötung seitens eines Unmündigen nur Verpflichtung zur Zahlung von Wergeld).
c) Die wichtigsten besonderen Tatbestände sind Verrat, Friedensbruch, Mord als die heimliche, seit dem 14. Jh. auch als die vorbedachte Tötung im Gegensatz zu einfachem Totschlag, Körperverletzung (Lähmung, blutende Wunde, trockener Schlag), Diebstahl als heimliche Wegnahme im Gegensatz zum offenen Raub, Brandstiftung und Beleidigung. Unter kirchlichem Einfluss folgt auch auf Ehebruch, Ketzerei und Gotteslästerung eine Strafe.
d) Rechtsfolge ist das Übel an Leben oder Leib (Todesstrafe oder Leibesstrafe).
Dieses wird vielfach nach dem Talionsprinzip als spiegelnde Strafe (z. B. bei Meineid Ausreißen der Zunge oder Abschlagen der Schwurhand) vollzogen (Enthaupten, Hängen, Rädern, Verbrennen, Pfählen, Vierteilen, Lebendigbegraben, Ertränken, Verstümmeln, Brandmarken, Stäupen, Scheren). Daneben stehen die (inhaltlich abgeschwächte) Acht (meist bei Ladungsungehorsam oder Urteilsungehorsam), die Verbannung (Stadtverweisung), die Wüstung oder Beschlagnahme des Vermögens, die aus dem Friedensgeld und der Bannbuße entwickelte Geldstrafe, die Ehrenstrafe (Anprangerung d. h. Zurschaustellung am Pranger [13. Jh.?], Ehrlosigkeit) und seit dem 14. Jh. in den Städten allmählich die (wegen der erforderlichen Baulichkeiten und der notwendigen Bewachung hohe Kosten verursachende) Freiheitsstrafe. Der tatsächliche Vollzug der sehr harten Strafen erfolgt vielfach aber wohl nur bei landschädlichen Leuten, während im übrigen Leibesstrafen und Lebensstrafen wohl meist noch durch Geld ablösbar sind.
Lit.: Achter, V., Geburt der Strafe, 1951; Achter, V., Über den Ursprung des Gottesfrieden, 1955; Dahm, G., Das Strafrecht Italiens im ausgehenden Mittelalter, 1931; Die Durchsetzung des öffentlichen Strafrechts, hg. v. Lüderssen, K., 2002; Die Entstehung des öffentlichen Strafrechts, hg. v. Willoweit, D., 1999; Frenz, B., Frieden, Rechtsbruch und Sanktion in deutschen Städten vor 1300, 2003; Friese, V., Das Strafrecht des Sachsenspiegels, 1898, Neudruck 1970; Gergen T., Pratique juridique de la paix et trêve de Dieu, 2004; Glöckner, H., Cogitationis poenam non patitur (D. 48 19. 18). Zu den Anfängen einer Versuchslehre, 1989; Gouron, A., Zu den Ursprüngen des gelehrten Strafrechts, FS Hans Thieme, 1986, 43; Gudian, G., Geldstrafrecht und peinliche Strafe im späten Mittelalter, FS Adalbert Erler, 1977, 273; Herrschaftliches Strafen seit dem Hochmittelalter, hg. v. Schlosser, H. u. a., 2002; His, R., Deutsches Strafrecht bis zur Carolina, 1928; His, R., Das deutsche Strafrecht des Mittelalters, Bd. 1f. 1920ff., Neudruck 1964; Kantorowicz, H., Albertus Gandinus und das Strafrecht der Scholastik, Bd. 1f. 1907ff.; Knapp, H., Das alte Nürnberger Kriminalrecht, 1896; Neue Wege strafrechtsgeschichtlicher Forschung, hg. v. Schlosser, H. u. a., 1999; Sellert, W./Rüping, H., Studien- und Quellenbuch zur Geschichte der deutschen Strafrechtspflege, Bd. 1 1989ff.; Strafrecht, Strafprozess und Rezeption, hg. v. Landau, P./Schroeder, F., 1984
5. Kirche
Das Wiener Konkordat von 1448 schränkt das päpstliche Stellenbesetzungsrecht im Reich ein und verleiht den weltlichen Gewalten mehr Gewicht.
III. Privater Bereich
1. Person
a) Einzelne Personen
Die einzelnen Personen unterscheiden sich grundsätzlich nach der Freiheit. Dabei betont schon der Sachsenspiegel (1221/1224), dass als man das Recht erstmals setzte, alle Leute frei gewesen seien. Außerdem erlangen die Bürger der Städte zumindest allmählich eine allgemeine gleiche Freiheit (Stadtluft macht frei [formuliert im 19. Jh.]), werden abhängige Bauern, die bei herrschaftlicher Rodungssiedlung mitwirken, mit Freiheit begabt und steigen unfreie Ministeriale sogar in den (niederen) Adel auf.
Im Übrigen bestimmt sich die Rechtsstellung weiter nach dem Stand. Dies wirkt sich bei der Höhe des Wergelds und der Buße aus. Außerdem ist nur die von Angehörigen desselben Standes vollzogene Ehe voll wirksam (Ebenbürtigkeit) und kann nur Richter über eine Partei sein, wer nicht ständisch unter ihr steht (lat. iudicium parium, Gericht der Gleichen, Pairsgericht).
Erworben wird die jeweilige Rechtsstellung meist durch Geburt (und Lebensfähigkeit), verloren hauptsächlich durch Tod, Acht und Eintritt ins Kloster. Verschollenheit (lange Zeit unbekannter Aufenthaltsort) führt gegen Sicherheitsleistung zur vorläufigen Einweisung des Erben in das Vermögen. Eine gewisse Minderung der Rechtsstellung bewirkt die Ehrlosigkeit infolge einer Strafe, der nichtehelichen Geburt oder eines unehrlichen Berufs (z. B. Henker). Körperliche Schwäche schließt gewisse Rechtshandlungen (Vergabungen) aus.
Seit dem 12. Jh. wird zur Kennzeichnung des Menschen allmählich zum Namen (Vornamen) ein Zuname (Familienname) angenommen.
Der Fremde ist von der Rechtsordnung grundsätzlich ausgenommen, doch wird seine Stellung in den im Kern auf den städtischen Bürger bezogenen Stadtrechten teilweise ausdrücklich geregelt. Seit den Kreuzzügen verschlechtert sich die Lage der Juden, die oft grausam verfolgt und von den christlichen Kaufleuten auf von ihnen erfolgreich betriebene Sondergeschäfte (z. B. das Christen verbotene Darlehen) abgedrängt werden.
Frauen und Kinder stehen unter der Hausgewalt des Vaters, die noch nach dem Schwabenspiegel den Verkauf des Kindes im Fall echter Not gestattet. Aus ihr scheiden Söhne mit der Verselbständigung (Abschichtung), Töchter mit der Verheiratung aus. Daneben wird die Mündigkeit mit 12 (Ingelheim 15. Jh.), 18, 20, 21, 24 oder wie im römischen Recht die Volljährigkeit mit 25 Jahren erreicht. Seit dem 13. Jh. kann der Herrscher die Mündigkeit verleihen, Jahrgebung). Der mündige, aber nicht abgeschichtete Sohn kann sich zwar verpflichten, nicht aber wirksam über sein in der Gewere des Vaters stehendes Vermögen verfügen.
Frauen werden, soweit sie sich an Handel und Gewerbe beteiligen (Kauffrau), in den Städten voll handlungsfähig.
Die Stellung des nichtehelichen Kindes bleibt auf Grund der kirchlichen Moralvorstellungen gemindert, doch erwachsen aus dem Kirchenrecht auch neue Ansätze zur Verbesserung der Rechtslage.
Teilweise gilt das nichteheliche Kind als weder mit dem Vater noch mit der Mutter verwandt. Gegen den Vater besteht kein Erbrecht, wenn auch verschiedentlich ein Unterhaltsanspruch. Seit dem 12. Jh. wird unter Aufnahme römischen Rechtes die Legitimation durch Reskript des Herrschers und durch nachträgliche Eheschließung möglich.
Fehlt der Hausvater, so erhalten Unmündige einen Vormund.
Nach dem Sachsenspiegel (1221/1224) ist dies bis zum Alter von 12 Jahren zwingend, während zwischen 12 und 21 nur die Möglichkeit der Vormundschaft besteht. Der Vormund kann vom Vater, teilweise auch von der Witwe oder vom Mündel selbst ausgewählt werden (gekorener Vormund). Seine Stellung verliert ihr Wesen als Nutzungsrecht am Vermögen des Mündels und wird mehr eine vergütete Pflicht hinsichtlich des Mündels selbst. Allerdings darf der Vormund notfalls über das Mündelgut verfügen. Deshalb wird der Vormund von der allgemeinen Verwaltung auch besonders eingesetzt und beaufsichtigt (regelmäßige Rechnungslegung, Genehmigungspflichtigkeit bestimmter Geschäfte, Vorschriften über die Anlage von Mündelgut).
b) Verbände
Neben der Erbengemeinschaft (Mehrheit von Erben), die für den bäuerlichen Lebensbereich als Gemeinderschaft und für den ritterlichen Lebensbereich als Ganerbschaft bezeichnet wird, erscheinen vielfältige Zusammenschlüsse vor allem auf wirtschaftlicher Basis. So wird die Allmende (Gemeinland) nun von der (ziemlich geschlossenen) Markgenossenschaft der Hofstelleninhaber bewirtschaftet. Kaufleute und Handwerker schließen sich zu Gilden und Zünften zusammen. Zur Förderung des Handels bilden mehrere, oft verwandte Kaufleute Gesellschaften, wobei entweder alle gemeinsam in gleicher Weise tätig werden oder einer von ihnen nur das Kapital für die Handelsfahrt des anderen gibt (commenda in Italien, sendeve und wederlegginge im Norden). Andere Vereinigungen entstehen im religiösen Bereich (Bruderschaften), kulturellen Bereich (studentische Nationen, Bursen) sowie im politischen Bereich (Reichsstände und Landstände, Städtebünde und Ritterbünde).
Bei diesen zahlreichen, trotz vieler Unterschiede im Einzelnen im Grundzug vielfach übereinstimmenden Verbänden entwickelt sich vom 12. Jh. an die gegenüber den beteiligten einzelnen Menschen als Mitgliedern sich rechtlich verselbständigende Verbandsperson (lat. universitas, Einheit).
Beispiel ist dabei die Stadt (lat. civitas), die als Einheit [der Bürger] (lat. universitas civium) an die Stelle der Vielzahl der einzelnen Bürger tritt. Dem folgen dann das Land, die Kirche, Klöster, Hospitäler, Universitäten (z. B. Paris) und die Stiftungen. Papst Innozenz IV. spricht 1245 erstmals von einer (lat.) persona ficta (erdachten Person) der universitas, die aber noch keine dem Menschen vollkommen gleichstehende eigenständige Person ist. Dementsprechend wird auch sonst eine feste Unterscheidung zwischen verselbständigten Verbandspersonen und anderen weniger festen Personenverbänden nicht getroffen.
Lit.: Buchda, G., Geschichte und Kritik der deutschen Gesamthandlehre, 1937; Ebersold, G., Mündigkeit, 1980; Ennen, E., Frauen im Mittelalter, 3. A. 1987; Gierke, O. v., Das deutsche Genossenschaftsrecht, Bd. 1 1868; Fehr, H., Die Rechtsstellung der Frau und der Kinder in den Weistümern, 1912; Kisch, G., Forschungen zur Rechts- und Sozialgeschichte der Juden in Deutschland während des Mittelalters, Bd. 1ff. 1978ff.; Magin, C., Wie es um der juden recht stet, 1999; Schermaier, J., Die Bestimmung des wesentlichen Irrtums, 2000; Schmelzeisen, G., Die Stellung der Frau in der deutschen Stadtwirtschaft, 1935; Wenninger, M., Man bedarf keiner Juden mehr, 1980
2. Ehe
Das kirchliche Recht beansprucht verstärkt seit dem 10./11. Jh. für die Ehe den Vorrang vor dem weltlichen Recht.
Dabei erscheint seit dem 13. Jh. auch die von ahd. ewa, Recht, abgeleitete Bezeichnung Ehe (rechtmäßige Vereinbarung).
a) Nach der kirchenrechtlichen, wohl im Laufe des 12. Jh. durchgesetzten lateinischen Regel solus consensus facit nuptias (allein die Willensüberstimmung bewirkt die Ehe) kommt die Ehe durch das üblicherweise im Ring der Verwandten gegebene Ja-Wort der Brautleute zustande.
Seit dem 12./13. Jh. soll nach dem Kirchenrecht aus Gründen der Rechtssicherheit ein vorheriges Aufgebot (öffentliche Mitteilung mit der Möglichkeit der Geltendmachung bestehender Rechte z. B. aus einer anderen Ehe) (1215). Der Priester soll das Ja-Wort der Brautleute erfragen und damit an ihrem Vertragsschluss mitwirken. Mit der Erweiterung der Zahl der Sakramente von drei auf sieben erlangt die Ehe Sakramentscharakter (Petrus Lombardus um 1095-1160).
b) Das geschlossene System der Ehehindernisse der Kirche setzt sich weitgehend durch.
c) Die Scheidung der einwandfreien durch körperliche Vereinigung vollzogene Ehe (lat. matrimonium ratum et consummatum) ist grundsätzlich ausgeschlossen. Von Anfang an mangelhafte Ehen können als unwirksam festgestellt werden. Möglich ist die den Bestand der Ehe nicht berührende Trennung von Tisch und Bett.
d) Für die - dem weltlichen Recht unterfallenden - Ehegüter dringt neben der Gütertrennung mit Verwaltungseinheit die Vorstellung einer Gütergemeinschaft (Wort erst 1808 belegt) weiter vor.
Sie kann alle Güter (allgemeine Gütergemeinschaft), die Errungenschaften (erworbenen Güter) während der Ehe (Errungenschaftsgemeinschaft) oder auch nur die Fahrnis (Fahrnisgemeinschaft) erfassen. Die Verwaltung der Güter steht grundsätzlich dem Mann zu. Im Einzelnen sind die Regelungen örtlich sehr unterschiedlich. Außerdem werden auch Verträge zwischen den Eheleuten (Eheverträge) üblich.
Die Frau kann an vielen Orten Geschäfte des täglichen Lebens selbständig (mit Wirkung auch für den Mann) abschließen (Schlüsselgewalt).
Lit.: Brauneder, W., Die Entwicklung des Ehegüterrechts in Österreichs, 1973; Köbler, G., Das Familienrecht in der spätmittelalterlichen Stadt, in: Haus und Familie in der spätmittelalterlichen Stadt, hg. v. Haverkamp, A., 1984; Plöchl, W., Das Eherecht des Magisters Gratianus, 1935; Rosenthal, E., Die Rechtsfolgen des Ehebruchs nach kanonischem und deutschem Recht, 1880; Schröder R., Geschichte des ehelichen Güterrechts in Deutschland, Bd. 1ff. 1863ff., Neudruck 1967; Ziegler, J., Die Ehelehre der Pönitentialsummen von 1200 bis 1350, 1956
3. Erbe
a) Beim (oft plötzlichen) Tod des Erblassers fällt der Nachlass, aus dem zu ihrem Schutz Witwe und Gesinde 30 Tage lang nicht vertrieben werden dürfen (sog. Dreißigster), an den Erben. Ist der Erbe abwesend, so verwahrt der Richter die Erbschaft, bis der Erbe sie ergreift. In Streitfällen weist der Richter den wahren Erben in den Nachlass ein, woraus sich teilweise eine allgemeine örtliche Abwicklung der Erbfälle ergibt.
Mehrere Erben (Miterben) erben (oft) als Gemeinschaft zur gesamten Hand (Erbengemeinschaft), so dass der einzelne Beteiligte über seinen Anteil am Nachlass nicht verfügen kann.
Jeder kann aber Teilung verlangen. Nach einer schon bei Augustin bezeugten Regel soll zur Erreichung von Gerechtigkeit der Ältere teilen und der Jüngere dann unter den Teilen auswählen. Vorempfänge einzelner (vor dem Erbfall) werden bei dieser Teilung verrechnet.
Zum Nachlass zählen grundsätzlich alle Sachen und Rechte. Für Schulden haftet noch im Sachsenspiegel (1221/1224) nur die Fahrnis des Nachlasses, wobei bestimmte Schulden überhaupt ausgenommen sind (z. B. Schulden aus Raub, Diebstahl, Spiel). Später ist für alle Schulden und mit dem ganzen Nachlass einzustehen.
b) Das Sondererbrecht an Hergewäte (Heeresausrüstung), Gerade (Hausrat) und den besonderen Ehegütern (Morgengabe, Wittum) beginnt in den Städten des hohen Mittelalters zu schwinden. Neues Sondererbrecht grundsätzlich für den Ältesten entsteht aus rechtlichen wie wirtschaftlichen Überlegungen am Lehen - erst später werden Abkömmlinge, andere männliche Verwandte, Frauen sowie mehrere Erben lehnrechtlich erbfähig -, an den Stammgütern des Hochadels und seit dem 14. Jh. an den ihnen vom niederen Adel nachgebildeten Familienfideikommissen sowie vielfach am bäuerlichen Hof (Anerbenrecht des Ältesten [oder Jüngsten]), der aber auch in einzelne Teile aufgeteilt werden kann (Realteilung).
c) Die Erbfolge ist grundsätzlich Verwandtenerbfolge, doch ist diese selbst sehr verschieden gestaltet.
Der Sachsenspiegel (1221/1224) hält noch an der älteren Verwandtschaftsordnung der um das Haus gebildeten Kreise fest. Andernorts wird seit dem 13. Jh. die Verwandtschaft von der ehelichen Gemeinschaft von Mann und Frau aus berechnet, so dass Enkel, Urenkel usw. zusammen mit den Kindern zu einer ersten Familienschaft (Parentel), Eltern und deren Abkömmlinge zu einer zweiten Familienschaft, Großeltern und deren Abkömmlinge zu einer dritten Familienschaft usw. gezählt werden. Dementsprechend wird geerbt, wobei Frauen den Männern erst allmählich gleichgestellt werden. Daneben besteht weiter etwa noch die Dreilinienordnung, die zwischen Abkömmlingen, Vorfahren und Seitenverwandten trennt.
Stadtrechte erkennen als Folge der Gütergemeinschaft allmählich ein Erbrecht unter Ehegatten an.
Fehlen Erben überhaupt, so fällt das Gut an den König, seit dem 13. Jh. an den Landesherrn oder Stadtherrn, evtl. auch an die Kirche oder die Armen.
d) Vergabungen von Todes wegen sind vielfach üblich. Daneben wird seit dem 13. Jh. auch die Verfügung von Todes wegen anerkannt (z. B. durch Testament oder Erbvertrag).
Das Testament als einseitige, widerrufliche letztwillige Verfügung (des römischen Rechts) wird zuerst bei (den ja grundsätzlich kinderlosen) Klerikern zugelassen. Es ist öffentlich vor Gericht, Rat oder später auch Notar zu errichten und ist meist auf Einzelgegenstände beschränkt. Vielfach kann nur über einen Teil des Vermögens durch Testament verfügt werden. Sein Vollzug kann einem Testamentvollstrecker anvertraut sein.
Möglich werden auch Erbverträge (vor allem Erbverbrüderungen). Sie betreffen die Begründung oder Beseitigung eines Erbrechts, werden hauptsächlich unter Eheleuten und adligen Familien abgeschlossen und sind nach ihrer Vereinbarung einseitig nicht abänderbar.
Lit.: Heuser, F., Der Erbschaftserwerb im Spätmittelalter, 2002; Meuten, L., Die Erbfolgeordnung des Sachsenspiegels, 2000; Siegel, H., Das deutsche Erbrecht nach den Rechtsquellen des Mittelalters, 1853; Vismara, G., Famiglia e successioni nella storia del diritto, 1970
4. Sachen
Infolge der auf Grund besserer Lebensbedingungen verstärkten Güteranhäufung wie des vermehrten Wirtschaftens mit den Gütern bildet sich das Recht der Sachen weiter durch.
a) Anerkannt ist nun der Begriff der Gewere (an einer Sache) als des äußeren Kleides (Erscheinungsform) eines (als solchen nicht sichtbaren) Rechtes (z. B. Eigentum) an dieser Sache. Wer die Gewere (Investitur, Einkleidung und die sich auf den Vorgang gründende Stellung) hat, kann rechtswidrige Eingriffe abwehren (Defensivfunktion). Wer aus ihr rechtswidrig vertrieben ist, kann sie zurückfordern (Offensivfunktion). Wer das Recht an der Sache übertragen will, muss die Gewere (äußere Erscheinungsform des Rechts) übertragen (Translativfunktion).
Innerhalb der Gewere werden verschiedene Arten unterschieden (z. B. diebliche Gewere). Am wichtigsten ist die Trennung in leibliche (körperliche) Gewere und ideelle (unkörperliche) Gewere. Ideelle Gewere gibt es nur an Liegenschaften.
b) Neben der Gewere bildet sich allmählich sowohl auf Grund des Einflusses des römischen Rechts wie auch infolge praktischer Rationalität der Begriff des Eigentums (lat. dominium, proprietas) im Sinne einer Herrschaftsmacht über eine Sache aus. Dabei entsteht im gelehrten Recht selbst in verkennender Ausdehnung einer römischen Quellenstelle über einen Herausgabeanspruch (lat. rei vindicatio utilis) des Erbpächters die Unterscheidung zwischen einem Obereigentum (lat. dominium directum, Direkteigentum, [lat.] nuda proprietas, bloßes Eigentum z. B. des Lehnsherren) und einem Untereigentum (lat. dominium utile, Nutzeigentum z. B. des Lehnsmannes [oder Erbpächters]) aus. Außerdem wird entgegen dem römischen Recht ein Gebäude oder ein Stockwerk als Gegenstand eines besonderen, vom Eigentum am Grundstück unterschiedenen Eigentums anerkannt.
Bezeichnet wird die umfassende Berechtigung wenigstens an Liegenschaften als eigen (lat. proprietas, 13. Jh. eigenschaft, eigentum). Dessen Inhalt erfährt eine wesentliche Veränderung dadurch, dass die älteren Bindungen zurücktreten. Dadurch wird die Stellung des hauptsächlich Berechtigten gestärkt.
Bedarf die Übertragung von Eigen noch im Sachsenspiegel (1221/1224) der Erlaubnis der Erben (Erbenlaub), so wird der Veräußerer zuerst in den Städten zunächst für den Fall des durch Kauf erworbenen Gutes und dann bei jedem Gut im Fall der echten Not und schließlich bei jedem Gut in jedem Fall davon befreit. Das Recht der Erben (Wartrecht, eine Art Anwartschaft) wird dementsprechend in ein Näherrecht (Retraktrecht) umgewandelt, das den Erben nur noch gestattet, die Sache gegen Auslösung durch Erstattung der vom Dritten für den Erwerb aufgewandten Gegenleistung herauszuverlangen (Erbenlosung). In ähnlicher Weise schwächen sich auch vergleichbare Rechte von Markgenossen, Nachbarn oder Grundherren ab.
Andererseits entstehen auch neue Bindungen. So können in den Städten baurechtliche Beschränkungen festgelegt werden und kann bei Bedarf der Allgemeinheit sogar das Eigen selbst entzogen werden (Enteignung). Der Erwerb von Liegenschaften seitens der Kirchen wird wegen seines bedeutenden Umfanges in den Städten seit dem 13. Jh. überhaupt eingeschränkt und bei den Stammgütern und Familienfideikommissen (des Adels) wird das Gut in die Familie gebunden.
Der Erwerb der Sachen erfolgt wegen der knapper werdenden Güter und der Ausdehnung der öffentlichen Berechtigungen (Bodenregal, Jagdregal, Schatzregal, Bergregal) immer seltener ursprünglich (erstmals ohne irgendeinen vorangehenden Berechtigten) und immer häufiger durch Übertragung (abgeleitet) von einem vorangehenden Berechtigten.
Bei Liegenschaften ist dazu ein Vertrag zwischen Veräußerer und Erwerber nötig. Außerdem muss der Veräußerer dem Erwerber das Grundstück tatsächlich oder durch Erklärung auflassen (® Auflassung als Bezeichnung für die Einigung). Die Erklärungen werden nun vielfach (außerhalb eines Verfahrens) im Gericht abgegeben, was schon der Sachsenspiegel (1221/1224) als zwingende Regel aufzeichnet. Wer den dadurch öffentlichen Handlungen nicht widerspricht, verliert sein eventuelles Recht spätestens nach Jahr und Tag (ein Jahr, sechs Wochen, drei Tage) durch Verschweigung. Schließlich kommt zur Übertragung einer Liegenschaft allmählich auch noch ein Schriftakt (® Grundbuch).
So werden in Köln seit etwa 1130 (erste Aufzeichnung von in Gegenwart der Gemeinde vorgenommenen Grundstücksgeschäften in Bürgerverzeichnissen, Laurenz I) für Grundstücksgeschäfte Karten erstellt, die wegen ihrer Wichtigkeit in einem Schrein (Reliquienschrein einer Kirche) verwahrt werden (® Schreinskarten) und im späteren Streitfall den Beweis erleichtern sollen. Sie werden später amtliche Zeugnisse. Seit dem 15. Jh. bildet die Eintragung in das Schreinsbuch eine Voraussetzung für die Wirksamkeit des Grundstücksgeschäfts. Diesem Beispiel folgen seit dem 12. Jh. mehr oder weniger selbständig viele andere Städte (Metz, Andernach, Lübeck). Dabei ordnen Anklam (1401) und Hannover (1428) ihre entsprechenden Stadtbücher bzw. Hausbücher nicht nach Geschehniszeitpunkten (chronologisch) oder nach Personen (Personalfoliensystem), sondern nach einzelnen Grundstücken (Realfoliensystem).
Bei Fahrnis wird die Berechtigung an der Sache durch Vertrag und Übergabe (vom Veräußerer an den Erwerber) gewonnen. Darüber hinaus kann auch sonst eine geschützte Position erlangt werden. Hat der Berechtigte die Sache freiwillig aus der Hand gegeben (z. B. Leihe), so kann er sie trotz seiner Berechtigung von einem Dritten, an den sie der Empfänger weitergegeben hat, grundsätzlich nicht herausverlangen (Hand wahre [überwache?] Hand), doch wird ihm teilweise eine entgeltliche Auslösung gestattet. Bei unfreiwilligem Verlust (z. B. Raub, Diebstahl) kann er sie zwar an sich vom Dritten herausverlangen, doch wird dies für den Fall des Marktkaufs entweder ganz ausgeschlossen oder nur gegen Auslösung gestattet. Juden brauchen teilweise auch sonst abhanden gekommene Fahrnis nur gegen Auslösung an den Berechtigten herausgeben.
c) Beschränkte dingliche Nutzungsrechte finden sich vor allem an Liegenschaften.
Diese können zunächst Gegenstand des an sich dem Adel vorbehaltenen Lehnsrechts sein, wobei im 15. Jh. bereits bis zu 50% der kleineren Lehen letztlich an Bauern und Bürger gelangen. Daneben ist auch sonst (bäuerliche oder bürgerliche) Bodenleihe möglich, die sowohl mit wie auch ohne Beeinträchtigung der persönlichen Rechtsstellung erfolgen kann. Vielfach wird sie später erblich (Erbleihe). Es kann aber auch ein Grundstück (oder eine Rente aus einem Grundstück) einem Menschen zu lebenslänglicher Nutzung (Leibzucht, Leibgeding, vor allem unter Eheleuten) überlassen sein. Das Grundstück kann auch (anlässlich der Zahlung bzw. Hingabe einer Geldsumme) mit einer Rente (Gült, Gülte) belastet werden (Grundrente, Reallast), die wirtschaftlich den Zinsen eines Darlehens entspricht und auf Dauer (Ewiggeld), auf die Lebenszeit eines Menschen (Leibrente) oder auf eine bestimmte Zeit sowie mit oder ohne Wiederkaufsrecht vereinbart sein kann (Rentenkauf, Reallast, Geldanlage zum Ertragserwerb). Weiter kann (der jeweilige Inhaber) ein(es) Grundstück(es) einem (jeweiligen Inhaber eines) anderen Grundstücks zu einer Dienstbarkeit verpflichtet sein (Grunddienstbarkeit).
d) Auch die Bedeutung des Pfandes (beschränktes dingliches Recht an der Sache eines anderen [z. B. des Schuldners oder eines Dritten] zur Sicherung einer Forderung eines Gläubigers) nimmt zu.
Das Pfand an Liegenschaften (Liegenschaftspfand) kann bloßes Substanzpfand (Pfand ohne Nutzungsmöglichkeit) sein. Es muss dann anfangs körperlich übertragen werden (sog. ältere Satzung) und verfällt bei Nichtauslösung. Seit dem 14. Jh. wird der Verfall durch den Verkauf ersetzt. Außerdem tritt an die Stelle der körperlichen Übertragung die Eintragung in ein Buch (sog. jüngere Satzung), der nur bei Nichteinlösung die Einweisung in die Pfandsache folgt.
Ist das Liegenschaftspfand Nutzungspfand (Pfand mit Nutzungsmöglichkeit), so werden die nach der körperlichen Übertragung gezogenen Nutzungen nicht auf die Lösungssumme angerechnet. Seit dem 13. Jh. werden dann überhaupt die Nutzungen von Gütern verpfändet (Rentenpfand), was wirtschaftlich meist den Zinsen eines Darlehens entspricht.
Das Fahrnispfand ist meist Faustpfand (dem Pfandgläubiger übergebenes Pfand), doch kann die Übergabe in den spätmittelalterlichen Städten durch Stadtbucheintrag ersetzt und die Pfandsache dem Schuldner belassen werden. Bei Pfandreife (Fälligkeit der gesicherten Schuld) erfolgt regelmäßig Pfandverkauf.
e) Ein besonderes Recht auf die Sache (lat. ius ad rem) entwickelt die gelehrte Literatur des 13. Jh. (Kanonistik [1200-10], Summa super usibus feudorum [1230-1250, Jacques de Revigny?]) für den Lehnsmann, der zwar bereits belehnt ist, das Lehnsgut aber noch nicht gegenständlich erlangt hat. Er darf das Gut (auch im Verhältnis zu Dritten) an sich ziehen. Ähnliches gilt für den Erwerber einer Pfründe.
Lit.: Arnold, W., Zur Geschichte des Eigenthums in den deutschen Städten, 1861; Brandt, A. v., Der Lübecker Rentenmarkt von 1320-1350, Diss. phil. Kiel 1935; Conrad, H., Liegenschaftsübereignung und Grundbucheintragung in Köln während des Mittelalters, 1935; Feenstra, R., Reclame en revindicatie, 1949; Hübner, R., Der Fund, 1914; Planitz, H., Das deutsche Grundpfandrecht, 1936; Rehme, P., Das Lübecker Oberstadtbuch, 1894; Schott, C., Der Träger als Treuhandform, 1975; Völkl, A., Das Lösungsrecht von Lübeck und München, 1991
5. Schulden
Die Verbindlichkeiten gewinnen infolge der wirtschaftlichen Entwicklung erheblich an Bedeutung.
a) Die nichtdeliktische Verbindlichkeit entsteht nach h. M. zunächst weiter aus Formalvertrag, Realvertrag und Arrhalvertrag. Daneben schieben sich nun aber das formlose offenkundig abgegebene Versprechen und der formlose Vertrag in den Vordergrund.
Die Ansätze zu einem allgemeinen einheitlichen und formlosen Vertragsbegriff gehören dem kirchlichen Recht an. Hier ist der Ausgangspunkt die an sich gegenteilige Regel, dass eine einfache Vertragserklärung nicht binde (lat. ex nudo pacto actio non oritur, aus einem einfachen Vertrag entsteht kein Klaganspruch). Deshalb wird das Versprechen durch Eid bekräftigt (lat. pactum vestitum, förmlich[ bekleidet]e Vereinbarung). Dieser Eid bindet vor Gott, weil der Eid ein Versprechen gegenüber Gott ist. Wenn er aber vor Gott bindet, muss er (wegen der erwünschten Folgen) auch gegenüber dem Versprechensempfänger binden. Im übrigen kann vor Gott kein Unterschied zwischen einem eidlichen und einem nichteidlichen Versprechen bestehen. Folglich muss auch das einfache Versprechen vor Gott und dann auch gegenüber dem Empfänger bindend sein (und durch das tatsächliche Erzwingungsmittel der Exkommunikation handhabbar gemacht werden können).
Vielfach werden bei der Begründung der Verpflichtung aus Beweisgründen Zeugen beigezogen. Seit dem 13. Jh. nimmt mit der wachsenden Bildung im Schreiben und Lesen die Beurkundung zu.
Leisten muss der Schuldner, der mit seinem gesamten Vermögen für die Erfüllung einzustehen hat (unbeschränkte Haftung), im Zweifel sofort und in seinem Haus. Leistet er nicht rechtzeitig, so tritt oft eine Rechtsfolge nur auf Grund eines besonderen Schadensersatzgelöbnisses ein. Leistet er überhaupt nicht, so wird er von seiner Verpflichtung nur frei, wenn seine Nichtleistung auf höherer Gewalt beruht.
Die Leistung kann (anders als im römischen Recht) an einen Dritten versprochen sein (Vertrag auf Leistung an Dritten). Daneben kann später ein Dritter vom Gläubiger zur gerichtlichen Geltendmachung der Forderung ermächtigt werden und danach die Forderung überhaupt vom (bisherigen) Gläubiger (Altgläubiger) an einen Dritten (als neuen Gläubiger, Neugläubiger) unter dem anfänglichen Erfordernis der im Spätmittelalter allmählich aufgegebenen Zustimmung des Schuldners und unter Eintragung in das Stadtbuch übertragen (»abgetreten«) werden. Im Spätmittelalter kann sich ein Dritter auch zur Übernahme der Verbindlichkeit eines Schuldners (Schuldübernahme) verpflichten. Beim Übergang eines ganzen Vermögens (Vermögensübernahme) hat der Erwerber den Gläubigern des Veräußerers für dessen Schulden einzustehen.
Für Geldschulden neigt die Kirchenrechtswissenschaft dazu, nicht auf den Nominalbetrag der Schuld, sondern auf den inneren Wert des Geldes abzustellen.
b) Von den einzelnen Geschäften tritt zunächst mit der Geldwirtschaft und Markwirtschaft der Kauf in den Vordergrund.
Er entsteht außer als Handgeschäft auch als Arrhalvertrag, wobei die arrha (Angeld) bei der Begründung vertrunken wird (Weinkauf). Die Kirche übernimmt 1234 die von Justinian vertretene Lehre vom gerechten Preis (lat. iustum pretium), nach der eine zu große Differenz (lat. laesio enormis) zwischen Wert und Preis dem Verkäufer das Recht zur Nachforderung oder zur Anfechtung und Rückabwicklung gewährt. Der Verkäufer muss den Käufer gegen Ansprüche Dritter auf die verkaufte Sache schirmen und damit gegen Rechtsmängel Gewähr leisten, anderenfalls den Kaufpreis erstatten und teilweise noch eine Buße erbringen. Sachmängel werden grundsätzlich, von schweren verborgenen Mängeln bei Vieh (Hauptmängeln) abgesehen, nach dem Kauf nicht mehr berücksichtigt (Augen auf, Kauf ist Kauf). Ausnahmsweise erfolgt Rückgabe gegen Rückzahlung.
Aus der Liegenschaftsleihe entwickelt sich infolge des Zustroms von Menschen vom Land in die Städte seit dem 12. Jh. die Miete von Wohnraum.
Im Spätmittelalter sind in den Städten bereits bis zu 40% der Wohnungen Mietwohnungen. Dem Mieter wird während der Mietzeit eine Gewere (für sein unsichtbares Recht) an der Mietsache zuerkannt. Der Verkauf der Mietsache beendet die Miete nicht (Kauf bricht nicht Miete). Nach kirchlichem Recht kann auch ein höheres Mietangebot eines Dritten den Mieter nicht aus der Wohnung verdrängen. Seit dem 14. Jh. findet sich die Pacht.
Darlehen werden durch Christen offen nicht gewährt. Dies beruht auf dem auf Lukas 6,35 gegründeten kanonischen Zinsverbot. Die wirtschaftlichen Ziele des verzinslichen Darlehens werden aber mit Hilfe zahlreicher Umgehungsgeschäfte erreicht. Im übrigen dürfen Juden verzinsliche Darlehen geben und werden infolgedessen vielfach zu wirtschaftlich sehr erfolgreichen Gläubigern christlicher Schuldner.
In der Stadt erscheint mit dem Wachsen ihrer Bewohnerzahl und der Ausbildung der Gewerbe auch der Dienstvertrag, der die älteren personenrechtlichen Abhängigkeitsverhältnisse (der Grundherrschaft) ersetzt.
Er wird vor allem für Gesinde im Haushalt, für Kaufgesellen im Handel und für Gesellen und Lehrlinge im Handwerk geschlossen. Vielfach wird der Bedienstete dabei in die Hausgemeinschaft aufgenommen.
Der Werkvertrag (z. B. über ein Bauwerk, etwa seit dem 12. Jh. der Kommissionsvertrag und etwas später der Frachtvertrag) begegnet ebenfalls in Handel und Gewerbe.
Auch der Zusammenschluss zu Handelsgesellschaften erfolgt durch einen Vertrag, der sehr verschieden ausgestaltet sein kann (stille Gesellschaft, offene Gesellschaft, beschränkte Haftung, unbeschränkte Haftung, Mitarbeit, Kapitaleinsatz).
An den oberitalienischen Handelsplätzen entstehen seit dem 12. Jh. die Frühformen der Wertpapiere.
Dabei gibt anfangs ein Kaufmann (z. B. zur Sicherung gegen Geldverlust durch Überfall auf einem Transport an einen anderen Ort) an einem bestimmten Ort einem Geldwechsler einen bestimmten Betrag gegen Empfangsbescheinigung und Rückzahlungsversprechen für einen anderen Ort. Der Geldwechsler weist einen Geschäftsfreund am anderen Ort an, für ihn zu zahlen, wobei er Ausgleich durch Verrechnung verspricht. Im 13. Jh. werden beide Dokumente zu einer Urkunde (Wechsel) vereinigt, die der Zahlende bei seiner Zahlung am einen Ort erhält und gegen deren Vorlage er bei dem Geschäftsfreund am anderen Ort Zahlung erhält.
Von den Sicherungsgeschäften werden Geiselschaft und Gestellungsbürgschaft vielleicht durch das seit dem 12. Jahrhundert bekannte Einlagerversprechen (Versprechen bis zur Bewirkung der gesicherten Leistung an einem bestimmten Ort auf Kosten des Schuldners oder auf eigene Kosten Lager zu nehmen) abgelöst. In den Städten entwickelt sich die Verbürgung mit dem Vermögen für die Verschaffung der Leistung durch den Schuldner. Dabei hat ursprünglich der Bürge, seit dem Spätmittelalter der Schuldner, primär dem Gläubiger einzustehen. Andere Sicherungsgeschäfte sind Versicherungsverträge auf Gegenseitigkeit, Leibrentenverträge und Altenteilsverträge.
c) Bei den Unrechtserfolgen wird wegen des Vordringens der peinlichen Strafe und der mit ihr verbundenen Aussonderung öffentlicher Folgen die verbleibende ausgleichende Funktion zwischen den unmittelbar Beteiligten deutlicher. Der Verletzte erhält als Ausgleich Schadensersatz. Als Voraussetzung genügt dabei zunächst (nach h. M.) vielleicht ein rechtswidriger Erfolg (Erfolgshaftung), während später außerdem (einschränkend) eine typische Gefährdungssituation (z. B. Anzünden eines Feuers, Graben eines Brunnens) und noch später (zur Entlastung des Schädigers) Verschulden (Verschuldenshaftung) gefordert wird. Ohne Verschulden hat dann nur der Hausherr für Hausangehörige, später auch der Geschäftsherr für Bedienstete einzustehen. Die Einstandspflicht für von Tieren verursachte Schäden kann teilweise durch Preisgabe des Tieres abgewandt werden.
Lit.: Breßler, S., Schuldknechtschaft und Schuldturm, 2004; Cordes, A., Spätmittelalterlicher Gesellschaftshandel im Hanseraum, 1998; Dilcher, H., Die Theorie der Leistungsstörungen bei Glossatoren, Kommentatoren und Kanonisten, 1960; Ebel, W., Gewerbliches Arbeitsvertragsrecht im deutschen Mittelalter, 1934; Feenstra, R., Die ungerechtfertigte Bereicherung in dogmengeschichtlicher Sicht, in: Ankara Universitesi Hukuk Fakültesie Dergise 29 (1972), 289; Feenstra, R./Ahsmann, M., Contract, 1980; Gierke, O. v., Schuld und Haftung im älteren deutschen Recht, 1910, Neudruck 1969; Goldschmidt, L., Universalgeschichte des Handelsrechts, 1891; Hammer, O., Die Lehre von Schadensersatz nach dem Sachsenspiegel, 1885; Harder, M., Die Leistung an Erfüllungs Statt, 1976; Hübner, R., Grundzüge des deutschen Privatrechts, 5. A. 1930, Neudruck 1969; Karsten, C., Die Lehre vom Vertrage bei den italienischen Juristen des Mittelalters, 1882; Kuttner, S., Kanonistische Schuldlehre von Gratian bis auf die Dekretalen Gregors IX., 1935; Lange, H., Schadensersatz und Privatstrafe in der mittelalterlichen Rechtstheorie, 1955; Nanz, K., Die Entstehung des allgemeinen Vertragsbegriffs im 16. bis 18. Jahrhundert, 1985; Nehlsen-Stryk, K. v., Die venezianische Seeversicherung im 15. Jahrhundert, 1986; Nörr, K., Zur Frage des subjektiven Rechts in der mittelalterlichen Rechtswissenschaft, FS Hermann Lange, 1992, 193; Puntschart, P., Schuldvertrag und Treugelöbnis des sächsischen Rechtes im Mittelalter, 1896; Scherrer, W., Die geschichtliche Entwicklung des Prinzips der Vertragsfreiheit, 1948; Schlosser, H., Die Rechts- und Einredeverzichtsformeln (renuntiationes) der deutschen Urkunden vom 13. bis zum ausgehenden 15. Jahrhundert, 1963; Schröder, R., Zur Arbeitsverfassung des Spätmittelalters, 1984; Söllner, A., Die causa im Kondiktionen- und Vertragsrecht des Mittelalters bei den Glossatoren, Kommentatoren und Kanonisten, ZRG RA 77 (1960), 182; Strätz, H., Treu und Glauben, 1974; Wesenberg, G., Verträge zugunsten Dritter, 1949; Wieling, H., Interesse und Privatstrafe vom Mittelalter bis zum bürgerlichen Gesetzbuch, 1970
§ 6 Frühe Neuzeit (16. Jh.-18. Jh.)
Die Neuzeit reicht vom Ende des Mittelalters bis zur Gegenwart. Sie umfasst damit ebenfalls rund 500 Jahre. Als frühe Neuzeit lässt sich die Zeit bis zum Ende des ancien régime (1789) bzw. des Heiligen Römischen Reiches (deutscher Nation) (1806) ansehen.
A) Grundlagen
Um 1500 leben im Heiligen Römischen Reich etwa 11 Millionen Menschen (bei einer Weltbevölkerung von rund 460 Millionen), davon 15% in Städten. Trotz des 30jährigen Krieges wächst diese Zahl bis 1800 auf rund 23 Millionen (bei einer Weltbevölkerung von rund 950 Millionen), von denen 20% in Städten wohnen. Die durchschnittliche Familie umfasst etwa 5 Personen (hohes Heiratsalter, hohe Ledigenquote, 50% Sterblichkeit der durchschnittlich 5-6 Geburten).
Seit der Wende vom 15. zum 16. Jh. an verändert sich die politische Gesamtsituation schon dadurch, dass über den bekannten Gesichtskreis hinaus neue Erdteile und Länder von den Europäern entdeckt und erobert werden (1492 Entdeckung „Westindiens“ (Amerikas) durch Kolumbus (Genua 1451–Valladolid 1506), 1521 Zerstörung des Aztekenreiches durch Cortez). Da Karl V., der Enkel Kaiser Maximilians, aus dem Hause Habsburg über seine spanische Mutter Johanna 1504 Kastilien und 1516 Aragon und damit Spanien samt seinen Eroberungen erbt, steht er in Personalunion einem Herrschaftsgebiet vor, in dem »die Sonne nicht untergeht«. Bereits 1521/1526 wird aber wegen der Verschiedenheit der Gebiete innerhalb Habsburgs in eine spanische Linie (Spanien, Burgund mit den Niederlanden sowie das neu gewonnene Mailand) und eine österreichische Linie geteilt. Zu dieser gehören seit 1526 durch (erheiratete) Erbfolge auch Böhmen (mit Mähren, Schlesien, der Oberlausitz und der Niederlausitz) und Ungarn. Allerdings wird die habsburgische Herrschaft von außen bald sowohl durch den französischen König (1525) wie auch durch die ständig weiter nordwestlich vordrängenden Türken (1529 vor Wien) bedroht.
Im Inneren entbrennen nach der Veröffentlichung von 95 Reformationsthesen (durch Anschlag an die Schlosskirche) zu Wittenberg am 31. 10. 1517 durch den (ehemaligen Rechtsstudenten und) Theologieprofessor Martin Luther die aus der allgemeinen Unzufriedenheit und dem Reformstreben des ausgehenden Mittelalters erwachsenden Religionskämpfe. Luther, der die menschliche Erlösung statt auf (zuletzt käufliche) gute Werke (Ablasskauf) auf die göttliche Gnade gründen will, wird vom Papst mit dem Kirchenbann und vom Kaiser mit der Reichsacht (1521 Wormser Edikt) belegt, ohne dass dies die rasche Ausbreitung seiner vor allem die ärmeren Schichten ansprechenden Ideen verhindern kann. In Verkennung der neuen Reformlehren von der Freiheit eines Christenmenschen erheben sich die Reichsritter (1522/1523) gegen die Fürsten und die Bauern (1525) gegen die Grundherren, doch werden ihre schlecht gerüsteten Bewegungen rasch erstickt und unterdrückt. Um die sich gleichwohl ausbreitende Religion (z. B. 1522 Zwingli in Zürich, 1535 Calvin in Genf) der seit dem Reichstag von Speyer (1529) wegen ihrer Protestation gegen einen Beschluss der katholischen Mehrheit so bezeichneten, stets reichstreu bleibenden Protestanten wird schließlich in einem Religionskrieg (Schmalkaldischer Krieg) gekämpft. Dabei wird nach wechselvollem Verlauf im Jahre 1555 der Augsburger Religionsfriede unter der eine neue staatliche Glaubenseinheit (Gleichberechtigung zwischen katholischer und lutherischer Konfession) sichernden, erst um 1600 formulierten Maxime (lat.) cuius regio, eius religio (wessen Land, dessen Religion [ausgenommen der Religionswechsel der geistlichen Fürsten, sog. reservatum ecclesiasticum]) geschlossen, wonach bald nur noch etwa ein Drittel des Reiches katholisch ist.
Unter dem Einfluss des Konzils von Trient (1545-1563) und unter Führung des gerade (von Ignatius von Loyola) gegründeten Jesuitenordens hebt dann als Gegenbewegung die Gegenreformation an. Nach Bildung der protestantischen Union (1609) und der katholischen Liga (1609) beginnt aus Anlass des Prager Fenstersturzes des kaiserlichen Statthalters in Böhmen (Kurfürstentum) der Dreißigjährige Krieg (1618-1648), in den vor allem auch Schweden (1630) und Frankreich (1635) als außerdeutsche Mächte nachhaltig eingreifen und dem vielleicht die Hälfte der Landbevölkerung sowie ein Drittel der Stadtbevölkerung zum Opfer fallen. Der nach grausamen und blutigen Wirren schließlich unter Garantie durch die vertragsschließenden ausländischen Mächte 1648 geschlossene Westfälische Friede (von Münster [Katholiken mit Spanien und Frankreich] und Osnabrück [Protestanten mit Schweden]) bestätigt den Stand von 1555 (unter Anerkennung der reformierten Konfession). Zugleich schwächt er das Reich, weil es umfangreiche Gebiete verliert (Elsass an Frankreich, Bremen, Verden und Vorpommern an Schweden) und im übrigen den etwa 300 nun vorhandenen Reichsgliedern verschiedenster Größe und Bedeutung wesentliche Rechte (u. a. Bündnisrecht, lat. ius faciendi foedera, grundsätzlich auch mit auswärtigen Mächten) abgeben muss, ohne dass die Länder allerdings unabhängig werden. Die Schweiz (mit 13 Orten [Schwyz, Uri, Unterwalden, Luzern, Zürich, Glarus, Zug, Bern, Freiburg im Üchtland 1481, Solothurn 1481, Basel 1501, Schaffhausen 1501, Appenzell 1513], seit 1798 Kantonen, und 10 zugewandten Orten [Biel 1353, Oberwallis 1403, Neuenburg 1406, St. Gallen 1451/1454, Rottweil 1463, Mülhausen 1466, Graubünden 1396, 1424, 1436, Genf 1516, Hochstift Basel] sowie seit 1403 eroberten gemeinen Herrschaften [Tessin, Jura, Aargau 1415, Thurgau 1460, Rheintal 1490, Waadt 1536], geordnet als eine Art Staatenbund mit Tagsatzungen als Versammlungen) und die Niederlande (mit dem größten Teil der seit 1571 in einem Freiheitskampf [1572 Erklärung von Dordrecht mit u. a. der Forderung nach Glaubensfreiheit und Gewissensfreiheit] von (Habsburg bzw.) Spanien abgefallenen Provinzen Holland, Seeland, Utrecht, Geldern, Groningen, Overijssel, Friesland [sowie Flandern und Brabant]) verselbständigen sich endgültig.
Dies erleichtert andererseits den weiteren Aufstieg einzelner Fürsten, die geschickt und zielstrebig in vielfältiger Weise ihre Gebiete abrunden und modern organisieren. Hiervon teilt sich zwar die österreichische Linie des Hauses Habsburg (Monarchia Austriaca als Gesamtbezeichnung für alle von der österreichischen Linie der Habsburger in einer monarchischen Union regierten Länder, Casa de Austria als Name der Dynastie), das im bayerischen Erbfolgekrieg 1505 noch die 3 unterinntalischen Gerichte Kufstein, Kitzbühel und Rattenberg von Bayern und 1516 Ampezzo und Rovereto von Venedig gewinnt, 1564 in Oberösterreich (Tirol, Vorderösterreich), Innerösterreich (Steiermark, Kärnten, Krain) sowie Österreich ob der Enns und Österreich unter der Enns mit Böhmen und dem verbliebenen Teil Ungarns, doch kommen diese Güter 1665 in der innerösterreichischen Linie wieder zusammen. In Kriegen mit den Türken werden weitere Teile Ungarns, Siebenbürgens, des Banat, der kleinen Walachei und Serbiens erlangt (1683-1699, 1715-1718), im spanischen Erbfolgekrieg 1713/1714 (bei Verzicht auf Spanien) die spanischen (südlichen) Niederlande, das zwischenzeitlich verlorengegangene Mailand, Mantua, Mirandola, Neapel und Sardinien. 1720 wird Sizilien gegen Sardinien eingetauscht, 1735/1737 Neapel-Sizilien gegen das 1748 wieder verlorene Parma-Piacenza und 1738 bzw. 1766 das durch Heirat Maria Theresias mit dem lothringischen Erbprinzen angefallene Lothringen (Dynastie Habsburg-Lothringen) gegen die Toskana.
Neben den österreichischen Erblanden der Habsburger tritt insbesondere Brandenburg-Preußen (1618-1619 Anfall des außerhalb des Reiches gelegenen Deutschordenslands Preußen an Brandenburg, 1614 Erwerb von Kleve, Mark, Ravensberg und Ravenstein, 1648 Gewinn Hinterpommerns, Halberstadts, Cammins und Mindens,) mit seinen verschiedenen Teilen unter dem Haus Hohenzollern (Friedrich Wilhelm I., der Große Kurfürst) stärker hervor, wobei 1701 sich Friedrich I. zum König in Preußen (später König von Preußen) krönt und seine gesamten Güter fortan vorrangig nach diesem Landesteil (Preußen) nennt. Außerdem gewinnen Bayern (Haus Wittelsbach), Sachsen (Haus Wettin) und Hannover (Haus Braunschweig-Lüneburg) an Bedeutung. Äußeres Vorbild wird weitgehend Frankreich (Ludwig XIV., 1661-1715), das nach dem Elsass 1738 bzw. 1766 (durch Tausch mit Habsburg) auch Lothringen erlangt.
In Österreich, das nach Siegen gegen die Türken (in den Türkenkriegen 1683-1699, 1715-1718, Erweiterungen in Ungarn, Siebenbürgen, Banat, Kleiner Walachei und Teilen Serbiens) zur europäischen Großmacht aufsteigt, kommt es 1740 als Folge der 1713 als habsburgisches Hausgesetz erlassenen, 1720/1722 von den Ständen angenommenen und 1732 auch vom Reichstag des Heiligen Römischen Reiches gebilligten pragmatischen Sanktion (lat. sanctio pragmatica perpetua valitura), die Unteilbarkeit, die Primogeniturerbfolge und bei Fehlen von männlichen Nachkommen ein Erbrecht von Töchtern (des letzten männlichen Monarchen) und ihrer Nachkommen vorsieht, zur weiblichen Thronfolge (Maria Theresia). Diese den allgemeinen Grundsätzen herrschaftlicher Nachfolge widersprechende Lage nützt der preußische König Friedrich der Große unter Geltendmachung älterer erbrechtlicher Ansprüche zur Annexion Schlesiens. In den daraus folgenden österreichischen Erbfolgekrieg (1740-1748) und in den Siebenjährigen Krieg (1756-1763) greifen alle wichtigen europäischen Mächte ein. Am Ende der Kämpfe steht Preußen, das ein tatsächlich unabhängiger Staat auf dem Boden des Reiches werden will, mit dem Gewinn fast ganz Schlesiens als fünfte Großmacht neben Österreich und England, das im gleichzeitigen Kolonialkrieg vor allem mit Frankreich die Vorherrschaft in Indien und Nordamerika gewinnt, sowie Russland und Frankreich. Österreich erlangt weiter 1760 die Grafschaft Hohenems, 1772 bei einer Teilung Polens das bislang polnische Ostgalizien, 1775 die bislang türkische Bukowina, 1779 das Innviertel, 1795 bei einer weiteren Teilung Polens Westgalizien und 1797 Venedig mit Istrien und Dalmatien, Preußen dagegen 1772 aus Polen Westpreußen, das Ermland und den Netzedistrikt, 1781 auf Grund Erbrechts Ansbach und Bayreuth sowie 1793/1795 aus der Aufteilung Polens Danzig, Thorn, Südpreußen und Neuostpreußen.
In Frankreich bewirken die außenpolitischen Misserfolge gegen England vor allem in Indien und Nordamerika und die bestehende Gesellschaftsordnung, die nunmehr radikaler philosophischer Kritik unterzogen wird, eine allgemeine Unzufriedenheit, die sich durch landwirtschaftliche Missernten und gewerbliche Absatzkrisen noch verstärkt. Zur Besserung der Lage fordert das Bürgertum als dritter Stand (frz. tiers état, rund 30 Prozent der 28 Millionen Franzosen) neben Adel (2 Prozent) und Klerus (1 Prozent) politische Mitwirkungsrechte. Nach Einberufung der Generalstände durch den König und Bildung einer Nationalversammlung im Juni 1789 beginnt am 14. 7. 1789 infolge der Verweigerung der Mitwirkungsrechte für das Volk durch den König mit dem Sturm des Volkes von Paris auf das politische Gefängnis (Bastille) die (erste) französische Revolution. Nach weiteren Massenaufständen wird die bisherige Herrschaft (des Staates) (frz. ancien régime) beseitigt (dazu Enteignung des Adels, Säkularisierung des Kirchenvermögens, Beseitigung des Kirchenzehnts, Auflösung des Gemeineigentums), was von vielen Vertretern der Aufklärung in ganz Europa begeistert begrüßt wird. Österreich und Preußen beenden ihre innere Bindung an das alte Reich, um ihre eigenen gebietlichen Ziele zu verwirklichen. Nach Invasionsdrohungen Österreichs zur Verteidigung der alten Ordnung und zur Rettung der mit dem König von Frankreich verheirateten Tochter Maria Theresias (Marie Antoinette) erklärt Frankreich 1792 dem Heiligen Römischen Reich den Krieg und erobert mit einem Volksheer linksrheinische Gebiete des Reiches.
Diese Gewinne werden von Österreich (1797) und von Preußen, das wegen der Unsicherheiten im Osten an einer unumstrittenen Westgrenze interessiert ist, unter Aufgabe von Interessen des Reiches (Reichsverrat) gegen künftige Entschädigung auf dem rechten Rheinufer anerkannt (1795). 1797/1801 verliert Habsburg seine oberitalienischen Güter (Lombardei) an Frankreich. 1798 marschiert Frankreich in die Schweiz ein und errichtet dort mit der Verfassung vom 12. 4. 1798 einen Einheitsstaat nach französischem Muster, in dem die in der Eidgenossenschaft zusammengeschlossenen Länder (Schwyz, Uri usw.) als Kantone zu Verwaltungsbezirken herabgestuft werden. 1799 setzt sich der zum General aufgestiegene korsische Advokatensohn Napoleon (1769-1821) durch einen Staatsstreich als erster Konsul an die Spitze der französischen Revolution. Danach erzwingt Napoleon, der ein machtvolles deutsches Reich für immer verhindern will, durch politischen Druck die territoriale Neuordnung des Reiches durch die Rechtsbruch bedeutende, teilweise die gewünschte Verlustentschädigung übersteigende Säkularisierung der geistlichen Herrschaften (z. B. Salzburg an Toskana bzw. Österreich, Brixen, Trient, Trier, Köln, Konstanz usw.), die zusammen mit der gleichzeitig im Wege des Faustrechts betriebenen Mediatisierung (»Mittelbarmachung«) bisher reichsunmittelbarer (ritterlicher) Herrschaften (endgültig 1805 im Frieden von Pressburg) die Zahl der Glieder des Reiches auf insgesamt 82 verringert (1803 [auf Grund eines Vorschlags Russlands und Frankreichs] Reichsdeputationshauptschluss, außerordentliche Reichsdeputation aus Mainz, Böhmen, Sachsen, Brandenburg, Bayern, Hessen-Kassel, Württemberg und dem Hoch- und Deutschmeister, aufgelöst werden rechtsrheinisch drei Kurfürstentümer, 24 Fürstentümer [19 Reichsbistümer], 44 Reichsabteien und 41 Reichsstädte). In der Schweiz gewährt Napoleon am 19. 2. 1803 die acte de médiation, die einen Staatenbund von 19 Staaten (13 alte Orte und Sankt Gallen, Graubünden, Aargau, Thurgau, Tessin und Waadt) mit Tagsatzung als wichtigstem Organ schafft (Genf, Wallis und Neuenburg [1806] fallen bis 1814 an Frankreich). 1804 krönt sich Napoleon zum Kaiser der Franzosen, woraufhin auch (der im Übrigen vom Verlust des Kaisertums infolge der seit 1803 entstandenen protestantischen Mehrheit unter den Kurfürsten für sein Haus bei der nächsten Wahl bedrohte Kaiser des Heiligen Römischen Reiches [1792-1806]) Franz II. (von Österreich) den erblichen Kaisertitel (Franz I.) von Österreich annimmt. 1805 erzwingt der im Krieg gegen England, Russland und Österreich von Bayern, Baden und Württemberg unterstützte französische Kaiser Napoleon von Österreich im Frieden von Pressburg (26. 12. 1805) die Abtretung Venetiens, Istriens und Dalmatiens an sein neues Königreich Italien sowie Tirols, Brixens, Trients und des Gebiets westlich des Arlbergs (Vorarlberg) an das neue Königreich Bayern, wofür Salzburg an Österreich gelangt, sowie Vorderösterreichs an Baden und Württemberg. Nach Vorverträgen vom Januar 1806 schließen sich am 12. 7. 1806 16 deutsche Fürsten (u. a. Bayern, Württemberg, Baden, Hessen-Darmstadt, Berg, Kurerzkanzler von Regensburg, später auch Sachsen und alle Länder des Reiches mit Ausnahme Österreichs, Preußens, Kurhessens, Braunschweigs, Holsteins und Vorpommerns, 1808 39 deutsche Staaten) im Rheinbund (Staatenbund?, Fürstprimas Dalberg, leitender Minister Montgelas) unter dem Protektorat Frankreichs bzw. Napoleons zusammen und verpflichten sich zur widerrechtlichen Trennung vom Reich und zur französischen Heerfolge. Am 1. 8. 1806 treten sie auf Verlangen Frankreichs dementsprechend aus dem Reich mit der Begründung mangelnder Sicherheit aus und fordern Österreich bzw. Habsburg auf Wunsch Napoleons auf, die Krone des Reichs niederzulegen. Danach erklärt Kaiser Franz II. unter dem Druck Napoleons (rechtswidrig, aber folgerichtig) das Amt und die Würde des erwählten römischen Kaisers wegen Unmöglichkeit der Erfüllung der kaiserlichen Pflichten für erloschen. Damit endet am 6. 8. 1806 tatsächlich das Heilige Römische Reich (deutscher Nation) einschließlich seiner Organe und des Reichslehnsverbands (, während in einzelnen Ländern wie etwa Mecklenburg das Lehnswesen noch bis zur Reichsverfassung von Weimar von 1919 – und in England theoretisch bis jetzt - fortdauert). Die noch vorhandenen deutschen Einzelstaaten werden (zumeist innerhalb des Rheinbunds) selbständig, fallen aber rasch teils unmittelbar an Frankreich, teils mittelbar unter die Vorherrschaft Frankreichs.
Lit.: Aretin, K. Frhr. v., Friedrich der Große, 1985; Aretin, K. Frhr. v., Heiliges Römisches Reich 1776-1806, 1967; Der aufgeklärte Absolutismus, hg. v. Aretin, K. Frhr. v., 1974; Buszello, H., Der deutsche Bauernkrieg von 1525 als politische Bewegung, 1965; Carsten, F., Princes and Parliaments in Germany, 1959; Conrad, H., Staatsgedanke und Staatspraxis des aufgeklärten Absolutismus, 1971; Deutschland und Italien im Zeitalter Napoleons, hg. v. Reden-Dohna, A. v., 1979; Dickmann, F., Der Westfälische Frieden, 3. A. 1972; Erbe, M., Die Habsburger, 2000; Europa 1500. Integrationsprozesse im Widerstreit, hg. v. Seibt, F./Eberhardt, W., 1986; Gegenreform, hg. v. Zeeden, E., 1973; Geschichte der Erklärung der Menschenrechte, hg. v. Schnur, R., 1964; Hattenhauer, C., Wahl und Krönung Franz II. AD 1792, 1995; Heckel, M., Deutschland im konfessionellen Zeitalter, 1983; Hoemig, K., Der Reichsdeputationshauptschluss, 1969; Hofmann, H., Adelige Herrschaft und souveräner Staat, 1962; Absolutismus, hg. v. Hubatsch, W., 1973; Koselleck, R., Preußen zwischen Reform und Revolution, 2. A. 1975; Leclerc, J., Geschichte der Religionsfreiheit, 1965; Müller, H., Der letzte Kampf der Reichsritterschaft, 1910; Quaritsch, H., Souveränität, 1987; Schlosser, H., Montesquieu: der aristokratische Geist der Aufklärung, 1990; Schmidt, G., Geschichte des alten Reiches, 1999; Schulin, E., Die französische Revolution, 1988
II. Wirtschaft
Die Wirtschaft erfährt vor allem infolge des starken Bevölkerungswachstums allgemein weiteren Aufschwung. Auf der Suche nach besseren Lebensbedingungen dringen gegenüber der Landwirtschaft Gewerbe und Handel stärker vor. Zur bewussten wirtschaftspolitischen Gestaltung greift nunmehr der Staat ein (Merkantilismus) und wird wirtschaftstheoretische Literatur (Physiokraten, Liberalismus) verfasst.
1. In der Landwirtschaft folgt der spätmittelalterlichen Agrarkrise, die sich noch in den Bauernaufständen von 1525 entlädt, im 16. Jh. die Besserung infolge der durch das starke Bevölkerungswachstum ausgelösten Preisrevolution. Für die Agrarverfassung verbleibt es im Westen bei verschiedenen Formen der Grundherrschaft. Dagegen verstärkt im Osten der ritterliche Siedlungsunternehmer (lat. locator), nachdem ihm die Umstellung auf Söldnertruppen frühere Erwerbsmöglichkeiten im Heerwesen abschneidet, seine Bemühungen um Vergrößerung und Abrundung seiner Ländereien im Wege des seit etwa 1650 verschärften Bauernlegens und begründet die besondere Gutsherrschaft mit dem Gutsherrn als Obrigkeit und landlosen Tagelöhnern. Die Wirtschaftsweise mit der sich auch die in der 2. H. des 16. Jh. einsetzende Hausväterliteratur beschäftigt, verbessert sich durch den Übergang vom Getreideanbau zum Kohlanbau und seit etwa 1770 auch zum Kartoffelanbau. Im 18. Jh. entsteht die theoretische Richtung des Physiokratismus (François Quesnay 1694-1774), die den Boden als eigentliche Quelle des Reichtums ansieht, den Ackerbau zum wichtigsten Berufszweig erklärt, zur Verbesserung des Ertrags das Eigentum der Bauern am bewirtschafteten Land befürwortet und sich später gegen die zunehmenden Eingriffe des Staates, die eine Verbesserung der Einnahmen, die Sicherung der allgemeinen Versorgung und dann auch die Einordnung des Bauern in die Gesamtgesellschaft anstreben, wendet.
Eine erste umfassendere rechtliche Regelung des Verhältnisses zwischen Grundherren und Bauern bringt dabei für das Land unter der Enns der tractatus de iuribus incorporalibus von 1679 (Beseitigung der Sterbefallsabgabe, Festlegung des Abfahrtsgelds, Ablösbarkeit der Robot, Appellationsmöglichkeit an die Regierung).
2. Im Gewerbe bleibt die starke Aufgliederung in verschiedene Handwerke, deren zünftische Ordnung mehr und mehr zu einer unökonomischen Zwangsordnung erstarrt, erhalten. Die Produktionsweise verbessert sich langsam durch technische Erfindungen (z. B. M. 16. Jh. Eisenguss, Fußspinnrad, Göpelantrieb, Schraubstock, Bohrmaschine). Der Vertrieb erfolgt vor allem im Textilgewerbe und im Metallgewerbe durch den besonderen Verleger. Dabei erfasst das Verlagssystem auch das Land, auf dem die Winterzeit zur gewerblichen Betätigung genutzt wird. Im Bergbau werden neben Silber vor allem Kupfer und Eisen gefördert.
Seit dem ausgehenden 17. Jh. greift nach französischem Vorbild (Colbert) der Staat im Wettbewerb um die beste Stellung im Verhältnis zu anderen Staaten verstärkt in das Gewerbewesen ein (Merkantilismus, Kameralismus). Für bestimmte Gewerbezweige (Waffen, Textilien, Porzellan) stellt er Geld, Gebäude oder Baumaterial zur Verfügung. Das Bevölkerungswachstum wird gefördert. Eine gewisse Verbesserung der Produktionsweise bewirkt die Schaffung der Manufaktur mit ihrer zentralen Produktionsstätte. Im übrigen mehren sich, beeinflusst durch die seit dem 17. Jh. verstärkt gewonnenen naturwissenschaftlichen Erkenntnisse, im 18. Jh. die technischen Erfindungen (1693 Porzellan, 1735 Gussstahl, 1769/1777 Dampfmaschine, 1785 mechanischer Webstuhl, 1799 Zement).
3. Der Handel wird infolge der Entdeckungen (Amerika, Südafrika, Südasien, Australien) zum - allerdings zunächst nur die Oberschichten berührenden - Welthandel. Die durch ihn eröffneten Gewinnmöglichkeiten führen am Beginn der Neuzeit zum durch Kapitalanhäufung und Gewinnmaximierung gekennzeichneten Frühkapitalismus einzelner Kaufleutefamilien (Welser, Fugger). Diese Unternehmer verlieren ihre führende Stellung in den kriegerischen Wirren wieder.
Wenig später entsteht der Merkantilismus , in dem die Wirtschaft den Reichtum und die Macht des Staates stärken soll. Zu diesem Zweck wird von Staats wegen eine möglichst aktive Handelsbilanz angestrebt. Sie soll durch Abwehr ausländischer Fertigwaren mit hohen Zöllen und Förderung (Subvention) der Ausfuhr inländischer Waren erreicht werden.
Dem setzt der schottische Nationalökonom Adam Smith in seinem als »Bibel des Kapitalismus« geltenden Werk Inquiry into the Nature and Causes of the Wealth of Nations (1776) die Vorstellung entgegen, dass der bestmögliche Ertrag für die sich ständig vergrößernde Bevölkerung nur dadurch entstehen könne, dass der Staat den Einzelnen frei nach seinem besten Vermögen wirtschaftlich lasse (Liberalismus, klassische Nationalökonomie).
Vorherrschende Münze wird im Reich im Übrigen nun der nach den Silbergruben von Joachimsthal benannte Thaler/Taler.
Lit.: Adam Smith, hg. v. Kurz, H., 1990; Handwerk in Europa, hg. v. Schulz, K., 1999; Henning, F., Landwirtschaft und ländliche Gesellschaft in Deutschland, Bd. 2 1978; Holbach, R., Frühformen von Verlag und Großbetrieb in der gewerblichen Produktion (13. bis 16. Jahrhundert), 1994; Recktenwald, C., Adam Smith, 1976; Sandgruber, R., Ökonomie und Politik, 1995
III. Gesellschaft
Die Gesellschaft bleibt in die Stände Adel, Bürger, Bauer und sonstige Unterschicht geteilt.
Der Adel, der sich allmählich in den hohen Adel der Reichsfürsten und Reichsgrafen (Reichsunmittelbarkeit, Regierung von Land und Leuten, Sitz und Stimme im Reichstag) und den niederen Adel (Grafen, Barone, Freiherren) gliedert, lebt von der Rente von Grund und Boden und genießt wichtige Vorrechte (Erwerb von Rittergütern, Steuerfreiheit als Ausgleich der Verpflichtungen aus dem Lehnsdienst). Dem Bürger ist grundsätzlich der Betrieb der Gewerbe zugewiesen, wenn es auch immer zahlreiche Landwirtschaft treibende Ackerbürger gegeben hat. Der Bauer ist weitgehend in grundherrliche bzw. gutsherrliche Abhängigkeitsverhältnisse eingegliedert (Dienste, Abgaben, Leibeigenschaft mit Gutsuntertänigkeit, Erbuntertänigkeit, Gesindezwangsdienst, Schollenpflichtigkeit), die durch die im 18. Jh. einsetzende Bauernschutzgesetzgebung noch kaum gelockert werden (Österreich 1781/1782 Abschaffung der Leibeigenschaft, Preußen 1794 Abschwächung). In seinem eigenen Interesse übt der Gutsherr über seine Bauern auch eine bescheidene Fürsorge aus.
Im Laufe des 18. Jh. führt das infolge des medizinischen Fortschritts besonders starke Bevölkerungswachstum zu kräftigen Preissteigerungen bei geringer Reallohnzunahme. Deshalb verarmen und verelenden erhebliche Teile der Bevölkerung (Pauperismus). Zugleich stoßen die vorhandenen Ernährungsmöglichkeiten an ihre Grenzen.
IV. Geistesleben
Mit der Neuzeit beginnt in der Geistesgeschichte eine vielfältige Erneuerung, die rein technisch dadurch begünstigt wird, dass auf der Grundlage seit etwa 1400 verwendeter ganzseitiger Holzschnittdruckplatten zwischen 1440 und spätestens 1454 Johann Gutenberg in Mainz den einfacheren und preiswerteren Buchdruck mit beweglichen Metalllettern erfindet. Danach werden bis 1500 an etwa 250 Orten, darunter mindestens 62 deutschen Städten, ca. 27000 (d. h. jährlich 500) meist lateinische Schriften mit durchschnittlich 200 bis 300 Exemplaren gedruckt, von denen vielleicht noch 500000 Exemplare (sog. Inkunabeln, Wiegendrucke) vorhanden sind (u. a. 1452-1455 die 42zeilige Bibel, 1460 Constitutiones Clemens V., 1468 Institutionen, bis 1500 fast 200 Ausgaben von Teilen des corpus iuris civilis, bis 1800 ca. 200 Gesamtausgaben sowie 500 Separatausgaben der Institutionen, 1500-1520 rund 20000 (d. h. jährlich 1000) neue Titel (Postinkunabeln) mit etwa 10 Millionen Exemplaren).
Zunächst wird durch die in Italien (rinascimento) erwachsende, im Bauwesen besonders klar sichtbare Renaissancebewegung und durch den Humanismus völlig neu an die Leistungen und Erkenntnisse der griechisch-römischen Antike angeknüpft. Zugleich führt die sich damit paarende neue kritische Rationalität zu einer Abkehr vom traditionellen Weltbild auf vielen Bereichen. Am deutlichsten kommt dies außer in der neuen lutherischen Selbstverantwortung vor Gott in der Ersetzung des bisherigen geozentrischen Systems durch die heliozentrische Vorstellung (Nikolaus Kopernikus 1543) zum Ausdruck.
Wenig später begründen Francis Bacon (1561-1626) und John Locke (1632-1704) in Fortführung des mittelalterlichen Nominalismus, dem Allgemeinbegriffe nur Sammelnamen für einzelne wirkliche Erscheinungen sind, eine neue, von kirchlicher Dogmatik befreite Erkenntnismethode, die von der vorurteilslosen Beobachtung von Einzelvorgängen als Begreifen der Welt an Hand messbarer und zählbarer Größen induktiv zu allgemeinen Erkenntnissen führen soll (Empirismus). Umgekehrt will René Descartes (1596-1650) allein von der Vernunft und von allgemeinen logischen Ableitungen aus Grundeinsichten (Axiomen) aus deduktiv zur Wahrheit gelangen (Rationalismus). In Deutschland versucht Gottfried Wilhelm Leibniz (1646-1716) eine eigene, auf das System der prästabilierten Harmonie und einen sittlich freien, auf Vollkommenheit angelegten Menschen aufgebaute Welterklärung, welche die bestehende Welt als die beste aller möglichen Welten ansieht.
Im 18. Jh. erwächst aus den humanistischen, philosophischen und naturwissenschaftlichen Denkansätzen die Aufklärung, die auf breiter Grundlage Vernunft, geistige Freiheit und weltanschauliche Toleranz zur erreichbar erscheinenden, gemeinsamen Wohlfahrt aller vermitteln will. In Deutschland ist neben Christian Thomasius (1655-1728) ihr bekanntester Vertreter der Mathematiker, Philosoph und Jurist Christian Wolff (1679-1754), der vor allem die Leibnizschen Lehren fortführt. Im übrigen dienen die Universitäten (Reformuniversitäten Halle [1694], Göttingen [1737]) der Verbreitung der aufklärerischen Ideale, denen bald auch eine nationale Komponente (Nationalkultur) beigefügt wird. Erfasst wird eine schmale, aber einflussreiche Schicht gebildeter Staatsbürger (Theologen, Juristen, Mediziner, Lehrer, Professoren und Kaufleute), zu denen nur ein Teil der Stadtbürger und nur vereinzelte Adelige und Bauern gehören. Der Fürst bzw. Staat kommt ihren Vorstellungen durch Zurückdrängung und Einebnung der Religionsgemeinschaften unter dem Gedanken der Toleranz (1781 Toleranzpatent in Österreich) entgegen und nutzt dabei die neugewonnene Gestaltungsfreiheit im Namen der Vernunft zu Lasten älterer Einschränkungen aus.
Am Ende des 18. Jh. wird die Aufklärung allerdings bereits überwunden. Jean Jacques Rousseau fordert die Rückkehr des Menschen von der durch Reflexion geschaffenen Entfremdung zur Natur. Immanuel Kant (1724-1804) weist nach, dass wegen der vorgegebenen Denkkategorien die Welt vom Menschen überhaupt nur so erkannt werden kann, wie sie ihm erscheint, nicht dagegen wie sie tatsächlich ist.
Für die breite Masse der Bevölkerung wird es bedeutsam, dass seit der Mitte des 16. Jh. an den zunehmenden Zulauf findenden Schulen eine Qualifikation der Lehrer verlangt wird.Im 17. Jh. wird der staatliche Schulzwang verordnet (in Österreich 1774 6jährige Schulpflicht). Am Ende des 18. Jh. wird für den Gymnasialabschluss eine staatliche Prüfung (Abitur) vorgeschrieben.
Lit.: Battenberg, J., Die Juden in Deutschland, 2001; Mors, A., Die Entwicklung der Schulpflicht in Deutschland, 1986 Diss.; Pick, E., Aufklärung und Erneuerung des juristischen Studiums, 1983; Das Profil des Juristen in der europäischen Tradition, hg. v. Liebs, D./Luig, K., 1980
B) Recht
I. Allgemeines
1. Die Vielzahl der verschiedenen partikularen Rechte bleibt als solche im Grundsatz erhalten. Daneben kommt es aber in weitem Umfang zu einer Aufnahme des römischen (und kanonischen) Rechts (Rezeption), wobei jetzt von den gemeinen Rechten oder vom gemeinen Recht (lat. ius commune) gesprochen wird und auch inhaltlich manche anpassende Veränderung an die zeitgenössischen Vorstellungen und Bedürfnisse eintritt.Deswegen wird die entsprechende Zeit nach dem Titel eines das römische Recht unter Berücksichtigung zeitgenössischer deutscher Abweichungen darstellenden Werkes Samuel Stryks (1640-1710) (1690ff. Specimen usus moderni pandectarum, Beispiel des modernen Gebrauchs der Pandekten, erstmals 1667 verwendet) vielfach als (lat.) usus modernus pandectarum (moderner Gebrauch der Pandekten) bezeichnet wird.
Die Gründe für die in vielen europäischen Ländern vollzogene Aufnahme der gelehrten Rechte sind nicht eindeutig klar. Daran jedenfalls, dass das einheimische Recht neu entstehende Rechtsfragen nicht hätte beantworten können, kann es, wie die Aussparung mancher Gebiete (Hansestädte, England) beweist, nicht gelegen haben. Am ehesten wird man annehmen dürfen, dass die geschlossene große Masse der vernunftmäßig einleuchtenden, schriftlich festgelegten und in jahrhundertelanger Feinarbeit wissenschaftlich durchdrungenen Konfliktlösungen gegenüber der unübersichtlichen und verwirrenden Vielfalt der aus den verschiedensten Quellen stammenden einheimischen Regeln der ungelehrten Laienurteiler als überlegen erschien.
Eine Beschleunigung der Aufnahme bewirkt dabei § 3 der Reichskammergerichtsordnung von 1495, der bestimmt, dass Richter und Beisitzer nach des Reiches gemeinen Rechten (einschließlich der verhältnismäßig wenigen Reichsgesetze) richten sollen.
Zwar sollen die besonderen »redlichen, erbarn und leidlichen Ordnungen, Statuten und Gewohnheiten der Fürstenthumb, Herrschaft und Gericht, die für sy pracht werden«, dem gemeinen Recht vorgehen, doch werden die Anforderungen an ihren Beweis (für sy bringen) und an ihre Vernünftigkeit (redlich, erbar, leidlich) allmählich so verschärft, dass diese Klausel letztlich die gegenteilige Wirkung zeigt, zumal nach einem aus Oberitalien übernommenen, zeitweise fast durchweg anerkannten Satz die besonderen Rechte eng zu interpretieren sind (lat. statuta sunt stricte interpretanda, Statutentheorie). Im 17. Jh. hat das römische Recht vielfach die Vermutung für sich (lat. qui habet regulam iuris communis pro se, habet intentionem fundatam, wer eine Regel des gemeinen Rechts für sich hat, hat eine begründete Vermutung für sich, Wesenbeck [1531-86]). Zumindest am Reichskammergericht greift man deshalb in der Regel als erstes nach dem römischen corpus iuris civilis (Gesamtheit der römischen Rechtstexte). Allerdings gewinnt mit der allmählichen Lösung der eher an ihren Besonderheiten interessierten einzelnen Länder vom Reich seit der Mitte des 17. Jh. (Westfälischer Friede) das einheimische, partikulare Recht wieder an selbständigem Gewicht.
Lit.: Bender, P., Die Rezeption des römischen Rechts im Urteil der Rechtswissenschaft, 1979; Coing, H., Die Rezeption des römischen Rechts in Frankfurt am Main, 2. A. 1962; Gagnér, S., Studien zur Ideengeschichte der Gesetzgebung, 1960; Handbuch der Quellen und Literatur der neueren europäischen Privatrechtsgeschichte, Bd. 1 1973, 517; Ogris, W., Recht und Macht bei Maria Theresia, 1980; Schlinker, S., Fürstenamt und Rezeption, 1999; Schröder, J., Recht als Wissenschaft, 2001; Schröder, J., Wissenschaftstheorie und Lehre der praktischen Jurisprudenz auf deutschen Universitäten an der Wende zum 19. Jahrhundert, 1979; Schulze, R., Policey und Gesetzgebungslehre im 18. Jahrhundert, 1982; Schulze, R., Die Polizeigesetzgebung zur Wirtschafts- und Arbeitsordnung der Mark Brandenburg in der frühen Neuzeit, 1978; Wiegand, W., Studien zur Rechtsanwendungslehre der Rezeptionszeit, 1977; Willoweit, D., Gesetzgebung und Recht im Übergang vom Spätmittelalter zum frühneuzeitlichen Obrigkeitsstaat, in: Zum römischen und neuzeitlichen Gesetzesbegriff, hg. v. Behrends, O./Link, C., 1987, 123; Zycha, A., Deutsche Rechtsgeschichte der Neuzeit, 2. A. 1949; Zum römischen und neuzeitlichen Gesetzesbegriff, hg. v. Behrends, O./Link, C., 1987
2. Die einzelnen Rechtsquellen sind sehr vielfältig.
a) Im Vordergrund steht als Quelle neuen Rechts das Gesetz als der bewusste Rechtsetzungsakt.
aa) Die Gesetzgebung des Reiches ist wegen der komplizierten und partikularistischen (materiellen) Verfassung im Wesentlichen unergiebig. Überwiegend werden nur unbedeutendere Einzelangelegenheiten (z. B. Zins) in Polizeiordnungen (z. B. Reichspolizeiordnungen 1530, 1548, 1577) behandelt und auch diese nur mit bescheidenem Erfolg. Ausgenommen hiervon ist lediglich (außer dem Westfälischen Frieden von 1648 und dem Reichsdeputationshauptschluss von 1803) die Reichskammergerichtsordnung in ihren verschiedenen Fassungen (ab 1495) sowie die für das deutsche Strafrecht der Neuzeit wegen ihrer Indizienlehre grundlegende Peinliche Gerichtsordnung Kaiser Karls V. von 1532 (Constitutio Criminalis Carolina, CCC, kürzer Carolina, [Die Carolina und ihre Vorgängerinnen, hg. v. Kohler, J./Scheel, W., Bd. 1ff. 1900ff., Neudruck 1968]).
Sie geht auf Beschwerden über die sich häufenden ungerechten Strafverfahren, die ihrerseits die Antwort auf die im Mittelalter vor allem infolge des Bevölkerungswachstums und der Urbanisierung und Emanzipierung von der herkömmlichen Ordnung anschwellende Kriminalität und die vermehrten Ordungsschaffungsmöglichkeiten der Landesherrn sind, vor dem Reichstag von Lindau (1496/1497) zurück. Dieser setzt zum Zweck der Besserung des Kriminalprozesses eine Kommission ein. Während sie tagt, verfasst der (nicht rechtsgelehrte) Vorsitzende des Hofgerichts des Bischofs von Bamberg Johann Freiherr von Schwarzenberg auf Grund seiner Kenntnis der praktischen Probleme und unter Einarbeitung des aus Oberitalien kommenden römisch-kanonischen Kriminal(prozess)rechts (allein?) die Bamberger Halsgerichtsordnung von 1507 (Constitutio Criminalis Bambergensis, CCB, kürzer Bambergensis, bambergische [Halsgerichtsordnung]). Ihr Inhalt wird dann im Wesentlichen in die 219 Artikel umfassende Carolina übernommen, die zwar nur subsidiär gegenüber den alten, wohlhergebrachten, rechtmäßigen und billigen Gebräuchen gelten will (sog. an die Landesherren und ihre Gerichte gewandte salvatorische Klausel), praktisch aber allgemein (subsidiär auch in der Schweiz, str. für Österreich) zur Anwendung kommt und als eine Prozessordnung, die auch materielles Strafrecht enthält, das gesamte Straf(verfahrens)recht der folgenden Jahrhunderte beherrscht. Bedeutsam ist insbesondere ihre Lehre von den für die Anwendung der Folter gegenüber einem Tatverdächtigen erforderlichen Indizien (Anzeichen, z. B. blutige Kleider, Besitz eines Tatwerkzeugs).
bb) In den Ländern und Städten finden sich demgegenüber zahlreiche gesetzliche oder zumindest gesetzesähnliche Rechtsquellen, die sich in die drei Gruppen der Reformationen, der Polizeiordnungen und der vernunftrechtlichen Kodifikationen gliedern lassen.
aaa) Die Reformationen, die teils amtlich, teils aber wie die mittelalterlichen Rechtsbücher noch privat in Angriff genommen werden, wollen das althergebrachte Landrecht oder Stadtrecht dadurch verbessern (reformieren ® Reformation), dass sie ihr Recht (angeblich in eine alte gute Form zurückbringen, tatsächlich aber) neu ordnen und dabei in verschieden starkem Maß römische Rechtsregeln aufnehmen.
Den Beginn machen von Süden ausgehend die Städte (1479 Nürnberg, 1497 Tübingen, 1499 Worms, 1509 Frankfurt, 1520 Freiburg [Zasius], 1574 Lüneburg, 1586 Lübeck, 1603 Hamburg, weiter etwa Zürich, Freiburg im Üchtland, Luzern, Solothurn). Mit geringem zeitlichem Abstand folgen die Länder (1518 Bayern, 1527 Brandenburg [Constitutio Joachimica, joachimisches Gesetz], 1533 innerösterreichische Länder, 1555 Württemberg [Sichard], 1571 Solms [Fichard], 1572 Kursachsen, kursächsische Konstitutionen). Ist dabei in einigen Gebieten die Umgestaltung sehr tiefgreifend (Württemberg), so werden andere Gebiete von diesen reformierenden Vorstellungen kaum berührt (Schleswig-Holstein).
bbb) Die außerordentlich zahlreichen, systematisch noch wenig erfassten Polizeiordnungen der Länder und Städte (z. B. in Frankfurt am Main mehr als 5000) (vor allem seit dem 15. Jh.) (Landesordnungen) sind obrigkeitliche Anordnungen, durch die in eine Vielzahl von aktuellen Angelegenheiten unmittelbar durch Gebote oder Verbote eingegriffen wird.
Durch sie sorgt die Obrigkeit für gute Ordnung und Polizei, sei es mit dem Ziel der Bewahrung der überkommenen Verhältnisse, sei es planerisch gestaltend. Ihre Verwirklichung steht den Verwaltungsbehörden zu. Einer ihrer wichtigsten Gegenstände sind die im Mittelalter in den Städten aufkommenden und nun auch in den Ländern verbreiteten Luxusverbote (»Kleiderordnungen«). Hinzu kommt in den Kirchenordnungen das Kirchenregiment.
Im Südosten erlässt beispielsweise König Maximilian 1499 eine Malefizordnung oder Halsgerichtsordnung für die Grafschaft Tirol, der weitere Ordnungen für (Volkach 1504,) Radolfzell (1506), Laibach (1514), Krain (1535), Niederösterreich (1514, 1540), Kärnten, Steiermark und Oberösterreich (1559) folgen. Umfassende Landesordnungen ergehen für Tirol (1526, 1532, 1573). Für das Land unter der Enns schafft Dr. Wolfgang Püdler 1573 einen Entwurf einer Landesordnung, für das Land ob der Enns 1609 Dr. Abraham Schwarz.
Lit.: Blaich, F., Die Reichsmonopolgesetzgebung im Zeitalter Karls V., 1976; Quellen zur Neueren Privatrechtsgeschichte Deutschlands, Bd. 2, hg. v. Kunkel, W./Schmelzeisen, G. K./Thieme, H., 1968; Lieberich, H., Die Anfänge der Polizeigesetzgebung des Herzogtums Baiern, FS Spindler, M., 1969, 307; Weber, M., Die Reichspolizeiordnungen, 2002
ccc) Die vernunftrechtlichen Kodifikationen (Ausdruck zuerst [1815] von J. Bentham [1748-1832] verwendet) schließlich sind die Versuche, unter Verwendung des Rechtssetzungsmonopols als Mittel der Gesellschaftsplanung die gesamte Rechtsordnung durch das auch den Fürsten bindende Gesetz als den Ausdruck richtiger gemeinwohlgebundener Politik nach den Ideen der Aufklärung umfassend neu zu gestalten.
Sie gehen außer auf ältere einzelne Pläne (Leibniz [1672 Corpus iuris reconcinnatum, ausgebessertes Rechtskorpus], Conring, für Österreich schon der Bibliothekar Hugo Blotius am Ende des 16. Jh.) vor allem auf neue Anforderungen an die Gesetzgebung zurück, die im wesentlichen von Charles (des Secondat, Baron de la Brède et de) Montesquieu (1689-1755, De l’esprit des lois, Vom Geist der Gesetze, 1748) formuliert werden. Danach soll das Gesetz der Gerechtigkeit entsprechen, vom ganzen jeweiligen Volk verstanden werden (Verständlichkeit), für alle einheitlich sein (Gleichheit) und den gesamten Stoff umfassen (Rechtssicherheit). Damit ist die allumfassende, gesamtstaatliche, nationalsprachliche und gerechte Rechtsfestlegung (zumindest eines großen Teilbereichs) im Interesse sowohl des Fürsten wie auch des Untertanen gefordert. Den ersten, noch unvollkommenen, nur äußerlich bereits dem Vernunftrecht verpflichteten Versuch hierzu unternimmt Wiguläus Xaverius Aloysius Freiherr von Kreittmayr (1705-1790) in Bayern unter Kurfürst Maximilian Joseph III. (1745-77) (Codex iuris Bavarici criminalis 1751 [Vereinheitlichung des herkömmlichen Strafrechts], Codex iuris Bavarici iudiciarii 1753 [Zivilprozessgesetzbuch], Codex Maximilianeus Bavaricus civilis 1756 [subsidiäres Zivilgesetzbuch gegliedert in Personenrecht, Sachenrecht, Obligationenrecht, in deutscher Sprache mit vielen lateinischen Einsprengseln]). Größere Bedeutung erlangen die Gesetzbücher für Preußen, Frankreich und Österreich, welche übereinstimmend an der Vereinheitlichung des in ihren verschiedenen Landesteilen geltenden unterschiedlichen Rechtes interessiert waren.
Lit.: Der Kodifikationsgedanke und das Modell des Bürgerlichen Gesetzbuches, hg. v. Behrends, O. u. a., 2000; W. X. A. Frhr. v. Kreittmayr (1705-1790), hg. v. Bauer, R./Schlosser, H., 1991; W. X. A. Frhr. v. Kreittmayr, Compendium Codicis Bavarici, 1768, Neudruck 1990; Coing, H., Die Frankfurter Reformation von 1578 und das gemeine Recht ihrer Zeit, 1935; Knoche, H., Ulrich Zasius und das Freiburger Stadtrecht von 1520, 1957; Mertens, B., Gesetzgebungskunst im Zeitalter der Kodifikationen, 2004; Schmidt, K., Die Zukunft der Kodifikationsidee, 1985; Schöler, C., Deutsche Rechtseinheit, 2004; Vanderlinden, J., Le concept de code en Europe occidentale du XIIIe au XIXe siècle, 1967
aaaa) In Preußen wird zum 1. 6. 1794 das Allgemeine Landrecht (ALR) für die preußischen Staaten in Kraft gesetzt.
Ihm gehen ältere Gesetzgebungsversuche voraus (1714 Ersuchen Friedrich Wilhelms I. an die juristische Fakultät in Halle, [1746 Kabinettsordre zu einem] 1749 bzw. 1751 teilweise vorgelegten Projekt eines Corpus iuris Fridericiani Friedrichs des Großen [bearbeitet von Samuel von Cocceji † 1755, nur zu einem kleinen Teil in einzelnen Gebieten in Kraft gesetzt], die aber an den ungenügenden geistigen Voraussetzungen der Zeit scheitern). Dann wird (neben einem Corpus iuris Fridericianum von 1781 für den Zivilprozess und einer 1783 erfolgten Neufassung der Hypothekenordnungen von 1722 und 1750) durch Johann Heinrich Casimir von Carmer und Carl Gottlieb Svarez auf eine Kabinettsorder Friedrichs des Großen vom 14. 8. 1780 (als Folge des vom König in Kabinettsjustiz ungerecht entschiedenen sog. Müller-Arnold-Prozesses) hin eine Vorlage für ein allgemeines subsidiarisches Gesetzbuch für das gesamte private und öffentliche Recht erarbeitet, die der König 1786 mit der Bemerkung bedenkt: »Es ist aber sehr dicke und Gesetze müssen kurz und nicht weitläufig sein.« Ihre Grundlage bilden (trotz aller Vorbehalte) das römische Recht nach natürlicher (naturrechtlicher) Ordnung sowie die Sonderrechte der einzelnen Provinzen (Provinzialrechte). Nach der Veröffentlichung des Entwurfs (1784-1788) werden zahlreiche Verbesserungsvorschläge vorgebracht. Nach ihrer teilweisen Einarbeitung und nach kurzer Verzögerung des 1791 vorgelegten »Allgemeinen Gesetzbuches für die Preußischen Staaten« durch die Befürchtung, die französische Revolution werde bei der Landbevölkerung revolutionäre Hoffnungen entstehen lassen, wird das Gesetzbuch nach dem Erwerb weiterer umfangreicher (polnischer) Gebiete (1793 Südpreußen, Neuostpreußen) zunächst dort und 1794 in allen (verschiedenen, durch Personalunion verbundenen) preußischen Staaten unter dem an ältere Zeiten erinnernden Titel Allgemeines Landrecht für die preußischen Staaten in Kraft gesetzt. Sein Geltungsbereich beschränkt sich auf die östlichen Provinzen Preußens (ohne Neuvorpommern und Rügen), auf Westfalen, auf Teile der Rheinprovinz (Essen, Duisburg, Rees), auf die bereits vor 1815 preußischen Teile der Provinz Hannover (Ostfriesland) sowie auf Ansbach-Bayreuth. Rechtsfortbildung bzw. Auslegung sind zumindest zunächst verboten und einer Gesetzeskommission vorbehalten.
Das Allgemeine Landrecht umfasst in zwei Teilen mit 23 und 20 Titeln und ingesamt 19194 Paragraphen (fast) das gesamte (private und öffentliche) Recht, das es sehr fürsorglich und kasuistisch abhandelt. Sein Aufbau ist vernünftig (vernunftrechtlich) und schreitet vom Einzelnen (Erster Teil betreffend Personen, Sachen, Handlungen, Willenserklärungen, Verträge, unerlaubte Handlungen, Besitz, Eigentum, Testament, Erbvertrag) über Familie, Gemeinde, Stand und Kirche bis zum Staat (und dem Strafrecht) fort. Anknüpfungspunkt ist nicht der Mensch als ohne weiteres rechtsfähiges Wesen, sondern der Mensch, soweit ihm Rechte zustehen bzw. Pflichten obliegen. Ob dies der Fall ist und welche Rechte diese sind, bestimmen Geburt, persönliche Verhältnisse und Stand. Inhaltlich stellt es in seiner Ausrichtung auf das gemeine Wohl einen Kompromiss zwischen aufgeklärter Freiheit und altständischer, durch (die französische Revolution in Frankreich 1789 und daraus folgend in Preußen) die Stein/Hardenbergschen Reformen (von 1807/1810) bald überholter Gesellschaft dar, der die fortschrittlichen politischen Ideen des Bürgertums nur ziemlich eingeschränkt verwirklicht, aber doch unter Wahrung der Stellung des Monarchen ein neues Maß von Rechtssicherheit herbeiführt.
Obwohl das Allgemeine Landrecht von der juristischen Wissenschaft allgemein abgelehnt wird, gilt es im Wesentlichen unverändert bis zum Inkrafttreten des deutschen Bürgerlichen Gesetzbuches im Jahre 1900 (strafrechtliche Teile bis 1851, handelsrechtliche Teile bis 1861). Seine angestrebte Subsidiarität gegenüber Provinzialrechten wirkt sich tatsächlich kaum aus.
Weitere wichtige preußische Gesetze sind die Allgemeine Gerichtsordnung für die preußischen Staaten (1781/93), eine Hypothekenordnung (1783) und eine Kriminalordnung (1805).
Lit.: Allgemeines Landrecht für die Preußischen Staaten von 1794, hg. v. Hattenhauer, H., 1970; Conrad H., Die geistigen Grundlagen des Allgemeinen Landrechts von 1794, 1958; Conrad, H., Das ALR von 1794 als Grundgesetz des friderizianischen Staates, 1965; Conrad, H., Rechtsstaatliche Bestrebungen im Absolutismus Preußens und Österreichs am Ende des 18. Jahrhunderts, 1961; Das nachfriderizianische Preußen 1786-1806, hg. v. Hattenhauer, H./Landwehr, G., 1988; Dießelhorst, M., Die Prozesse des Müllers Arnold, 1984; Diestelkamp, B., Reichskammergericht und Rechtsstaatsgedanke, 1994; Entwurf eines allgemeinen Gesetzbuches für die preußischen Staaten, hg. v. Krause, P., Bd. 1ff. 1996ff.; Friedrich Carl von Savigny, Landrechtsvorlesung 1824, hg. v. Wollschläger, C., 1994; Heuer, U., Allgemeines Landrecht und Klassenkampf, 1960; Panorama der Fridericianischen Zeit, hg. v. Ziechmann, J., 1985; Preußens großer König. Leben und Werk Friedrichs des Großen, hg. v. Treue, W., 1986; Schmidt, E., Beiträge zur Geschichte des preußischen Rechtsstaates, 1980; Schwennicke, A., Die Entstehung der Einleitung des Preußischen Allgemeinen Landrechts von 1794, 1993
bbbb) In Frankreich werden unter Napoleon der Code civil (Bürgerliches Gesetzbuch, persönliche Teilnahme Napoleons an Kommissionssitzungen) von 1804 (1807 in Code Napoléon unbenannt) (mit drei Büchern [Personen Art. 7-515 mit Personenrecht, Eherecht, Kindschaftsrecht, Vormundschaftsrecht, Güter und Eigentum Art. 516-710, Eigentumserwerb Art. 711-2281 mit Erbrecht und Schuldrecht]) und in rascher Folge vier weitere Gesetzbücher (Codes) erlassen.
Es sind dies der Code de commerce (Handelsgesetzbuch 1807), der Code de procédure civile (Zivilprozessgesetzbuch) von 1806, der Code d’instruction criminelle (Strafprozessgesetzbuch) von 1808 und der Code pénal (Strafgesetzbuch) von 1810. Sie verwirklichen in dem zuvor seit der ausgehenden Antike in ein nördlich der Linie Girondemündung-Genf liegendes Gebiet des droit coutumier (Gewohnheitsrecht) und ein südliches Gebiet des römischen droit écrit (Schriftrecht) geteilten, durch Wissenschaft und Gesetzgebung (ordonnances) aber schon seit dem hohen Mittelalter auf Rechtsvereinheitlichung vorbereiteten Land im Rahmen eines merkantilistisch geprägten Etatismus antifeudalistische, egalitäre und zentralistische Prinzipien der Revolution, bewahren aber auch in gewissem Umfang fränkisches bzw. germanistisches Rechtsgut auf. Sie gelten in Frankreich teilweise heute noch und haben auch in Teilen Deutschlands (Baden, Berg, Rheinpreußen, Rheinbayern, Rheinhessen, Westfalen) teilweise längere, über die Zeit der französischen Herrschaft in den betreffenden Gebieten hinausreichende Geltung gehabt. Sie wirken sich wegen der französischen bzw. bayerischen Herrschaft zwischen 1805/1809 und 1813 sogar auf Kärnten und Tirol und im Übrigen auf zahlreiche europäische Staaten (z. B. Italien, Spanien, Rumänien) und außereuropäische Staaten (z. B. Südamerika, Louisiana) aus.
Lit.: Arnaud, A., Les origines doctrinales du Code civil français, 1969; Bürge, A., Das französische Privatrecht im 19. Jahrhundert, 1991; Carey, J., Judicial reform in France before the revolution of 1789, 1981; Pheewen, E., Napoleons Anteil am Code civil, 1991; Schubert, W., Französisches Recht in Deutschland zu Beginn des 19. Jahrhunderts, 1977; Wilhelm, W., Gesetzgebung und Kodifikation in Frankreich im 17. und 18. Jahrhundert, Ius Commune 1 (1967), 241ff.
cccc) In Österreich wird das Allgemeine Bürgerliche Gesetzbuch (1811) zum 1. 1. 1812 in allen deutschen Erbländern in Kraft gesetzt.
Ihm gehen längere Vorarbeiten (Leibniz’ Plan eines Codex Leopoldinus [Leopoldinischen Gesetzbuchs 1671], 1753 Einsetzung zweier Kompilationshofkommissionen durch Maria Theresia für das Strafrecht, das Strafverfahrensrecht und das Zivilrecht in Böhmen und den Alpenländern auf Grund des Einflusses eines Kreises naturrechtlich vorgebildeter Berater, 1756 Zusammenlegung der Kommissionen, 1766 Codex Theresianus [Theresianisches Gesetzbuch, Entwurf in 8 Bänden auf der Grundlage des Landesrechts, des gemeinen Rechts und des Naturrechts, als zu lehrbuchhaft abgelehnt], Überarbeitung angeordnet, Entwurf Horten, (1786 zum) 1. 1. 1787 Josephinisches Gesetzbuch umfassend nur das von Johann Peter Horten erarbeitete Personenrecht, 1790 Hofkommission unter Karl Anton von Martini, 1795 Entwurf Martini, 1796 sog. Urentwurf, 13. 2. 1797 Westgalizisches Gesetzbuch für das 1795 bei der Teilung Polens neugewonnene Westgalizien [1798 auch für Ostgalizien und die Bukowina]) und einige andere Gesetze voraus (1768 Constitutio criminalis Theresiana [Theresianisches Strafgesetzbuch mit Inquisitionsverbot, freier richterlicher Beweiswürdigung, festen Tatbestandsbeschreibungen, Folter, 1787 ersetzt durch ein Verbrechen, Vergehen und Übertretungen unterscheidendes Allgemeines Gesetzbuch über Verbrechen und derselben Bestrafung], 1781 Allgemeine Gerichtsordnung [einheitliche Einführung des römisch-kanonischen Zivilprozesses], Gesetz über die Einführung von Landtafeln, 1781 Toleranzpatent, 1783 Ehepatent, 1786 Erbfolgeordnung für die österreichischen Länder, 1788 Kriminalgerichtsordnung). Die wesentlichen Arbeiten erfolgen unter verstärkter Berücksichtigung des Vernunftrechts unter Karl Anton von Martini (1726-1800) und Franz von Zeiller (1751-1828). Das Ergebnis ist ein reines bürgerliches Gesetzbuch, das sich in rund 1500 Paragraphen gliedert. Es behandelt im ersten Teil das Personenrecht (§§ 15-283) einschließlich des Eherechts und Kindschaftsrechts, im zweiten Teil das Vermögensrecht ([»Sachenrecht« einschließlich des Schuldrechts] §§ 285-1341 Besitz, Eigentum, Pfandrecht, Servituten, Erbrecht sowie Verträge, §§ 1217ff., Ehegüterrechtsverträge [Ehepacten], Schadensersatz) und im dritten Teil (§§ 1342-1502) gemeinschaftliche Bestimmungen (Begründung der Rechte und Verbindlichkeiten, Umänderung der Rechte und Verbindlichkeiten, Aufhebung der Rechte und Verbindlichkeiten, Verjährung und Ersitzung). Es baut auf den Grundsätzen des individualistischen Naturrechts auf, nach dem jeder Mensch Rechtsperson ist (§ 16). Sein System wird von der Kantschen Freiheitsethik beherrscht. Sein Grundzug ist die Gleichheit und Freiheit aller (§ 1146), wenn es auch die Gutsuntertänigkeit beibehält und deswegen nur zur Anwendung gelangt, wo dies die politischen Gesetze zulassen . Es ist trotz vielfacher späterer Änderungen (drei Novellen der Jahre 1914, 1915 und 1916 betreffen knapp ein Fünftel des Textes) bis jetzt in Geltung.
Lit.: Harras von Harrasowsky, P., Geschichte der Codification des österreichischen Civilrechtes, 1868; Hoke, R., Österreichische und deutsche Rechtsgeschichte, 1992; Kocher, G., Höchstgerichtsbarkeit und Privatrechtskodifikation, 1979; Ogris, W., Der Entwicklungsgang der österreichischen Privatrechtswissenschaft im 19. Jahrhundert, 1968; Forschungsband Franz von Zeiller, hg. v. Selb, W./Hofmeister, H., 1980; Slapnicka, H., Österreichisches Recht außerhalb Österreichs, 1973; Strakosch, H., Privatrechtskodifikation und Staatsbildung in Österreich (1753-1811), 1976
b) Das Gewohnheitsrecht wird, wie die Reichskammergerichtsordnung (1495) und die Peinliche Gerichtsordnung Kaiser Karls V. (1532) zeigen, grundsätzlich anerkannt. Die vernunftrechtlichen Kodifikationen (ALR, Cc, ABGB) bekämpfen es allerdings und schaffen es teilweise gänzlich ab.
Das gemeine Recht gilt, soweit es nicht in Gesetze eingearbeitet ist, in seiner im Mittelalter erworbenen und in modernen Gebrauch überführten Gestalt als Gewohnheitsrecht (usu receptum, durch Gebrauch aufgenommen).
Die zunächst hierbei entstandene, seit dem 16. Jh. (Melanchthon) belegte sog. Lotharische Legende, dass Kaiser Lothar III. das römische Recht 1135 nach der Eroberung Amalfis durch ein Gesetz in Deutschland eingeführt habe, wird 1643 durch Hermann Conring (1606-1681) in seiner Schrift (lat.) De origine iuris Germanici (Vom Ursprung des deutschen Rechts) mit der Folge widerlegt, dass das einheimische Statutarrecht und Gewohnheitsrecht wieder größeren Raum gewinnen. Nach Gregor Haloanders erster humanistisch-kritischer Digestenausgabe (1529-1531) schafft für dieses gewohnheitsrechtlich aufgenommene römische Recht der französische Jurist Dionysius Gothofredus 1583 die erste Gesamtausgabe der justinianischen Gesetzeswerke, die seitdem als corpus iuris civilis bezeichnet werden.
In Sachsen bildet sich auf der Basis des Sachsenspiegels und der Spruchtätigkeit der Gerichte ein gemeines Sachsenrecht als Gegengewicht zum sonstigen gemeinen Recht. Hier spielen die privaten Rechtsaufzeichnungen (trotz weiterer Zunahme der Schriftlichkeit) in Randgebieten noch eine gewisse Rolle (Rügisches Landrecht 1525-1531, Landrecht der Siebenbürger Sachsen 1583, Entwurf eines mecklenburgischen Landrechts um 1650).
c) Erhebliche Bedeutung erlangt demgegenüber die sich stark ausweitende juristische Literatur, die mit dem Aufschwung der Rechtswissenschaft überhaupt sehr zunimmt (darunter etwa 100000 Dissertationentitel des 17. und 18. Jh. d. h. etwa 500 jährlich).
Die Rechtswissenschaft wird in Deutschland seit dem 15. Jh. an zahlreichen Universitäten (um 1500 12 [Prag,] Wien, Heidelberg, Erfurt, Köln, Würzburg, Leipzig, Freiburg im Breisgau, Rostock, [Basel,] Ingolstadt, Mainz, Tübingen, Trier) von zunächst meist italienischen, später einheimischen Lehrern gelehrt. In der Regel gehören einer juristischen Fakultät anfangs jeweils etwa drei bis sechs, vielfach zugleich auch in der Praxis tätige Professoren und bis zu 100 der insgesamt vielleicht 1000 nebeneinander lernenden juristischen Studenten an. Der zunächst unsystematische und nicht auf Grundsätze ausgerichtete Unterricht folgt der Legalordnung (Abfolge der gesetzlichen Bestimmungen) der romanistischen und kanonistischen Quellen, wobei die Kurse oft vier bis fünf Jahre dauern und der Ankömmling zum jeweiligen Stand eintritt und wieder ausscheidet. Im 16. Jh. beginnt die stärkere systematische Gliederung und die Aufteilung in Sachfächer (z. B. um 1600 Staatsrecht, öffentliches Recht, lat. ius publicum). Danach wird das Privatkolleg mit Hörgeld und Semestereinteilung eingeführt.
Die juristische Literatur beschäftigt sich vorwiegend mit dem gelehrten Recht.
International führend werden dabei unter Ablösung des italienischen Vorbilds zunächst die französischen Juristen (vor allem in Bourges), welche die römischen Quellen stärker humanistisch (in Rückkehr zu den Quellen sprachwissenschaftlich-geschichtlich) betrachten und die einzelnen Stellen textkritisch untersuchen (bessere Interpretation besserer Texte). Ihre Arbeitsweise wird als elegante Jurisprudenz oder als mos gallicus (gallische Art) im Gegensatz zum älteren mos italicus (italienische Art) bezeichnet. Ihre bekanntesten Vertreter sind Andreas Alciatus (Alciat 1492-1550), Budaeus (Budé 1467-1540), Cuiacius (Cujas 1522-1590), Donellus (Doneau 1527-1591), Dionysius Gothofredus (Denis Godefroy 1549-1622) und Jacobus Gothofredus (Jacques Godefroy 1587-1652) sowie nach der Vertreibung der führenden französischen Calvinisten (Hugenotten) aus Frankreich in den Hugenottenkriegen (1562-1598) spätere niederländische Juristen.
In Deutschland begegnet man zunächst einer sog. populären Literatur des gemeinen Rechts.
Ihr Ziel ist die Vermittlung vereinfachter gelehrter Kenntnisse an die Praxis. Dies geschieht außer in Differentienbüchlein, welche die Unterschiede (Differenzen) des gemeinen Rechts zum heimischen Recht aufweisen und bis zum 18. Jh. fortleben (z. B. für den Südosten Bernhard Walther [1516-1584], Johann Baptist Suttinger [Consuetudines Austriacae, österreichische Gewohnheiten 1662], Nicolaus Beckmann 1634-1689, Johann Weingärtler 1674, Johann Heinrich Reutter 1674, Benedikt Finsterwalder [Practicarum observationum …, praktischer Beobachtungen …] 1719-1732), und Formelbüchern, die Muster für praktische Geschäfte liefern, vor allem in Arbeiten über das Verfahren (1509 , Ulrich Tengler, Laienspiegel, 1516 Sebastian Brant [1458-1521], Klagspiegel, Umarbeitung einer älteren anonymen Schrift von etwa 1425).
Im 16. Jh. beginnt dann auch in Deutschland eine eigentliche Fachliteratur.
An ihre Spitze sind die Responsa sive consilia (Antworten und Gutachten 1539) des Freiburger Stadtsyndikus und Professors Ulricus Zasius (Huldreich Zäsy, 1461-1535) zu stellen, denen zahllose andere Gutachten folgen. Andere bekannte Juristen der Anfangszeit sind Gregor Haloander, Johann Sichard als Mitarbeiter am Württemberger Landrecht und Johann Fichard als Schöpfer des Solmser Landrechts. Um das rechtswissenschaftliche Studium machten sich besonders Johannes Apel (1485-1536) und Conrad Lagus († 1546) verdient. Johann Mynsinger von Frundeck (1517-1588, Singularium observationum iudicii imperialis camerae centuriae quatuor, Vier Zenturien besonderer Beobachtungen des Reichskammergerichts, 1565) und Andreas Gail (1526-87, Practicarum observationum ... .. libri duo, Zwei Bücher ... .. praktischer Beobachtungen, 1578) veröffentlichen als Beisitzer des Reichskammergerichts dessen Urteile (sog. Kameralistik), während eigentliche Entscheidungssammlungen erst seit dem 18. Jh. entstehen.
Im 17. Jh. ist zunächst der Leipziger Schöffenstuhlbeisitzer und Professor Benedikt Carpzov (1595-1666) zu nennen, der durch zahlreiche Werke (u. a. Practica nova imperialis saxonica, Neue kaiserlich-sächsische Praxis, 1635) der sächsischen Rechtswissenschaft zu europäischem Ansehen verhilft. Das lübische Recht erfassen die Commentarii in ius Lubicense (Kommentare zum Lübecker Recht, 1642/3) des Greifswalder Professors und Stralsunder Stadtsyndikus David Mevius (1609-70). Das erfolgreichste kleine Kompendium schreibt Georg Adam Struv (1619-92, Jurisprudentia Romano-Germanica, Römisch-deutsche Jurisprudenz, 1670), das für die ganze Epoche namengebende Werk Samuel Stryk (1640-1710, Usus modernus pandectarum, moderner Gebrauch der Pandekten 1690ff.).
Als bestes Lehrbuch des 18. Jh. gilt die Introductio in ius digestorum (Einführung in das Digestenrecht, 1704) des Hallenser Professors und Magdeburger Kanzlers Justus Henning Böhmer (1674-1749), der auch mit zahlreichen kirchenrechtlichen Arbeiten hervortritt. Sachlich sehr frei behandelt Augustin Leyser (1683-1752), Professor und Schöffenstuhlbeisitzer in Wittenberg, das römische Recht in seinen Meditationum ad pandectas libri XI (Elf Bücher Überlegungen zu den Pandekten, 1717-48). Von erheblicher Bedeutung ist schließlich außer Christian Thomasius (1655-1728) und Georg Beyer, dessen Specimen iuris Germanici bzw. Delineatio iuris Germanici (Leitfaden des deutschen Rechts, 1718) einen ersten Grundriss des deutschen Rechts darstellt, noch Johann Gottlieb Heineccius (1681-1741), der nicht nur die erste geschlossene Darstellung des deutschen Privatrechts (Elementa iuris Germanici, 1735/6) vorlegt, sondern auch das erste (römischrechtliche) Lehrbuch moderner Form schafft.
Neben all diesen Werken zum gemeinen Recht stehen die Darstellungen des Vernunftrechts (als einer besonderen Ausprägung des allgemeineren Naturrechts).
Sie beginnen trotz spanischer spätscholastischer (Francisco de Vitoria 1493-1546) und deutscher reformierter Vorläufer (Johann Oldendorp 1486-1567, Johannes Althusius 1557-1638) eigentlich erst mit dem Niederländer Hugo Grotius (1583-1645, [De iure praedae, Vom Recht der Beute 1606-1608, und darauf aufbauend] De iure belli ac pacis libri tres, Drei Bücher Kriegsrecht und Friedensrecht, 1624), der die aus der Moraltheologie stammenden Naturrechtslehren in die Rechtswissenschaft überführt. Ihm folgt in Deutschland zunächst Samuel Pufendorf (1632-1694, De iure naturae et gentium libri octo, Acht Bücher Natur- und Völkerrecht, 1672), der im Jahre 1661 (Heidelberg) den ersten Lehrstuhl für Naturrecht (und zwar außerhalb der juristischen Fakultät) erhält. Klassischer Vertreter des deutschen Vernunftrechts ist dann der im wesentlichen mit der Reformuniversität Halle (1694) verbundene Christian Thomasius (1655-1728, Fundamenta iuris naturae et gentium, Grundlagen des Natur- und Völkerrechts, 1705), der das Recht endgültig von Theologie und Moral befreit. Sein Schüler Christian Wolff (1679-1754) schließlich stellt ein geschlossenes System naturrechtlicher Sätze insgesamt auf (Ius naturae methodo scientifica pertractatum, Naturrecht in wissenschaftlicher Methode durchgeführt, 1740-9), mit dem er jedoch, weil er in konstruktiver Überspitzung etwa für einen einzigen Satz bis zu 300 Obersätze voraussetzt, zugleich die Ablösung des (in Frankreich vor 1789 an keiner Universität gelehrten und in England als fremd abgelehnten) Naturrechts überhaupt als in der Rechtswirklichkeit nicht brauchbar einleitet.
Erwähnenswert ist schließlich noch, dass zu Beginn des 18. Jh. die ersten juristischen Zeitschriften entstehen sowie in Österreich (unter der Enns und ob der Enns) mit dem Codex Austriacus (östereichischen Gesetzbuch 1704, 1748, 1752, 1777) die erste noch private und unvollständige Gesetzessammlung (Sammlung von Mandaten, Resolutioinen, Dekreten usw.).
d) Die Masse der nun angefertigten und überlieferten Urkunden, die vielfach zu Akten zusammengefügt und kaum - auch nicht im Auszug (Regest) - gedruckt sind, ist nun unübersehbar (allein etwa 75000 Akten des Reichskammergerichts in etwa 50 verschiedenen Archiven).
Lit.: Biographisches Repertorium der Juristen im Alten Reich, Bd. 1ff. 1987ff.; Burmeister, K., Das Studium der Rechte im Zeitalter des Humanismus im deutschen Rechtsbereich, 1974; Daniel, A., Gemeines Recht, 2003; Das römisch-holländische Recht, hg. v. Feenstra, R./Zimmermann, R., 1992; Deutsch, A., Der Klagspiegel und sein Autor Conrad Heyden, 2004; Dölemeyer, B., Frankfurter Juristen im 17. und 18. Jahrhundert, 1993; Ebel, W., Der Göttinger Professor Johann Stephan Pütter aus Iserlohn, 1975; Elsener, F., Die Schweizer Rechtsschulen vom 16. bis zum 19. Jahrhundert, 1975; Heller, M., Reform der deutschen Rechtssprache im 18. Jahrhundert, 1992; Juristische Dissertationen deutscher Universitäten 17.-18. Jahrhundert, zusammengestellt v. Ranieri, F., Bd. 1f. 1986; Juristische Zeitschriften, hg. v. Stolleis, M., 1999; Kempis, K. v., Andreas Gaill (1526-1587), 1988; Hermann Conring (1606-1681), hg. v. Stolleis, M., 1983; Kisch, G., Consilia. Eine Bibliographie der juristischen Konsiliensammlungen, 1970; Kisch, G., Studien zur humanistischen Jurisprudenz, 1972; Knoche, H., Ulrich Zasius und das Freiburger Stadtrecht v. 1520, 1957; Köbler, G., Gießener juristische Vorlesungen, 1982; Köbler, G., Zur Geschichte der römischen Rechtsgeschichte, in: Geschichtliche Rechtswissenschaft, hg. v. Köbler, G., 1990, 207; Lieberwirth, R., Christian Thomasius, 1955; Luig, K., Die Anfänge der Wissenschaft vom deutschen Privatrecht, Ius commune 1 1967, 195; Mommsen, K., Katalog der Basler juristischen Disputationen 1558-1818, 1978; Repertorium der Policeyordnungen der frühen Neuzeit, Bd. 1ff. hg. v. Härter, K. u. a., 1996ff.; Rowan, S., Ulrich Zasius, 1987; Sailer, R., Untertanenprozesse vor dem Reichskammergericht, 1999; Schlosser, H., Das »wissenschaftliche Prinzip« der germanistischen Privatrechtssysteme, in: Gedächtnisschrift Hermann Conrad 1979, 491; Schröder, J., Justus Möser als Jurist, 1986; Schumann, S., Joachim Mynsinger von Frundeck, 1983; Stelzer, W., Gelehrtes Recht in Österreich, 1982; Troje, H., Graeca leguntur, 1971; Welzel, H., Die Naturrechtslehre Samuel Pufendorfs, 1958; Van den Bergh, G., Die holländische elegante Schule, 2001; Wesener, G., Römisches Recht und Naturrecht, 1978; Wunner, S., Christian Wolff und die Epoche des Naturrechts, 1968
3. Das Recht im allgemeinen wird am stärksten beeinflusst durch die Idee des Naturrechts, die im 17. und 18. Jh. als Vernunftrecht den Platz der Rechtstheorie schlechthin beansprucht.
Sie geht als solche auf die griechische Antike zurück, in der schon ein in der Natur (gr. physis) vorhandenes (gerechtes) Recht und ein von Menschen gesetztes (möglicherweise ungerechtes) Recht unterschieden werden. Die Römer ordnen dann dem Naturrecht die natürliche Vernunft (lat. naturalis ratio) zu, während für das Christentum der Kirchenvater Augustinus an deren Stelle Gott setzt und auf ihn ein ewiges Recht (lat. lex aeterna) zurückführt, das der Mensch als Naturrecht (lat. lex naturalis) erkennen kann.
Nachdem dann schon die spanischen Spätscholastiker (Francisco de Vitoria 1483-1546, Fernando Vazquez [1512-1569] u. a.) zwecks Gewinnung einer verlässlichen Lösung für die am Beginn der Neuzeit entstehenden rechtlichen Fragen aus einem als allgemein geltend behaupteten Naturrecht gewisse allgemeine Völkerrechtssätze ableiten, begründet unter Anklängen auch an Thomas von Aquin der Niederländer Hugo Grotius 1625 in (lat.) De iure belli ac pacis (Vom Kriegsrecht und Friedensrecht) ein – im idealen Staat anzustrebendes, unabänderliches - Allgemeinrecht für alle Rechtsverhältnisse (allgemeine Rechtslehre, natürliches Privatrecht, Völkerrecht), das ausschließlich auf dem naturgegebenen Streben (lat. appetitus) des Einzelnen zur Gesellschaft (lat. societas) beruht, auf Grund dessen der Einzelne vernünftigerweise Verträge erfüllt, verursachte Schäden ausgleicht und das Eigentum anderer achtet. Seine Grundsätze würden auch dann gelten, wenn es keinen Gott gäbe oder dieser sich um die menschlichen Angelegenheiten nicht kümmerte. Damit ist im Grund aus methodischen Überlegungen das vom Christentum auf Gott bezogene Naturrecht verweltlicht (säkularisiert) und zu einer irdischen Sozialethik erhoben sowie die göttliche Offenbarung wieder der Theologie zurückgegeben. Die menschliche Vernunft allein - nicht die geschichtliche Erfahrung - bildet den Maßstab für jedes Recht.
Hugo Grotius folgend berücksichtigt David Mevius (1609-1670) die allgemeinen vernünftigen Sätze in der gerichtlichen Entscheidungstätigkeit. Samuel Pufendorf (De iure naturae et gentium libri octo, Acht Bücher über Naturrecht und Völkerrecht 1672) verwertet die neuen naturwissenschaftlichen Erkenntnisse umfassend und bildet in geometrischer Art (lat. more geometrico) für das (private) Recht ein Vollständigkeit beanspruchendes Gesamtsystem von Vernunftsätzen, die dem vernünftigen Einzelnen einleuchten müssen (Naturrecht als Pflichtenlehre). Christian Wolff (1679-1754, Ius naturae Naturrecht bzw. Ius gentium Völkerrecht 1740-1749) schließlich will überhaupt durch mathematisch-demonstrative, logisch-synthetische Deduktion (Ableitung) mit Hilfe des Syllogismus (logischen Schlusses) als Erkenntnismittel aus wenigen vernunftrechtlichen Obersätzen - aber unter Berücksichtigung bestehender Überlieferung - zu immer konkreteren Einzelregeln und am Ende gar zur Lösung jedes einzelnen Falles kommen. Dabei werden jedoch, ohne dass dies ausdrücklich dargelegt wird, nur bereits vorher schon als vernünftig anerkannte Sätze des geltenden (gemeinen) Rechts genommen, zum System zusammengefügt und als Naturrecht postuliert, innerhalb dessen aus den so gewonnenen Obersätzen die dem Wohlfahrtsstaat des aufgeklärten Absolutismus entsprechenden Einzelsätze offen abgeleitet werden. Außerdem wird außer Acht gelassen, dass es in der Jurisprudenz nicht nur um Ableitung, sondern auch um Wertung geht. Im Übrigen erweisen sich die meisten Beispiele für derartige Ableitungen als logisch nicht völlig einwandfrei.
Das Naturrecht beeinflusst Wissenschaft und Praxis des positiven Rechts vor allem im 18. Jahrhundert, indem es die Möglichkeiten der Auslegung auf Grund von Überlegungen über Klarheit und Sicherheit erweitert, zu systematischer, die anschließende Gesetzgebung vorbereitender Begrifflichkeit führt und etwa den Staat durch den Staatsvertrag weltlich begründet. Unmittelbare Übernahme von behaupteten Naturrechtssätzen in die Rechtspraxis dagegen sind selten. Sachlich ist das naturrecht insofern nicht besonders bedeutsam.
In Frankreich weist im übrigen bereits 1748 Charles Montesquieu unter dem Einfluss der Naturrecht mit wechselndem Inhalt ermöglichenden Gedanken Christian Wolffs in seinem Buch De l’esprit des lois (Vom Geist der Gesetze) darauf hin, dass Religion, Sitten und Geschichte des jeweiligen Volkes, Lage und Klima des besonderen Landes zu beachten seien, so dass auch von daher bereits ein absolutes, überall in gleicher Weise geltendes Naturrecht abzulehnen sei. Später widerlegt Immanuel Kant die Vorstellung eines überpositiven Rechtes ohne geschichtliche Grundlage überhaupt. Danach kehrt sich die Rechtswissenschaft von der Naturrechtsvorstellung wieder ab.
Lit.: Bühler, C., Die Naturrechtslehre und Christian Thomasius 1655-1728, 1989; Buschmann, A., Enzyklopädie und Recht, in: Wege europäischer Rechtsgeschichte, hg. v. Köbler, G., 1987, 29; Caroni, P., Privatrecht. Eine sozialhistorische Einführung, 1988, 58; Carpintero-Benitez, F., Del derecho natural medieval al derecho natural moderno: Fernando Vásquez de Menchaca, 1977; Christian Thomasius 1655-1728, hg. v. Schneiders, W., 1989; Christian Wolff 1679-1754, hg. v. Schneiders, W., 1983; Conring, H., Der Ursprung des deutschen Rechts [1634], 1994; Deckers, D., Gerechtigkeit und Recht, 1991; Dickel, G., Die Heidelberger juristische Fakultät, 1961; Dießelhorst, M., Naturzustand und Sozialvertrag bei Hobbes und Kant, 1988; Dilcher, G., Gesetzgebungswissenschaft und Naturrecht, JZ 24 (1969), 1; Dulckeit, G., Naturrecht und positives Recht bei Kant, 1932, Neudruck 1973; Erler, A., Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich, 1967; Forster, W., Karl Friedrich Krauses frühe Rechtsphilosophie, 2000; Klippel, D., Politische Freiheit und Freiheitsrechte im deutschen Naturrecht des 18. Jahrhunderts, 1976; Krause, D., Naturrechtler des sechzehnten Jahrhunderts, 1982; Link, C., Herrschaftsordnung und bürgerliche Freiheit, 1979; Link, C., Hugo Grotius als Staatsdenker, 1983; Lipp, M., Die Bedeutung des Naturrechts für die Ausbildung der Allgemeinen Lehren des deutschen Privatrechts, 1980; Luig, K., Der Einfluss des Naturrechts auf das positive Privatrecht im 18. Jahrhundert, ZRG GA 96 (1979), 38; Plohmann, M., Ludwig Julius Friedrich Höpfner (1743-1797), 1992; Röd, W., Geometrischer Geist und Naturrecht, 1970; Rüping, H., Die Naturrechtslehre des Christian Thomasius und ihre Fortbildung in der Thomasiusschule, 1968; Thieme, H., Das Naturrecht und die europäische Privatrechtsgeschichte, 2. A. 1954; Wesener, G., Einflüsse und Geltung des römisch-gemeinen Rechts in den altösterreichischen Ländern in der Neuzeit, 1989; Wunner, S., Christian Wolff und die Epoche des Naturrechts, 1968
1. Verfassung
a) Reich
Die Bestrebungen des ausgehenden Mittelalters, das 1667 von Samuel Pufendorf (unter dem Pseudonym Severinus des Monzambano in einem fingierten Reisebericht De statu imperii Germanici, Vom Zustand des deutschen Reichs, an einen Venezianer) als (lat.) irregulare aliquod corpus et monstro simile (ein unregelmäßiges und einem Zwitter ähnliches, als Bündnis weitgehend unabhängiger Staaten zu begreifendes Gebilde) beschriebene Reich zu reformieren, führen zwar im Ringen zwischen Herrscher und Reichsständen zu Reformbeschlüssen unter König Maximilian und Kaiser Karl V. (1495 ewiger Landfriede, Reichskammergericht, Reichsregiment, gemeiner Pfennig). In ihrer Mehrzahl werden diese Entscheidungen aber für die Rechtswirklichkeit nicht sonderlich bedeutsam. Eine Ausnahme bildet außer der Einrichtung des Reichskammergerichts nur die Einteilung des Reiches in insgesamt 10 Reichskreise (u. a. Burgundischer Reichskreis im Nordwesten und Österreichischer Reichskreis im Südosten), die vor allem im Südwesten über längere Zeit eine gewisse Bedeutung für die Landfriedenswahrung, Urteilsexekution und Truppenkontingentierung erlangen.
An der Spitze des vom Grundsatz der Libertät der Reichsstände geprägten Reiches steht der Kaiser, der - nach 1530 (Kaiserkrönung Karls V. durch den besiegten Papst Clemens VII. in Bologna) nicht mehr vom Papst gekrönt, sondern (aus der habsburgischen Dynastie) von den Kurfürsten gewählt wird. Seit 1519 muss er ständig förmliche Wahlversprechen (Wahlkapitulationen) abgeben, durch die sich seine Stellung weiter schwächt.
Nur wenige Rechte stehen ihm ausschließlich zu (lat. iura caesarea reservata, kaiserliche Reservatrechte z. B. Erhebung in den Adelsstand, Verleihung akademischer Würden, Ernennung von Notaren, Legitimation Unehelicher) wie z. B. die regelmäßige Vertretung des Reiches nach außen, die Einberufung des Reichstags oder die Zustimmung zu Reichsgesetzen. Theoretisch bleibt er oberster Lehnsherr, doch erstarrt das Lehnswesen insgesamt. Nur vereinzelt gelingt ihm die Erringung neuer bescheidener Rechte (z. B. Postregal). Seit 1562 findet die Krönung nicht mehr in Aachen, sondern in Frankfurt statt.
Neben dem Kaiser steht der Reichstag, dessen Zustimmung für die Ausübung der meisten kaiserlichen Rechte erforderlich ist.
Der Reichstag, an dem etwa im Jahre 1566 rund 10000 Menschen in irgendeiner Form teilnehmen, setzt sich im materiell verfassungsmäßigen Sinn aus den drei Kollegien der Kurfürsten, Fürsten und Städte zusammen. Die Zahl der Kurfürsten steigt von anfangs sieben auf schließlich 10 (Bayern [1648], Hannover [1692], [Zusammenfall der Pfalzgrafschaft bei Rhein mit Bayern 1777] nach der Säkularisierung [von Köln und Trier] Hessen-Kassel, Baden, Württemberg, Salzburg [1803]). Die übrigen (zuletzt 76) geistlichen Reichsfürsten (geistliche Bank, darunter 25 Bischöfe, 8 Äbte, 2 Ritterorden und 41 Prälaten in zwei Prälatenbänken) und (zuletzt 128) weltlichen Reichsfürsten (weltliche Bank, darunter 29 Fürsten und 99 Grafen und Herren in vier Grafenbänken) haben (insgesamt 100) Stimmen, die überwiegend Virilstimmen (Einzelstimmen) sind, teilweise aber auch nur ganzen Gruppen (Grafenbänken bzw. Prälatenbänken) gemeinsam zukommen (3, später 6 Kuriatstimmen). (Einzelne der Fürstentümer stehen ausländischen Herrschern zu, z. B. Schweden [Rügen, Vorpommern], Dänemark [Holstein], Oranien [Nassau], Frankreich [Gebiete im Elsass und in Lothringen], England [Hannover] und einzelne Fürsten herrschen auch über Gebiete außerhalb des Reiches wie z. B. Brandenburg über Ostpreußen oder Habsburg über Ungarn.) Für die Reichsstädte (1521 84, 1663 61, 1806 51) kommt der schwäbischen Bank (zuletzt 37 Städte) und der rheinischen Bank (Städtegruppe) (zuletzt 14 Städte) je eine, aber nur selten bedeutsame Stimme zu. Seit 1663 tagt der Reichstag (immerwährender Reichstag) als ständiger Gesandtenkongress in Regensburg (, weshalb es keine Reichsabschiede mehr gibt).
Zuständig ist er vor allem für Reichsgesetze, Reichssteuern, Staatsverträge und die Erklärung von Krieg und Frieden sowie als Ort politischer Verhandlungen.
Über Vorschläge des Kaisers beraten die drei Stände getrennt und beschließen mit Mehrheit. Ein einhelliger Beschluss aller drei Stände (Reichsgutachten, consultum imperii), der die Zustimmung des Kaisers erlangt, ist wirksam (Reichsschluss, conclusum imperii). Üblicherweise werden alle Beschlüsse am Ende in einem Reichsabschied (Reichstagsabschied, lat. recessus imperii, 1654 jüngster d. h. letzter Reichsabschied, danach Tagen des Reichstags in Permanenz) zusammengefasst. In Konfessionsangelegenheiten teilt sich der Reichstag in ein (lat.) corpus catholicorum (katholischer Teil mit Stimmenmehrheit trotz Bevölkerungsminderheit) und ein (lat.) corpus evangelicorum (evangelischer Teil mit Stimmenminderheit trotz Bevölkerungsmehrheit) (lat. sog. itio in partes, Aufteilung in Teile), deren Einigung Wirksamkeitsvoraussetzung für ein Reichsgutachten bzw. einen Reichsschluss ist. Unmittelbar gebunden werden durch den Reichsschluss nur die Reichsstände selbst, so dass zur vollständigen Ausführung die Umsetzung durch alles Reichsstände erforderlich ist.
Das Volk spielt nur in der Staatstheorie (Staatslehre) eine Rolle.
Diese ist in der seit der Wende zum 17. Jh. erwachsenden selbständigen Staatsrechtswissenschaft (Jean Bodin 1530-1596, Samuel Pufendorf 1632-1694, Johannes Limnäus 1592-1663) noch gering. Bald gründen aber einzelne Denker alles menschliche Gemeinleben auf einen Vertrag aller beteiligten Einzelnen (Althusius 1603, Hobbes [Leviathan, „Meeresungeheuer“] 1651, Rousseau 1762). Danach kann die Staatsgewalt ursprünglich nur dem Volk zustehen, das sie dem Frieden und Sicherheit gewährleisten sollenden Herrscher nur weitergibt (Volkssouveränität). Nach Hobbes fällt sie dem Monarchen ausschließlich, nach John Locke dagegen zur Abwehr gegen den Absolutismus nur beschränkt (Gewaltenteilung, Absetzungsrecht bei Rechtsbruch) zu (beginnender Rechtsstaat).
b) Länder
Die Stellung des Landesherrn festigt sich, zumal Martin Luther nach 1517 unter Berufung auf Römer 13,1 die Obrigkeit als von Gott verordnet erklärt und der Augsburger Religionsfriede (1555) den Landesherren die Bestimmung der Religion (Konfession) und auch die Herrschaft über die Kirche überlässt. Seit dem 16. Jh. verschwindet allgemein die private Landesteilung im Erbfall. Außer im Südwesten (Schwaben, Franken) gelingt es den Landesfürsten weitgehend, die reichsunmittelbaren Herrschaften und die Städte allmählich ihrer einheitlichen monarchischen an der Wohlfahrt des Gemeinwesens ausgerichteten Staatsgewalt, deren wichtigster Bestandteil seit dem 18. Jh. die Polizeigewalt (lat. ius politiae) wird, zu unterwerfen (Absolutismus, Mediatisierung). Vorbild ist hierbei (nicht England, wo seit der Glorious Revolution von 1688 das ständische Parlament den König zurückzudrängen vermag, sondern) Frankreich, wo seit 1614 die Generalstände nicht mehr zusammengerufen worden sind und wo König Ludwig XIV. (1638-1715) die sich auf italienische Ansätze (Nicolò Machiavelli [1469-1527], Il principe, der Fürst [1517], Erhaltung und Erweiterung der Macht ist Zweck des Staates) stützende Lehre von der uneingeschränkten Herrschaft (im Sinne der auf das ausschließliche Gesetzgebungsrecht gegründeten[, die Beendigung der Bürgerkriege zwischen Katholiken und Hugenotten ermöglichen sollenden] Souveränität [Jean Bodin, Les six livres de la république, die sechs Bücher über die Republik, 1576]) des Herrschers zu einem fast religiösen Dogma steigert. Der Landesherr, der 1648 im Westfälischen Frieden die Bündnisfähigkeit (lat. ius pacis et armorum) auch mit auswärtigen Mächten erlangt, wird zum Amtmann Gottes in seinem Land, im aufgeklärten Absolutismus dann zum ersten Diener (Organ) des neuen Territorialstaats. Seit dem 18. Jh. wird die nun so bezeichnete Landeshoheit (1600 bei Andreas Knichen lat. ius territorii, 1648 lat. ius territorii et superioritatis), in der sich die früher vereinzelten Hoheitsrechte zur umfassenden Hoheitsgewalt (Souveränität) verdichten, als ursprünglich und damit nicht (mehr) vom Reich abgeleitet angesehen, ohne dass allerdings dem Land völlige Eigenständigkeit zukommt, wobei Johann Stephan Pütter (1725-1807) den Landesherren immerhin grundsätzlich eine Staatsgewalt wie anderen Staatsoberhäuptern zuspricht.
Die Landstände wirken anfangs in zahlreichen Landesangelegenheiten unterstützend und zugleich einschränkend mit, verlieren aber (vor allem nach dem Sieg des katholischen Landesherrn über die protestantischen Stände Böhmens 1620 in der Schlacht am Weißen Berg) fast überall (außer z. B. in Württemberg) auch trotz förmlichen Weiterbestands allmählich an Bedeutung, wobei der Adel für den Verlust seiner Mitwirkungsrechte mit der Überlassung der patrimonialen Herrschaft über das flache Land sowie mit den Offiziersstellen und höheren Beamtenstellen abgefunden wird.
Die Landstände eines Landes (in Österreich, wo bei Verweigerung der Steuerbewilligung durch Landtage die Regierung z. B. 1744 einen Rezess einfach anordnet und Joseph II. keinen Landtag mehr einberuft, und in Brandenburg-Preußen, wo seit Kurfürst Friedrich Wilhelm [1648-1688] keine Landtage mehr einberufen werden, gibt es keine auf die Gesamtheit der Länder bezogenen Landstände) sind meist in Prälaten (geistlicher Adel z. B. im Hochstift Münster 41 adlige Mitglieder des Domkapitels), Herren bzw. Ritter (weltlicher Adel z. B. im Hochstift Münster mehr als 60 landtagsfähige Rittergüter) und Städte (z. B. im Hochstift Münster 17 landtagsfähige Städte) gegliedert, während die Bauern nur selten erfasst werden (Tirol, Ostfriesland). Ihr wichtigstes Recht ist das Steuerbewilligungsrecht. Der Verlust der Rechte entspricht der Entstehung des absoluten, d. h. von ständischer Kontrolle freien Fürstentums.
Das Volk bildet eine breite Schicht von Untertanen, die im Land ebensowenig wie im Reich an der materiellen Verfassung aktiv beteiligt ist.
c) Städte
In den Städten entsteht, soweit sie sich der zunehmenden Einordnung in die Landesherrschaft überhaupt entziehen können, ein obrigkeitliches Honorationenregiment des Rates mit zünftischer Zwangsordnung.
Lit.: Angermeier, H., Die Reichsreform 1410-1555, 1984; Aulinger, R., Das Bild des Reichstages im 16. Jahrhundert, 1980; Burgdorf, W., Reichskonstitution und Nation, 1998; Bussi, E., Il diritto pubblico del sacro Romano impero, 1971; Der dynastische Fürstenstaat, hg. v. Kunisch, J., 1982; Eisenhardt, U., Die kaiserliche Aufsicht über den Buchdruck, Buchhandel und Presse, 1970; Flossmann, U., Landrechte als Verfassung, 1976; Gotthard, A., Säulen des Reiches, 1999; Graf, G., Der Verfassungsentwurf aus dem Jahr 1787 des Granduca Pietro Leopoldo di Toscana, 1998; Hartmann, P., Das Steuersystem der europäischen Staaten am Ende des Ancien Régime, 1979; Hoke, R., Die Reichsstaatslehre des Johannes Limnaeus, 1968; Kleinheyer, G., Die kaiserlichen Wahlkapitulationen, 1967; Lamprecht, O., Das Streben nach Demokratie, Volkssouveränität und Menschenrechten, 2001; Laufs, A., Der schwäbische Kreis, 1972; Link, C., Herrschaftsordnung und bürgerliche Freiheit, 1979; Kleinheyer, G., Die kaiserlichen Wahlkapitulationen, 1968; Maier, H., Die ältere deutsche Staats- und Verwaltungslehre, 2. A. 1980; Meinecke, E., Die Idee der Staatsraison in der neueren Geschichte, 3. A. 1929; Meyer, R., Eigentum, Repräsentation und Gewaltenteilung in der politischen Theorie von John Locke, 1991; Mohnhaupt, H./Grimm, D., Verfassung, 1995; Pahlow, L., Justiz und Verwaltung, 2000; Quaritsch, H., Staat und Souveränität, 1970; Reichsstände und Landstände, hg. v. Rausch, H., 1974; Revolution, Reform, Restauration, hg. v. Mohnhaupt, H., 1988; Schildt, B., Bauer – Gemeinde – Nachbarschaft, 1996; Schmidt-Aßmann, E., Der Verfassungsbegriff in der deutschen Staatslehre der Aufklärung und des Historismus, 1967; Schubert, F., Die deutschen Reichstage in der Staatslehre der frühen Neuzeit, 1966; Staatsdenker in der frühen Neuzeit, hg. v. Stolleis, M., 3. A. 1996; Staatslehre der frühen Neuzeit, hg. v. Hammerstein, N., 1995; Staatsräson, hg. v. Schnur, R., 1975; Ständetum und Staatsbildung in Brandenburg-Preußen, hg. v. Baumgart, P., 1983; Ständische Vertretungen in Europa im 17. und 18. Jahrhundert, hg. v. Gerhard, D., 1969; Stolleis, M., Staatsraison, Recht und Moral in philosophischen Texten des späten 18. Jahrhunderts, 1972; Willoweit, D., Rechtsgrundlagen der Territorialgewalt, 1975; Wyduckel, D., Ius publicum, 1984; Wyduckel, D., Princeps legibus solutus. Zur frühmodernen Rechts- und Staatslehre, 1979
2. Verwaltung
a) Reich
Reichsbehörden sind vor allem Reichskanzlei und Reichshofrat, während die Reichshofämter äußerlich zwar fortbestehen, aber inhaltlich bedeutungslos werden.
Der Reichskanzlei steht an sich weiter der Erzbischof von Mainz vor. Seit Beginn des 17. Jh. hat sie aber ihren festen Sitz in Wien. Etwa gleichzeitig werden die besonderen österreichischen Angelegenheiten von den Reichsangelegenheiten abgetrennt und einer eigenen territorialen Hofkanzlei (eigener erbländischer Hofrat in Verwaltungssachen 1559, in Justizsachen 1620) übertragen.
Der Reichshofrat wird schon von König Maximilian (1497) zur obersten Regierung und Justizbehörde bestimmt. Er entwickelt sich aber allmählich zu einem mit dem Reichskammergericht konkurrierenden Gericht. Die »geheimen großen Sachen« zieht eine engerer Kreis von geheimen Räten an sich.
Die Sachgegenstände der Reichsverwaltung sind von bescheidener Bedeutung.
Das Reichsheer besteht aus geringen Kontingenten der Reichsstände, wobei sich die mächtigeren Fürsten zunehmend ihren Gestellungsverpflichtungen entziehen. Das Reichsfinanzwesen verkümmert mit dem Schwinden von Reichsgut und Regalien, denen außer für das Reichskammergericht (von den Ständen zu entrichtender sog. Kammerzieler) keine ordentlichen, sondern nur außerordentliche Steuern (Matrikularbeiträge der Reichsstände) zur Seite treten. In übrige allgemeine Angelegenheiten greift das Reich mit Reichspolizeiordnungen ein (z. B. Monopole, Zünfte).
b) Länder
An der Spitze der Territorialbehörden, bei denen teilweise landesherrliche Einrichtungen und landständische Einrichtungen nebeneinander vorhanden sind, steht zunehmend seit der Wende zum 16. Jh. als kollegiale und zentrale Behörde mit festem Amtssitz der ständige fürstliche Rat (Hofrat, Ratsstube), der sich mehr und mehr aus gelehrten und oft landfremden Juristen zusammensetzt und dem meist statt des Fürsten der Kanzler oder Hofmeister vorsitzt.
Dieser Rat trennt sich im 16. Jh. von der engeren Hofverwaltung mit ihren hergebrachten, teilweise aber auch neugeschaffenen Hofämtern. Er ist zunächst für alle Angelegenheiten der Landesverwaltung einschließlich der Vorbereitung der Gesetzgebung und - sofern nicht ein besonderes oberstes Gericht (Brandenburg Kammergericht) besteht - die oberste Rechtsprechung zuständig, wobei sich vielfach sein Schwerpunkt rasch hierauf verlegt. Wichtige Angelegenheiten behält der Fürst seit dem 16./17. Jh. sich und besonderen »Geheimen Räten« vor, die dann bald ihrerseits zur obersten beschließenden und ausführenden Behörde werden. In ihr werden zunehmend die Aufgabe anfangs nach Provinzen, dann nach Fachgebieten aufgeteilt (Kabinett). Daneben werden im 18. Jh. überhaupt besondere oberste Behörden für auswärtige Angelegenheiten, Finanzen und Justizsachen geschaffen (Preußen 1728 Kabinettsministerium, 1722 General-[oberfinanz-, kriegs- und domänen]direktorium, 1738 ministre chef de justice), an deren Spitze vielfach Minister stehen (1761 Staatsrat in Österreich, 1781 in Preußen). Mittelbehörden erscheinen seit dem Ende des 15. Jh. in den ständig wachsenden, größeren Ländern (Bayern, Sachsen, in Brandenburg im 17. Jh. Kreise, 1702 Landrat als zugleich ständischer wie landesherrlicher Beamter, Landeshauptmann in Österreich). Die Lokalverwaltung erfolgt in Ämtern durch jetzt meist bürgerliche Amtmänner (Ausdruck Beamte erscheint im 16. Jh.).
Über die schon von Martin Luther 1524 geforderte allgemeine Verbesserung des Schulwesens und die Gründung zahlreicher neuer Universitäten (z. B. Marburg, Graz, Gießen, Innsbruck, Halle, Göttingen, Erlangen) hinaus wird dabei für die Aufnahme von höheren juristischen und administrativen Tätigkeiten seit Beginn des 18. Jh. von den Territorialstaaten der Nachweis einer an das Studium angeschlossenen praktischen Ausbildung verlangt (Eingangsprüfung in den öffentlichen Dienst). Seit dem 18. Jh. setzt sich auch die allgemeine feste Besoldung der Beamten durch den Staat durch.
In Tirol hatte König Maximilian schon 1490 ein Kollegium (Regiment) von 12 Statthaltern (Räten) für Justiz und Verwaltung für den Fall seiner Abwesenheit bestellt und 1491 für die Verwaltung der Einkünfte eine besondere Raitkammer (Rechnungskammer) geschaffen, die 1493 bzw. 1494 auch in den sog. niederösterreichischen Ländern (Österreich unter der Enns, Österreich ob der Enns, Steiermark, Kärnten und Krain)Eingang finden (Maximilianische Verwaltungsreformen).
Sachlich wird der Zentralbegriff der territorialen Verwaltung die gute ordnung und pollicey (Polizei, zu griech. politeia, Staatswesen, wahrscheinlich um 1500 in die deutsche Sprache eingeführt). Hierunter ist alle auf die Wahrung und Förderung des Zustandes guter Ordnung des Gemeinwesens gerichtete Staatstätigkeit zu verstehen. Sie kann die verschiedensten Angelegenheiten erfassen (u. a. Luxusverbote aus ursprünglich religiösen, dann ständepolitischen Gründen). Im 18. Jh. engt sich dieser weite Polizeibegriff, der dem Staat umfassende Zuständigkeit sichert, wohl unter dem Einfluss der Physiokraten allerdings ein.
Mit der Ausscheidung der auswärtigen Angelegenheiten, der Finanzangelegenheiten, Justizangelegenheiten und auch Heeresangelegenheiten aus der allgemeinen Verwaltung verbleibt für die Polizei nur noch die innere Verwaltung. Darüber hinaus beschränkt der Göttinger Staatsrechtler Johann Stephan Pütter (1725-1807) die Polizeigewalt auf die Abwehr von Gefahren und verneint ihre Zuständigkeit für die Förderung der Wohlfahrt. Dem folgt das preußische Allgemeine Landrecht bei der Umschreibung der Aufgaben der besonderen Polizeigerichtsbarkeit mit den Worten (II, 17 § 10) Die nöthigen Anstalten zur Erhaltung der öffentlichen Ruhe, Sicherheit und Ordnung und zur Abwendung der dem Publiko, oder einzelnen Mitgliedern desselben bevorstehenden Gefahr zu treffen ist das Amt der Polizey.
In der Finanzverwaltung werden zur Erreichung einer jederzeitigen Gesamtübersicht über die verfügbaren Mittel Einnahmen und Ausgaben in einer landesherrlichen Kasse (z. B. Raitkammer) zentralisiert.
Die Ausgaben erhöhen sich zu einen dadurch, dass der Staat laufend neue Aufgaben übernimmt. Zum anderen erfordert die Besoldung der Beamten und der Soldaten ebenso steigende Mittel wie der im Absolutismus wachsende fürstliche Aufwand (Schlösser, Hofstaat, Feste). Die Einkünfte stammen aus den Domänen und nutzbaren Hoheitsrechten (vom König übernommene Regalien) sowie aus den bis ins 18. Jh. von den Landständen verwalteten und von ihnen auch zu bewilligenden und für die Gegenleistung der Besetzung von Verwaltungsstellen mit Einheimischen sowie der eigenen Steuerbefreiung auch bewilligten Steuern, die teils direkt (Grundsteuer, deretwegen im 18. Jh. Kataster angelegt werden, Personalsteuer), teils indirekt (Ungeld, Akzise, 1641 in Brandenburg 25 % der Staatseinkünfte) erhoben werden. Die Lücken werden mit Krediten geschlossen. Am Ende des 18. Jh. steht dann aber dem Staatsoberhaupt als Folge des Absolutismus das Besteuerungsrecht als Hoheitsrecht über alle Untertanen zu (Steuerpflicht).
Theoretisch befasst sich mit der Polizei und den Finanzen die Kameral- und Polizeiwissenschaft (v. Justi 1705-71, v. Sonnenfels 1723-1817, v. Berg, Handbuch des teutschen Polizeirechts, 1799ff.), die infolge der durch Liberalismus und Idealismus bewirkten Interessenverlagerung später im Staatsrecht aufgeht.
Im Heereswesen tritt dadurch eine Veränderung ein, dass der absolute Fürst seit dem 17. Jh. zur Sicherung seiner Herrschaft ein stehendes Heer von Söldnern errichtet, bei dem später die Aushebung die Anwerbung ersetzt (1733 in Preußen allgemeine Wehrpflicht).
Der (evangelische) Landesherr ist auch oberster Bischof der evangelischen Landeskirche.
In Österreich übernimmt 1742 die neugeschaffene Haus-, Hof- und Staatskanzlei die Außenpolitik und die Angelegenheiten des Hofes. 1744 wird ein besonderes Gericht (lat. iudicium delegatum) abgeteilt. 1749 wird unter Graf Haugwitz die Hofkanzlei aufgelöst und durch ein Directorium in publicis et cameralibus für Verwaltungs- und Finanzsachen sowie die Oberste Justizstelle für Justizsachen ersetzt. In der Landesverwaltung (mittleren Staatsverwaltung) erhält das Gubernium (Repräsentation und Kammer) einen eigenen Senat für Rechtsprechung. Von Böhmen ausgehend entstehen auf unterster Ebene Kreisämter, welche die älteren Landesviertel verdrängen und zunehmend auf grundherrlich-bäuerliche Angelegenheiten ausgreifen. 1761 werden Böhmen und Österreich in der vereinigten böhmisch-österreichischen Hofkanzlei zusammengeschlossen. Die ältere Hofkammer erhält 1765/1773 die Aufsicht über Steuern und Abgaben. Joseph II. führt 1782 die Trennung von Verwaltung und Justiz auch in zweiter Instanz durch die Errichtung von eigenen Appellationsgerichten in jedem Regierungsbezirk statt der bisherigen bloßen Senate durch. 1783 wird eine auf Anspruchslosigkeit, Staatstreue, Unparteilichkeit und Rechtlichkeit zielende Instruktion für alle Staatsdiener erlassen. Ein seit 1780 geplanter politischer Kodex für das öffentliche Recht (nach Joseph von Sonnenfels’ Grundsätzen der Polizey, Handlung und Finanz seheitert (endgültig 1818).
c) Städte
Die städtische Verwaltung wird vor allem nach der Verarmung der Städte infolge des Dreißigjährigen Krieges(, der merkantilistischen Politik der umgebenden Landesherren und hoher Steuern) teils durch landesherrliche Verwaltung ersetzt, teils der landesherrlichen Aufsicht unterstellt und ihrer Hoheitsrechte (Wehrhoheit, Statutarhoheit, Gerichtshoheit, Polizeihoheit, Steuerhoheit, Gewerbehoheit) beraubt. Dadurch wird die Stadt überwiegend zur Staatsanstalt.
Wegen der zunehmend geschlossenen Hausbauweise entwickeln sich für die in ihren Mauern eingeengten Städte Ansätze eines Baurechts.
In Österreich erhalten die Städte 1783 eine Magistratsverfassung mit drei Senaten (allgemeine Verwaltung und Finanzverwaltung, Zivilgerichtsbarkeit, Strafgerichtsbarkeit).
Lit.: Deutsche Verwaltungsgeschichte, hg. v. Jeserich, K. u. a ., Bd. 1ff. 1983ff.; Eisenhardt, U., Aufgabenbereich und Bedeutung des kurkölnischen Hofrates, 1963; Gute Policey als Politik im 16. Jahrhundert, hg. v. Blickle, P. u. a., 2003; Hattenhauer, H., Geschichte des Beamtentums, 1980; Hartleif, W., Das Polizeirecht in Düsseldorf bis zum Jahre 1806, 1990 (Diss.); Holenstein, A., Gute Policey, 2003; Iseli, A., Bonne police, 2003; Klein, E., Geschichte der öffentlichen Finanzen in Deutschland (1500-1870), 1974; Knemeyer, F., Polizeibegriffe in den Gesetzen des 15. bis 18. Jahrhunderts, AöR 92 (1967), 153; Lanzinner, M., Fürste, Räte und Landstände, 1980; Mayer, T., Die Verwaltungsorganisationen Maximilians I., 1920, Neudruck 1973; Policey in lokalen Räumen, hg. v. Holenstein, A. u. a., 2002; Policey und frühneuzeitliche Gesellschaft, hg. v. Härter, K., 2000; Preu, P., Polizeibegriff und Staatszwecklehre, 1983; Recht, Verfassung und Verwaltung in der frühneuzeitlichen Stadt, hg. v. Stolleis, M., 1991; Rüfner, W., Verwaltungsrechtsschutz in Preußen von 1749-1842, 1962; Schöpfer, G., Sozialer Schutz im 16.-18. Jahrhundert, 1976; Schulze, R., Policey und Gesetzgebungslehre im 18. Jahrhundert, 1982; Simon, T., Gute Polizey, 2004; Sonnenfels, J. v., Grundsätze der Policey, hg. v. Ogris, W., 2003; Stolleis, M., Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland, Bd. 1 1988; Stolleis, M., Pecunia nervus rerum, 1983; Tezner, F., Verwaltungsrechtspflege in Österreich von 15. bis 18. Jahrhundert, 1897; Willoweit, D., Rechtsgrundlagen der Territorialgewalt, 1975; Wüst, W., Die gute Policey im Reichskreis, Bd. 1ff. 2001ff.; Wyluda, W., Lehnrecht und Beamtentum, 1969
3. Verfahren
a) Organisation
Gerichte des Reiches sind das Reichskammergericht, der Reichshofrat und einige vereinzelt noch bestehende kaiserliche Landgerichte (z. B. Rottweil).
Das Reichskammergericht entsteht als Gericht der Reichsstände im Zuge der Reichsreform von 1495.
Seine Verfassung ist in der Reichskammergerichtsordnung von 1495 sowie späteren Reichskammergerichtsordnungen geregelt. Es ist ein dem König abgerungenes Gericht der Reichsstände. Mit einem vom Herrscher bestimmten Kammerrichter (Vorsitzer) und erst 16, 1566 32, später bis zu 41, je zur Hälfte adligen und gelehrten, nur im Zusammenwirken mit den Reichsständen bestimmbaren, fest besoldeten Beisitzern (Urteilern[, von denen unter 45 neu berufenen Assessoren im 16. Jh. 37 gelehrte Bürgerliche, 4 gelehrte Adelige und 4 ungelehrte Adelige sind, die sich in der Regel als Interessenvertreter ihres Präsentanten verstehen]), die anfangs zwei (1530), später vier Senaten angehören, ist es - zu schwach und meist nicht vollständig - besetzt (1703 25 Prokuratoren, 9 Advokaten, 1799 zusammen 151 Prokuratoren und Advokaten). Es wird in der Reichsstadt Frankfurt am Main eingerichtet, dann bald kurzfristig in verschiedenen anderen Reichsstädten untergebracht und 1527 nach Speyer und 1693 wegen der Bedrohung Speyers durch Frankreich (seit 1688) auf Dauer nach Wetzlar verlegt. Zuständig ist es teils in erster Instanz, teils in letzter Instanz vor allem für Rechtsverweigerung, Landfriedensbruch, bürgerliche Klagen gegen Reichsunmittelbare sowie die angesichts der sich häufenden Nichtappellationsprivilegien immer wenigeren noch zulässigen Appellationen (auch in zahlreichen Polizeisachen) gegen Entscheidungen höchster landesherrlicher (bzw. reichsstädtischer) Gerichte. In Anspruch genommen wird es bei durchschnittlich etwa 250 Eingängen im Jahr (anfangs etwa 70, am Beginn des 17. Jh. etwa 700, in Wetzlar etwa 200) regional vor allem am Rhein, ständisch durch die städtische Oberschicht und den niederen Landadel sowie sachlich in Bezug auf Geldwirtschaft und Landfrieden (bis 1550 ca. 9900, bis 1594 29200, bis 1693 54800 Akten, bis 1769 61230 insgesamt anhängig gemachte Streitigkeiten einschließlich der durch Vergleich beendeten Streitigkeiten, etwa 2000 unerledigt liegen gebliebene Revisionen (bis 1806 etwa 75000 Streitsachen). Beigegeben ist ihm ein Fiskalprokurator, der vor allem die Einkünfte einziehen und verwalten soll.
Für Streitigkeiten unter Reichsfürsten besteht eine Austrägalinstanz.
Der Reichshofrat soll für den Kaiser das an die Reichsstände verlorene Kammergericht ersetzen und als Gericht des Kaisers neben dem Reichskammergericht stehen.
Besetzt ist er mit dem Hofratspräsidenten als Vertreter des Kaisers und einer zwischen 16 und 34 schwankenden Zahl von Räten. Seine Zuständigkeit erstreckt sich vor allem auf kaiserliche Reservatrechte und Privilegien, Reichslehnssachen sowie Kriminalklagen gegen Reichsunmittelbare. Allmählich gewinnt er im Verhältnis zum Reichskammergericht das größere Gewicht.
In den Ländern schreitet die Zentralisierung der Gerichtsbarkeit fort. Vielfach werden territoriale Oberappellationsgerichte (Hofgericht, Kammergericht, Obertribunal) eingeführt, die (neben dem Hofrat) an der Spitze eines geregelten Instanzenzugs über Obergerichten und Untergerichten stehen und die (städtischen) Oberhöfe zurückdrängen. Sie schließen Eingriffe des Fürsten in die Rechtspflege durch Entscheidung eines Rechtsfalls oder durch Anweisung an das Gericht (Machtsprüche, Kabinettsjustiz), wie sie sich vor allem in Zivilsachen, später auch in Strafsachen - in der Form des Bestätigungsrechts finden, bis zum Ende des 18. Jh. als durchaus rechtmäßig und keineswegs immer zum Nachteil des Untertanen gereichend nicht aus, wobei sich im Übrigen ein Untertan im 18. Jh. jedenfalls dann mit dem Verlangen nach Rechtsshutz gegen den Landesherrn an ein Gericht wenden kann, wenn er sich auf ein wohlerworbenes Recht oder ein Privileg berufen kann. Eine feste Abgrenzung von Gerichten und Verwaltungsbehörden wird erst im aufgeklärten Absolutismus versucht.
In den meisten Gerichten verschwinden allmählich (vor allem im 17. Jh., Oldenburg 1704, Kurtrier 1719, Hannover 1733, anders z. B. Kurköln, Württemberg) die ungelehrten Schöffen, während der vom Landesherrn abhängige, beamtete, gelehrte und seit dem 18. Jh. vor der Einstellung zusätzlich geprüfte Berufsrichter, der nicht nur den Vorsitz führt, sondern auch die Entscheidung trifft, seinen Einzug hält (z. B. Hochstift Münster von der Reichskammergerichtsordnung beeinflusste Hofgerichtsordnung 1571). Außerdem gehört nun zu jedem ordentlich besetzten Gericht ein Gerichtsschreiber. Die untersten Gerichte stehen vielfach Grundherren zu (Patrimonialgerichtsbarkeit), doch dürfen sie allmählich ebenfalls nur noch mit geprüften Juristen besetzt werden. Seit dem 16. Jh. wird die Rechtspflege allmählich allgemein entgeltlich.
In Österreich benennt Joseph II. die grundherrschaftlichen Gerichte in Ortsgerichte um und bildet den Instanzenzug Ortsgericht - Kreisamt - Appellationsgericht - Oberste Justizstelle durch.
Die Sonderstellung der Städte wird tendenziell abgebaut.
Die kirchliche Gerichtsbarkeit wird von der staatlichen Gerichtsbarkeit zurückgedrängt.
Materiell macht sich bei den Landesherren das Bestreben bemerkbar, die Gerichte, vor denen bis dahin immer auch der Herrscher zur Verantwortung gezogen werden konnte, auf Angelegenheiten privaten Interesses zu beschränken und den Bereich öffentlicher Interessen der gerichtlichen Beurteilung zu entziehen (Regierungssachen sind keine Justizsachen, Preußen 1653).
Lit.: Das Reichskammergericht - Der Weg zu seiner Gründung, hg. v. Diestelkamp, B., 2004; Diestelkamp, B., Rechtsfälle, aus dem Alten Reich, 1995; Eberling, H., Findebuch zu den Reichskammergerichtsakten 1551-1806, 1985; Frieden durch Recht. Das Reichskammergericht von 1495 bis 1806, hg. v. Scheurmann, I., 1994; Gschließer, O. v., Der Reichshofrat, 1942, Neudruck 1970; Hocks, S., Gerichtsgeheimnis und Begründungszwang, 2002; Jahns, S., Das Reichskammergericht und seine Richter, 2003; Lück, H., Die kursächsische Gerichtsverfassung, 1997; Maasburg, F. v., Geschichte der Obersten Justizstelle in Wien (1749-1848), 2. A. 1981; Müller, H., Oberhof und neuzeitlicher Territorialstaat, 1978; Oesterley, F., Das deutsche Notariat, Teil 1f. 1842ff., Neudruck 1975; Die Ordnungen des Reichshofrates 1555-1766, hg. v. Sellert, W., 1980; Das Reichskammergericht in der deutschen Geschichte, hg. v. Diestelkamp, B. u. a., 1987; Ranieri, F., Die Arbeit des Reichskammergerichts in Wetzler, 1988; Ranieri, F., Recht und Gesellschaft im Zeitalter der Rezeption, 1986; Die Reichskammergerichtsordnung von 1555, hg. v. Laufs, A., 1976; Seif, U., Recht und Justizhoheit, 2003; Sellert, W., Über die Zuständigkeitsabgrenzung zwischen Reichshofrat und Reichskammergericht, 1965; Smend, R., Das Reichskammergericht, 1911, Neudruck 1965; Stölzel, A., Die Entwicklung der gelehrten Rechtsprechung, Bd. 1 1901ff.; Weitzel, J., Der Kampf um die Appellation ans Reichskammergericht, 1976; Wienfort, M., Patrimonialgerichte in Preußen, 2001; Willoweit, D., Die Entstehung der preußischen Fabrikengerichtsbarkeit im späten 18. Jahrhundert, ZNR 1982
b) Ablauf
aa) Zivilverfahren
Das Verfahren wird hauptsächlich durch das Verfahren vor dem Reichskammergericht geprägt (Kameralprozess), in das viele Regeln des römisch-kanonischen Verfahrens aufgenommen werden.
Der Streitstoff ist von den Parteien vorzubringen (Verhandlungsmaxime). Die Klage ist schriftlich einzureichen (lat. libellus, »Büchlein«, Klaglibell), und zwar seit 1570 artikuliert, d. h. in Artikel (Klagpunkte, lat. positiones, 1654 wird im Kameralprozess die Artikulierung aufgegeben) gegliedert. Dadurch entsteht die Notwendigkeit der Vertretung durch einen gelehrten Juristen. Dabei wird bis ins 18. Jh. die Abfassung der Prozessschriften von Advokaten, die Vertretung vor Gericht von Prokuratoren vorgenommen. Im ersten Termin wird dem Beklagten, der nach der Ladung durch Zwangsmittel zum Erscheinen gezwungen werden kann, die Klage vorgelesen. Kann er nicht durch prozesshindernde Einreden - die der Kläger in einer Replik entkräften, auf die der Beklagte in einer Duplik, darauf der Kläger mit einer Triplik usw. antworten kann - die Klagabweisung erreichen, so erfolgt im Antworttermin die Streitbefestigung (lat. litis contestatio) durch Einlassung des Beklagten sowie der beiderseitige Eid, nicht wider besseres Wissen Ansprüche zu erheben (Kalumnieneid). Streitige Punkte sind in einem besonderen Beweisverfahren mit eigenen Terminen artikelweise durch Zeugen, Urkunden oder Parteieid zu beweisen. Nach Abschluss des Beweisverfahrens wird, wenn das Gericht sich nicht wegen der Schwierigkeit des Falles an ein erfahreneres Kollegium (Schöffenstuhl, juristische Fakultät) mit der Bitte um eine Entscheidung wendet (Aktenversendung), von den Beisitzern das Urteil gefällt, wobei zumindest bei Stimmengleichheit der Kammerrichter oder Senatspräsident nun erstmals (mit-)entscheidet. Das Urteil, das möglichst subsumierend aus Rechtssätzen abgeleitet wird, wird niedergeschrieben und anschließend verlesen. Eine Begründung den Parteien gegenüber wird 1715 in Sachsen verlangt und im Gefolge der französischen Revolution von 1789 allgemein durchgesetzt (Preußen 1793). Soweit das Gericht nicht letztinstanzlich entscheidet, kann eine Appellation an das Obergericht erhoben oder eine Supplikation an den Fürsten vorgebracht werden, wobei wegen deren großen Zahl bald bestimmte Mindestwerte der Beschwer zur Voraussetzung gemacht werden. Die Kosten trägt grundsätzlich die unterlegene Partei, wobei im Wohlfahrtsstaat des 18. Jh. das sog. Armenrecht (vorläufige Kostenbefreiung einer armen Partei für aussichtsreiche Klagen) geschaffen wird.
Eine besondere Verfahrensform bildet der sog. sächsische Prozess, der aber 1654 mit dem Kameralprozess verschmolzen wird.
Er ist in Sachsen durch Gesetzgebung, Rechtsprechung und Wissenschaft entwickelt. Klagschrift und Klagantwort sind zur Verfahrensbeschleunigung nicht artikuliert, das Beweisverfahren ist vom Behauptungsverfahren getrennt (Prozesszäsur). Rechtsmittel ist die der älteren Urteilsschelte verwandte Läuterung vor dem erkennenden Richter.Die Eventualmaxime (Notwendigkeit des gleichzeitigen Vorbringens aller Klagetatsachen) soll das Verfahren beschleunigen. In Preußen werden im 18. Jh. das Mündlichkeitsprinzip und Offizialprinzip (Untersuchungsmaxime) eingeführt (1739, 1781 Corpus iuris Fridericianum), wird die Eventualmaxime aufgegeben und wird der Anwalt durch einen gerichtlichen Assistenzrat bzw. Justizkommissar ersetzt (1793 Allgemeine Gerichtsordnung).
In Österreich wird der gemeinrechtliche Zivilprozess 1781 in der Allgemeinen Gerichtsordnung geregelt (geheimes Aktenverfahren mit Verhandlungsmaxime und gebundener Beweisregel). In etwas veränderter Form tritt die Gerichtsordnung 1796 als Westgalizische Gerichtsordnung in Westgalizien und später in Ostgalizien, der Bukowina, Salzburg, Tirol, Vorarlberg, Dalmatien und Istrien in Kraft.
Das Sonderverfahren des Konkurses gerät unter den Einfluss des gemeinen Rechts. Dem Gericht unterfallen Leitung des Verfahrens, Verwertung der Masse und Befriedigung der Gläubiger, wobei es sich eines Kurators (Konkursverwalters) bedienen kann. Nichtangemeldete Forderungen werden ausgeschlossen, bestrittene besonders verhandelt.
Als Sonderform des Prozesses entwickelt sich der Mandatsprozess, bei dem das Gericht auf ein Gesuch des Klägers dem Beklagten schon vor dem Urteil in einem Mandat ein bestimmtes Verhalten bezüglich des Streitobjektes gebietet.
Im Rahmen der Systembemühungen des Naturrechts entwickelt Daniel Nettelbladt (1719-1791) den allgemeinen prozesswissenschaftlichen Begriff der Prozesshandlung.
bb) Strafverfahren
Die Peinliche Halsgerichtsordnung Kaiser Karls V. (Constitutio Criminalis Carolina) von 1532, die ihrerseits sowohl auf den einheimischen mittelalterlichen Entwicklungen wie auch auf römisch-kanonischen (Papst Innozenz III., Papst Innozenz IV.), in Oberitalien geformten Grundsätzen (Albertus Gandinus [1245-1311], Tractatus de maleficiis, Traktat über Missetaten, 1286-1300) beruht, schafft eine neue Grundlage für das Strafverfahren.
Eingeleitet wird es durch die Klage eines privaten, bei Freispruch des Angeklagten zu Entschädigung verpflichteten Klägers (Akkusationsprozess) oder nicht zuletzt eben wegen dieser gefährlichen Haftung bald mehr und mehr durch die Anklage des bei bestimmten Indizien eingreifenden Richters (Offizialprinzip, Inquisitionsprozess, dessen erste Formen in Oberitalien im 13. Jh. sichtbar werden). Der Richter hat im Beisein von mindestens zwei Schöffen die Wahrheit durch Inquisition (Untersuchung, Befragung) zu ermitteln, wozu er den Beschuldigten in Haft nehmen kann. Zum Beweis genügen die Aussagen zweier glaubhafter Zeugen oder das Geständnis, nicht dagegen bloße Indizien (Anzeichen). Allerdings darf bei Vorliegen bestimmter Indizien (Indizienlehre) zur Erlangung eines Geständnisses die Folter (Tortur, peinliche Frage) eingesetzt werden. Gottesurteil und Reinigungseid sind dagegen ausgeschlossen. Der Richter ist an feste Beweisregeln gebunden. In allen zweifelhaften Fällen sind nach spätmittelalterlichem deutschem wie oberitalienischem Vorbild Rechtsverständige (Oberhöfe, Juristenfakultäten) um gutachtlichen Rat bzw. um einen Urteilsvorschlag zu fragen (Aktenversendung), wobei die Wahl des Gutachters frei, der Inhalt des Gutachtens unabänderlich ist.
Öffentlich ist nur der endliche Rechtstag, in dem formal die Verhandlung erfolgt. Hier wird als erstes die Anklage vor Richter und Urteilern vorgelesen und überreicht. Dann bittet der Angeklagte bei Geständnis um Gnade, bei Leugnung um Freispruch. Leugnet er, so genügt zum Beweis das Zeugnis zweier Schöffen über das während der Folter abgelegte Geständnis. Danach verliest der Richter das vorher schriftlich festgelegte Urteil, bricht den Stab über dem Angeklagten und übergibt ihn grundsätzlich ohne die Möglichkeit eines Rechtsmittels dem Nachrichter (Scharfrichter, Henker) zur Vollstreckung.
Dabei steht dem Herrscher das Recht der Urteilsbestätigung zu. Seit dem 16. Jh. wird die in Italien seit dem 12. Jh. entwickelte Nichtigkeitsbeschwerde für grobe Verfahrensfehler allmählich aufgenommen. Daraus entwickelt sich auch im Strafverfahren die Möglichkeit der Appellation.
Später treten mehrere Veränderungen vor allem infolge der vielleicht im frühen 15. Jh. in Savoyen bei der Verfolgung der Armut und Frieden fordernden sowie Eid und Amt verweigernden Waldenser (des Lyoner Kaufmanns Pierre Valdes) beginnenden, nach 1500 rasch um sich greifenden Hexenprozesse, die sich unter Mitwirkung bekannter Theologen des Konzils von Basel (1431-1439) aus Inquisitionsprozessen entwickelt haben dürften, (mit angeblich ingesamt 1000000 Opfern [1627-1637 2000 in Kurköln]), dann umgekehrt auf Grund der Aufklärung (Aufhebung der Folter) ein.
Die Stellung des Angeklagten verschlechtert sich dadurch, dass statt der Klage eines privaten Klägers bald die Anzeige beim Richter zur Ingangsetzung des Verfahrens genügt, dass die Folter auch über die bisherigen Fälle hinaus zugelassen und teilweise auch der endliche Rechtstag aufgegeben wird. Umgekehrt wird die Folter nach aufgeklärten Schriften (Friedrich (von) Spee von Langenfeld, Cautio criminalis contra sagas, Rechtliches Bedenken wegen der Hexenprozesse 1631, Christian Thomasius, De crimine magiae [Vom Verbrechen der Hexe- und Zauberei], 1701, De tortura [Von der Folter], 1705) bei gleichzeitiger Aufgabe der Notwendigkeit eines Geständnisses als Beweismittel allmählich beseitigt (Schweden 1734, Preußen grundsätzlich 1740, Österreich 1776, Schweiz 1798, Bayern 1806, Baden 1831), wobei allerdings bei Verweigerung der Aussage oder bei falscher Aussage eine Ungehorsamsstrafe oder Lügenstrafe, bei schwächeren Indizien eine außerordentliche Verdachtsstrafe und nach italienischem Vorbild eine bloß vorläufige Beendigung des Verfahrens (Instanzentbindung) zugelassen werden. Weiter wird teilweise der Inquirent (Untersucher) von der Urteilsfällung ausgeschlossen. Außerdem wird seit der Mitte des 18. Jh. die Aktenversendung eingeschränkt (Preußen 1746).
Für Österreich wird das Strafverfahrensrecht 1768 durch die Constitutio Criminalis Theresiana (Theresianisches Strafgesetz), 1788 durch die Allgemeine Kriminalgerichtsordnung und 1803 durch das Strafgesetz geregelt. In der Schweiz wird 1799 durch Übersetzung einer französischen Vorlage ein Peinliches Gesetzbuch (Strafgesetzbuch) geschaffen, das auch nach 1803 teilweise subsidiär in Geltung bleibt.Lit.: Bader, G., Die Hexenprozesse in der Schweiz, 1935; Baumgärtel, G., Die Gutachter- und Urteilstätigkeit der Erlanger Juristenfakultät, 2. A. 1962; Bethmann-Hollweg, M. v., Der Zivilprozess des gemeinen Rechts in geschichtlicher Darstellung, Bd. 1ff. 1864ff., Neudruck 1959; Cesare Beccaria. Die Anfänge moderner Strafrechtspflege in Europa, hg. v. Deimling, G., 1989; Dick, B., Die Entwicklung des Kameralprozesses nach den Ordnungen von 1495 bis 1555, 1981; Döhring, E., Geschichte der deutschen Rechtspflege seit 1500, 1955; Dülmen, R., Theater des Schreckens, 2. A. 1988; Ebel, F., 200 Jahre preußischer Zivilprozess. Das Corpus iuris Fridericianum vom Jahre 1781, 1982; Gehrke, H., Die privatrechtliche Entscheidungsliteratur Deutschlands, 1974; Hartl, F., Das Wiener Kriminalgericht, 1973; Helbing, F., Die Tortur, 1926, Neudruck 1983; Hexenverfolgung, hg. v. Lorenz, S. u. a., 1995; Hülle, W., Das rechtsgeschichtliche Erscheinungsbild des preußischen Strafurteils, 1965; Ignor, A., Geschichte des Strafprozesses in Deutschland, 2002; Jerouschek, G., Die Hexen und ihr Prozess, 1992; Kleinheyer, H., Zur Rechtsgestalt von Akkusationsprozess und peinlicher Frage im frühen 17. Jahrhundert, 1971; Klugkist, E., Die Göttinger Juristenfakultät als Spruchkollegium, 1951 (Diss.); Langbein, J., Torture and the Law of Proof, 1976; Leiser, W., Der gemeine Zivilprozess in den badischen Markgrafschaften, 1961; Lenel, P., Die Scheidung von Richter und Urteilern in der deutschen Gerichtsverfassung seit der Rezeption, ZRG GA 34 (1913), 440; Loschelder, M., Die österreichische Allgemeine Gerichtsordnung von 1781, 1978; Martschukat, J., inszeniertes Töten, 2000; Merzbacher, F., Die Hexenprozesse in Franken, 1957, Neudruck 1963; Nörr, K., Naturrecht und Zivilprozess, 1976; Oestmann, P., Hexenprozesse am Reichskammergericht, 1997; Oestmann, P., Rechtsvielfalt vor Gericht, 2002; Pätzold, G., Die Marburger Juristenfakultät als Spruchkollegium, 1966; Ranieri, F., Die Inanspruchnahme des Reichskammergerichts in den ersten Jahrzehnten seiner Tätigkeit, ZNR 1982; Regge, J., Kabinettsjustiz in Preußen, 1977; Rüping, H., Der Grundsatz des rechtlichen Gehörs, 1976; Schormann, G., Hexenprozesse in Deutschland, 1981; Schott, C., Rat und Spruch der Juristenfakultät Freiburg im Breisgau, 1965; Schulte, J., Die Entwickung der Eventualmaxime, 1980; Sellert, W., Prozessgrundsätze und Stilus Curiae am Reichshofrat, 1973; Sellert, W., Zur Geschichte der rationalen Urteilsbegründung gegenüber den Parteien, in: Recht, Gericht, Genossenschaft und Policey, 1986, 97; Wesener, G., Das innerösterreichische Landschrannenverfahren im 16. und 17. Jahrhundert, 1963
4. Strafe
a) Gesetzliche Grundlage der Strafen wird die Peinliche Gerichtsordnung Karls V., zu der zahlreiche Polizeiordnungen hinzutreten. Strafzwecke scheinen der Carolina vor allem Vergeltung und Unschädlichmachung zu sein. Im 18. Jh. bewirkt die Aufklärung dagegen ein verstärktes Suchen nach rationalen Strafzwecken (Christian Thomasius [1655-1728], Cesare Beccaria [1738-1794, Mailand, zu Österreich gehörig], Dei delitti e delle pene, Von Delikten und Strafen, 1764 [Sozialschädlichkeit als Ansatzpunkt], Karl Ferdinand Hommel [Leipzig 1722-1781]).
In Österreich folgt den älteren örtlichen Halsgerichtsordnungen und der zwar Tatbestände genau festlegenden, aber im Übrigen durchaus herkömmlichen Constitutio Criminalis Theresiana (theresianisches Strafgesetzbuch) von 1768 als erstes reines Strafgesetzbuch 1787 das aufgeklärter wirkende Allgemeine Gesetzbuch über Verbrechen und deren Bestrafung (ohne Todesstrafe im ordentlichen Verfahren), sowie (1796 in Westgalizien und) 1803 (allgemein in Österreich) das mildere, bis 1975 geltende Strafgesetz über Verbrechen und schwere Polizeiübertretungen.
b) Unter dem Einfluss der römisch-kanonischen, in Oberitalien geformten Lehren enthält die Constitutio Criminalis Carolina (1532) erste Ansätze zu einem allgemeinen Teil des Strafrechts.
Insbesondere wird nur die schuldhafte Handlung einschließlich der Unterlassung im Gegensatz zum bloß zufälligen Erfolg erfasst. Vorsatz und Fahrlässigkeit (Wort seit E. 15. Jh. belegt) werden unterschiedlich behandelt. Daneben wird der Versuch als solcher gesehen und die Notwehr als Grund für Straflosigkeit anerkannt.
c) Die besonderen Tatbestände werden teilweise genauer beschrieben. Allerdings wird andererseits die analoge Anwendung der einzelnen Rechtssätze zugelassen (anders 1787 im Allgemeinen Gesetzbuch über Verbrechen und derselben Bestrafung bzw. 1803 im Strafgesetz in Österreich). Stärker hervor treten insgesamt vor allem das Majestätsverbrechen (lat. crimen laesae maiestatis) und die Hexerei (lat. maleficium), die aber vereinzelt bereits im 16. Jh. vom Tatsächlichen her bezweifelt wird (Weyer, J., De praestigiis daemonum [Von den Blendwerken böser Geister], 1563) und im 18. Jh. als Straftat wieder verschwindet. Seit dem 16. Jh. erscheint der Betrug, seit dem 18. Jh. die klare Trennung von Diebstahl und Unterschlagung. Mord ist die vorbedachte Tötung, Raub die gewaltsame Entwendung. Körperverletzung und tätliche Beleidigung werden getrennt.
d) Wichtigste Strafen sind die Todesstrafe in ihren vielerlei Formen (Verbrennen, Enthaupten, Vierteilen, Rädern, Hängen, Ertränken, Lebendigbegraben), die Leibesstrafe, die Ehrenstrafe (Pranger, Infamie), die Landesverweisung, die Galeerenstrafe [Zwangsrudern auf Galeeren], die Vermögenseinziehung sowie als bürgerliche Strafe die Geldbuße an den Verletzten und nach Polizeirecht die Geldstrafe. Freiheitsstrafe bzw. Gefängnisstrafe erscheinen allgemein erst, als unter dem Einfluss der Aufklärung die eher kostspielige Erziehung von Straftätern zur Arbeit (Zuchthaus, Bridewell bei London 1555 für Arbeitsscheue und Bettler, Amsterdam 1595) als sinnvoll angesehen wird. Die Acht verschwindet. Die Ablösbarkeit der peinlichen Strafe durch Geldleistung endet. Leopolds II. Criminalgesetzbuch für die Toskana (1786) kennt die Todesstrafe bereits nicht mehr.
Der Richter kann die Strafe der Höhe nach mildern (z. B. bei Versuch, Fahrlässigkeit usw.). Er kann in besonderen Fällen die Strafe aber auch schärfen (ausgenommen die Verhängung einer vom Gesetz nicht vorgesehenen Todesstrafe). Die Aufklärung wünscht allgemein eher Strafmilderung.
Eigene Vorlesungen für das Strafrecht sind in Bologna seit 1509 und in Padua seit 1540 sowie an einzelnen deutschen Universitäten seit der Mitte des 16. Jahrhunderts bezeugt. Erste Ansätze zu einem allgemeinen Teil des Strafrechts bietet A. Matthaeus (De criminibus, 1644).Lehrbuchartig dargestellt wird das gesamte Strafrecht in Deutschland zuerst von J. S. F. Böhmer († 1772) und C. F. G. Meister († 1782).
Lit.: Doleich von Dolsberg, F., Die Entstehung der Freiheitsstrafe, 1928, Neudruck 1970; Lange, K., Gesellschaft und Kriminalität. Räuberbanden im 18. und frühen 19. Jahrhundert, 1994; Schaffstein, F., Die allgemeinen Lehren vom Verbrechen in ihrer Entwicklung durch die Wissenschaft des gemeinen Strafrechts, 1930, Neudruck 1973; Schaffstein, F., Die europäische Strafrechtswissenschaft im Zeitalter des Humanismus, 1954; Schaffstein, F., Studien zur Entwicklung der Deliktstatbestände im gemeinen deutschen Strafrecht, 1985
5. Kirche
Die Aufklärung führt zur allmählichen Trennung von geistlich-religiöser und weltlich-politischer Ordnung. Die christlichen Religionen werden Religionsgesellschaften. Die Religionsfreiheit wird ansatzweise zu einem Recht verfestigt.
In Österreich bewilligt das Toleranzpatent Josephs II. von 1781 die private Religionsausübung für Protestanten und nicht unierte orthodoxe Griechen (ähnlich 1782 für Juden). 1781 wird weiter die Aufhebung aller (etwa 800) Klöster angeordnet.
III. Privater Bereich
Stärker als auf allen anderen Rechtsgebieten wirkt sich im Privatrecht die Rezeption des römischen Rechts aus, obwohl sie nicht alle seine Teile gleichmäßig erfasst und manche Veränderung vor allem auf Grund der wirtschaftlich-sozialen Entwicklungen auch ohne das römische Recht in ähnlicher Weise eingetreten wäre. Zu der Vermischung des einheimischen mit dem fremden Recht treten deren jeweilige Fortbildungen hinzu. Zusammen mit den Schöpfungen des systematisierenden Vernunftsrechts entsteht daraus trotz Vorherrschens des römischen Rechts in der wissenschaftlichen und praktischen Literatur eine noch kaum entwirrte Gemengelage der verschiedensten Rechtssätze unterschiedlichster Herkunft und Qualität.
Allgemein ist dabei als erstes festzustellen, dass das Vernunftrecht vor allem erste Ansätze zu einer systematischen Gliederung des Privatrechts erarbeitet (Samuel Pufendorf 1632-1694, Joachim Georg Darjes 1714-1791, Daniel Nettelbladt 1719-1791).
Lit.: Buchda, G., Das Privatrecht Immanuel Kants, 1929; Dubischar, R., Über die Grundlagen der schulsystematischen Zweiteilung der Rechte in sog. absolute und relative, 1961 (Diss.); Elsener, F., Die Schweizer Rechtsschulen vom 16. bis zum 19. Jahrhundert, unter besonderer Berücksichtigung des Privatrechtes, 1975; Lipp, M., Die Bedeutung des Naturrechts für die Ausbildung der Allgemeinen Lehren des deutschen Privatrechts, 1980; Otte, G., Das Privatrecht bei Francisco de Vitoria, 1964; Schmelzeisen, K., Polizeiordnungen und Privatrecht, 1955; Schwarz, A., Zur Entstehung des modernen Pandektensystems, ZRG RA 42 (1921), 578; Vogel, W., Franz Hotman und die Privatrechtswissenschaft seiner Zeit, 1960; Wüllner, W., Zivilrecht und Zivilrechtspflege in den westlichen Teilen Westfalens am Ende des 18. Jahrhunderts, 1964
1. Person
a) Einzelne Person
Die ständische Verschiedenheit der Menschen bleibt erhalten. Die Aufnahme des römischen Statusrechts und damit auch die Ausdehnung des Rechts der Sklaven etwa auf einheimische Leibeigene wird abgelehnt. Das Vernunftrecht sieht den Menschen als soziales Wesen, dem Gleichheit und Freiheit zukommen. Es strebt den Schutz der Persönlichkeit an (Persönlichkeitsrecht, z. B. Christian Thomasius 1655-1728, Christian Wolff 1679-1754) und lässt die Rechtsfähigkeit ohne weiteres durch Geburt entstehen.
Nach § 16 ABGB ist der Mensch Träger von Rechten und Pflichten, die ihm angeboren sind, und nach § 18 ABGB Träger von Rechten und Pflichten, die er erwirbt.
Die Rechtsfähigkeit endet mit dem Tod. Verschollenheit (längere Zeit unbekannter Aufenthaltsort) ermöglicht bei Ablauf gewisser Fristen (schlesisches System) oder Erreichen eines bestimmten Alters (sächsisches System) ein Aufgebotsverfahren und danach eine Todesvermutung.
Die Stellung der Frau verschlechtert sich durch den Einfluss des römischen Rechts und die im 18. Jh. wachsenden wirtschaftlichen Erwerbsschwierigkeiten (Pauperismus). Das Vernunftrecht strebt zwar aus grundsätzlichen Erwägungen heraus Verbesserungen an und hebt die Geschlechtsvormundschaft über unverheiratete Frauen auf (ALR), lässt aber in der Ehe die Frau dem Mann noch eindeutig (freiwillig) untergeordnet.
Das Kind wird entsprechend dem römischen Recht meist bis zu sieben Jahren als geschäftsunfähig angesehen. Danach kann es ohne Mitwirkung des gesetzlichen Vertreters zwar Rechte erwerben, nicht jedoch Verpflichtungen oder Veräußerungen vornehmen; vielmehr muss der gesetzliche Vertreter an seiner Statt handeln. Die Aufklärung betont im Gegensatz zur den älteren Begriff der munt ersetzenden Herrschaftsgewalt (lat. potestas) über das Kind bereits die Sorgepflicht der Eltern. Dementsprechend soll die väterliche Gewalt nicht mit der Abschichtung, sondern mit der Volljährigkeit, die den älteren Begriff der Mündigkeit verdrängt, enden. Das Kind wird meist mit 25 (ABGB 24) Jahren volljährig.
Die römische Hausgewalt wird nicht übernommen. Die in ganz Deutschland geübte Lösung des Haussohns aus der väterlichen Gewalt durch wirtschaftliche Verselbständigung (Abschichtung) wird lateinisch als emancipatio Saxonica (sächsische Emanzipation) bezeichnet. Für das nichteheliche Kind wird meist ein Unterhaltsanspruch - evtl. auch ein Erbrecht - gegen den Erzeuger anerkannt, der bei Erhebung der Einrede des Mehrverkehrs teilweise als Gemeinschaftsschuld aller in Betracht kommenden Väter gestaltet wird. Möglich wird die Adoption (Zasius 1461-1535, ALR 1794). Verschiedentlich spricht man von natürlicher Verwandtschaft (ALR). Das Vernunftrecht neigt zur grundsätzlichen Gleichstellung unehelicher Kinder mit ehelichen Kindern.
Das römische Vormundschaftsrecht wird teilweise ziemlich früh aufgenommen. Seinen Schwächen wird durch gestaltende Regelungen abgeholfen. Der Staat beansprucht eine allgemeine Aufsichtszuständigkeit (Obervormundschaft).
Am Ende der frühen Neuzeit wird durch den Staat die ursprüngliche Freiheit des Einzelnen zur Namensänderung beseitigt.
b) Verbandsperson
Die theoretische Verfestigung einer von den Mitgliedern abstrahierten eigenen Verbandsperson wird vom Vernunftrecht fortgesetzt. Man spricht jetzt lateinisch von einer persona moralis (moralischen Person) oder persona mystica (mystischen Person). Sie ist Träger eigener Rechte und Pflichten, wird aber im Innenverhältnis als Gesellschaft angesehen, so dass sie insgesamt keine von den Gliedern völlig gelöste Einheit darstellt. In der Rechtswirklichkeit macht der Staat ihre Entstehung von einem besonderen Privileg abhängig (Oktroisystem).
Lit.: Güde, W., Die rechtliche Stellung der Juden in den Schriften der deutschen Juristen des 16. und 17. Jahrhunderts, 1982; Hermann, F., Der Schutz der Persönlichkeit in der Rechtslehre des 16. bis 18. Jahrhunderts, 1963; Krause, E., Die gegenseitigen Unterhaltsansprüche zwischen Eltern und Kindern, 1982; Pleimes, D., Weltliches Stiftungsrecht, 1939; Schröder, R., Das Gesinde, 1992; Schubart-Fikentscher, G., Die Unehelichen-Frage in der Frühzeit der Aufklärung, 1967
2. Ehe
Das Eherecht bleibt bis in das 18. Jh. überwiegend kirchliches Recht, doch bewirkt die Aufklärung gewisse Wandlungen.
a) Für die Eheschließung schreibt die katholische Kirche zur Beweissicherung seit 1563 (Konzil von Trient) das öffentliche Aufgebot und die Anwesenheit des Priesters bei der Abgabe der Erklärungen der Brautleute vor. Die protestantischen Kirchen fordern die kirchliche Trauung wenig später. Fast zur selben Zeit wird zuerst in den Niederlanden (1580), später allgemeiner als Folge der Aufklärung, welche die Ehe als natürliche Gesellschaft (lat. societas naturalis) ansieht, die Eheschließung vor einer staatlichen Stelle zugelassen (fakultative Zivilehe, Frankreich 1787 für Protestanten), in England 1653 für kurze Zeit sogar vorgeschrieben (obligatorische Zivilehe, Frankreich 1792). In Österreich erklärt das Ehepatent von 1783 die Ehe zu einem weltlichen (bürgerlichen) Vertrag. Die Geistlichen sollen sich bei der Trauung in erster Linie als Staatsdiener verstehen, die staatliches Recht anwenden. Inhaltlich ist das josephinische Eherecht konfessionelles, für Katholiken mit dem bisherigen kirchlichen Eherecht weitgehend gleiches Eherecht.
Der Konkubinat wird förmlich verboten (1530).
b) Neben das kirchliche Ehehindernisrecht tritt schrittweise ein staatliches, das bestimmte kanonische Ehehindernisse aufgibt (1783 Österreich [anders dann wieder seit 1855]).
c) Die Ehescheidung wird von den protestantischen Kirchen, welche die Sakramentsnatur der Ehe nicht anerkennen, zugelassen. Die Aufklärung sieht dann die Ehe überhaupt als einen zur Verfügung der beteiligten Parteien stehenden Vertrag. Deshalb lässt sie teilweise die Scheidung in den Fällen der unüberwindlichen Abneigung sowie des gegenseitigen Einverständnisses zu.
In Österreich gestattet das Ehepatent von 1783 den staatlichen Gerichten nur die »Trennung von Tisch und Bett«.
d) Das Ehegüterrecht ist weiter sehr verschieden. Das römische Dotalsystem setzt sich selbst in abgewandelten Formen nur in ziemlich wenigen Gebieten durch (z. B. Braunschweig, Kurhessen). Die vernunftrechtlichen Kodifikationen (ALR, Cc, ABGB) behandeln nur gewisse Regelgüterstände (Verwaltungsgemeinschaft, Gütertrennung, Fahrnisgemeinschaft). In Österreich sieht § 1237 ABGB Gütertrennung vor, die aber infolge verschiedener unklarer Vermutungen inhaltlich als »vermutete« Verwaltungsgemeinschaft verstanden wird.
Lit.: Buchholz, S., Recht, Religion und Ehe, 1988; Erle, E., Die Ehe im Naturrecht des 17. Jahrhunderts, 1952; Giesen, D., Grundlagen und Entwicklung des englischen Eherechts in der Neuzeit, 1975; Goody, J., Die Entwicklung von Ehe und Familie in Europa, 1990; Schwab, D., Grundlagen und Gestalt der staatlichen Ehegesetzgebung in der Neuzeit, 1967
3. Erbe
Das Erbrecht wird nicht tiefgreifend umgestaltet.
a) Beim Tod des Erblassers geht das Vermögen teils ohne weiteres, teils nur nach besonderem Erbschaftsantritt oder Nachlassverfahren mit Erbserklärung (Österreich) auf den Erben über. Mehrere Erben erwerben als Erbengemeinschaft. Der Erbe haftet grundsätzlich mit seinem gesamten Vermögen, kann sich aber auf die justinianische Rechtswohltat des Inventars berufen. Seine daraus folgende Beschränkung der Haftung bezieht sich auf die tatsächlichen Nachlassstücke (lat. cum viribus hereditatis, mit den Mitteln der Erbschaft), nicht ihren Wert (lat. pro viribus hereditatis, für die Mittel der Erbschaft).
b) Das Sondererbrecht an einzelnen Erbschaftsgegenständen (Gerade, Hergewäte) wird unter römischrechtlichem Einfluss zurückgedrängt. Andererseits nehmen aber die Familienfideikommisse des niederen Adels und die damit verbundenen Sondererbfolgen des jeweils ältesten Sohnes seit der Mitte des 17. Jh. zu. Bauernhöfe fallen häufig an einen von mehreren Erben (Anerbenrecht z. B. des ältesten Sohnes oder des jüngsten Sohnes).
c) Die Erbfolge ist grundsätzlich Verwandtenerbfolge.
Übernommen wird vielfach die justinianische Erbfolge nach durch den Grad der Verwandtschaft bestimmten Klassen. Dagegen wird das Ehegattenerbrecht durch das römische Recht nicht beeinflusst. Später setzt sich weitgehend das von J. G. Darjes 1740/1753 auf römischrechtlicher Grundlage systematisch entwickelte Parentelensystem (Abkömmlinge des Erblassers, Eltern des Erblassers und deren Abkömmlinge, Großeltern des Erblassers und deren Abkömmlinge, Urgroßeltern des Erblassers und deren Abkömmlinge usw.) durch.
d) Das Testament wird allgemein zugelassen.
Es kann aber lehnsrechtliche und näherrechtliche Bindungen nicht endgültig verdrängen. Zu den justinianischen Formen des Testaments treten neue Formen hinzu (z. B. Testament vor Pfarrer oder 3 Zeugen). Eine besondere Erbeinsetzung ist anders als im römischen Recht nicht (mehr) erforderlich. Möglich ist ein Vermächtnis. Das justinianische Pflichtteilsrecht naher im Testament übergangener Erben als Ausgleich der Testierfreiheit wird übernommen. Der Erbvertrag wird nach zeitweiliger erfolgloser Ablehnung durch die Rechtswissenschaft schließlich anerkannt, teilweise aber auf Ehegatten beschränkt.
Lit.: Bayer, B., Sukzession und Freiheit, 1999; Harder, M., Zuwendungen unter Lebenden auf den Todesfall, 1968; Immel, G., Die höchstpersönliche Willensentscheidung des Erblassers, 1965; Tschäppeler, H., Die Testierfähigkeit, 1983; Wesener, G., Geschichte des Erbrechts in Österreich seit der Rezeption, 1957; Wesener, G., Zur Lehre vom Erbvertrag im deutschen usus modernus pandectarum und im Naturrecht, in: Wege europäischer Rechtsgeschichte, hg. v. Köbler, G., 1987, 607
4. Sachen
Das Sachenrecht wird sowohl durch das römische Recht wie auch durch das Vernunftrecht, das einen sehr weiten Sachbegriff annimmt, verändert.
a) Die einheimische Gewere und die römische possessio (Besitz) werden verschmolzen, wobei die sachlichen Inhalte der Gewere trotz der Verdrängung der Bezeichnung durch das neuere Wort Besitz im Wesentlichen erhalten bleiben.
Dementsprechend wird auch dem Gewalthaber ohne Eigentümerwillen (lat. animus domini) Besitz und nicht nur bloße Innehabung zugestanden (z. B. Mieter, Pächter, anders § 309 ABGB). Weiter sind mehrfacher (abgestufter) Besitz und unkörperlicher (ideeller) Besitz möglich. Schließlich wird unter vernunftrechtlichem Einfluss auf problematischer Quellengrundlage auch ein Rechtsbesitz (an allen Rechten, die eine dauernde Ausübung erlauben) anerkannt. Bei beweglichen Sachen begründet der Besitz eine Eigentumsvermutung (der Besitzer gilt bis zum Beweis des Gegenteils auch als Eigentümer).
b) Der Eigentumsbegriff wird unter dem Einfluss des vernunftrechtlichen Freiheitsbegriff ausschließender gefasst.
Allerdings wird die Teilung des Eigentums in ein Obereigentum und ein Untereigentum beibehalten (z. B. § 357 ABGB). Dagegen schwinden vor allem die verwandtschaftlichen Bindungen (Retraktrechte, Näherrechte z. B. der Verwandten) allmählich. Seit dem 17. Jh. wird über längere Zeit ein besonderes (lat.) dominium plurium in solidum (Gesamteigentum mehrerer) des Lehnsrechts und des Ehegüterrechts anerkannt, bei dem mehrere gemeinsam berechtigt sind und auch nur gemeinsam verfügen können. Gegenstand des Eigentums können nach vernunftrechtlicher Vorstellung außer Sachen auch Rechte sein.
Für den Erwerb der Sachen, der aus tatsächlichen Gründen (die meisten Sachen sind bereits Eigentum eines Menschen) immer seltener ursprünglich erfolgen kann, wird seit der Mitte des 16. Jh. die Lehre vom titulus acquirendi (Grund des Erwerbs) und modus acquirendi (Art des Erwerbs) entwickelt (Johannes Apel 1485-1536). Nach ihr stehen sich zwei Begriffe gegenüber, von denen der eine (titulus acquirendi) in sich alle rechtlichen Vorbedingungen des Erwerbs vereinigt (z. B. Kauf, Schenkung) und der andere (modus acquirendi) die wirkliche Sachherrschaft gewährleistet (Übergabe oder Übergabeersatz) (z. B. § 380 ABGB). Mit dem Abschluss etwa des Kaufes (titulus) wird dabei die Sache bereits mittelbar erworben.
Bei Grundstücken bleibt infolge der Übernahme des römischen Rechts nur in einigen Gebieten eine Eintragung in ein besonderes Buch erforderlich (z. B. Österreich). Anderwärts kommt sie ab. Auch die gerichtliche Auflassung erhält sich nur an manchen Orten (Sachsen).
Bei der Fahrnis wird durch Verbindung von deutschem Recht und römischem Recht (Hand wahre Hand, lat. actio Publiciana) der Eigentumserwerb des gutgläubigen Dritten vom Nichtberechtigten ermöglicht (nach dem ABGB aber nur in bestimmten Fällen). Danach kann jemand Eigentum erwerben, obwohl der Veräußerer nicht Eigentümer ist. Voraussetzung ist aber, dass der Erwerber glaubt, dass der Veräußerer Eigentümer ist.
Die romanistische Ersitzung verdrängt die Verschweigung.
Eine Enteignung ist gegen Entschädigung zulässig (Hugo Grotius 1583-1645, §§ 74, 75 Einleitung zum ALR, § 365 ABGB).
c) Die beschränkten dinglichen Nutzungsrechte, vor allem am Boden, bleiben in ihrer großen Vielfalt erhalten, werden aber teilweise vom römischen Recht beeinflusst und verschlechtern sich vor allem für die Bauern des Ostens.
Die römischen Regeln über Servituten werden in veränderter Form aufgenommen. Danach kann jede Nutzung beliebiger Art Gegenstand der Dienstbarkeit sein, darunter auch ein Tun (lat. servitus iuris Germanici, deutschrechtliche Dienstbarkeit). Außerdem kann die Dienstbarkeit auch dem Eigentümer der Sache selbst zustehen (Eigentümerdienstbarkeit).
d) Für das Pfand wird an manchen Orten die römischrechtliche Regelung (lat. pignus, hypotheca) aufgenommen. Da das römische Recht weder eine Übergabe der Sache noch eine Eintragung der Verpfändung in ein öffentliches Buch kennt, verliert die Verpfändung ihre Öffentlichkeitswirkung. Der darausfolgende Missbrauch schädigt zusammen mit den ebenfalls rezipierten römischrechtlichen Generalhypotheken den Realkredit rasch in erheblichem Maß. Dem kann nur durch gesetzliche Maßnahmen abgeholfen werden. Diese schreiben besondere Grundbücher und Hypothekenbücher vor, aus denen sich die jeweiligen Belastungen wenigstens der Liegenschaften ablesen lassen (Berlin 1693, Preußen 1722, 1783).
Für bewegliche Sachen kehren die vernunftrechtlichen Kodifikationen (ALR 1794, Cc 1804, ABGB 1811/1812) zum Faustpfandprinzip (tatsächliche Übergabe an den Pfandgläubiger) zurück.
e) Das (lat.) ius ad rem (Recht auf die Sache) wird übernommen. Es wird zu dem allgemeinen Grundsatz ausgebaut, dass der spätere dingliche Erwerber einer Sache dem früheren schuldrechtlichen Erwerber (z. B. Käufer), dessen Anspruch (ius ad rem) er kennt, weichen muss. In einzelnen Regelungen ist das ius ad rem in das preußische Allgemeine Landrecht (1794) eingegangen.
Lit.: Brandt, R., Eigentumstheorien von Grotius bis Kant, 1974; Dießelhorst, M., Zum Vermögensrechtssystem Samuel Pufendorfs, 1976; Eigentum und Verfassung, hg. v. Vierhaus, R., 1972; Grossi, P., Il dominio e le cose, 1992; Hinz, W., Die Entwicklung des gutgläubigen Fahrniserwerbs, 1991; Hübner, H., Der Rechtsverlust im Mobiliarsachenrecht, 1955; Klemm, P., Eigentum und Eigentumsbeschränkungen in der Doktrin des usus modernus pandectarum, 1984; Wacke, A., Das Besitzkonstitut, 1974; Wagner, H., Das geteilte Eigentum in Naturrecht und Positivismus, 1938
5. Schulden
Das Schuldrecht wird, weil das römische Schuldrecht von den römischen Sachverständigen der Jurisprudenz am stärksten durchgearbeitet und verfeinert worden ist und wohl die wirtschaftlichen Verhältnisse der frühen Neuzeit denen des römischen Weltreichs in mancher Hinsicht ähneln, in starkem Maße romanisiert.
a) An allgemeinen Lehren wird zunächst die Einteilung der Schulden nach dem Entstehungsgrund (Kontrakt, Quasikontrakt, Delikt, Quasidelikt) aus dem spätrömischen Recht übernommen. Bei den Kontrakten bzw. Verträgen setzt sich die von der Kanonistik entwickelte Lehre vom formlosen pactum (Gedinge, Vertrag), die auch durch das Vernunftrecht unterstützt wird, im 16. und 17. Jh. weitgehend durch (z. B. auch § 883 ABGB).
Die feinen Einzelunterscheidungen des römischen Rechts (Typengebundenheit) werden dagegen als überholt angesehen (Typenfreiheit), wobei allerdings zugleich eine Gliederung etwa in freigiebige, belastende und gemischte Geschäfte vorgeschlagen wird. Genügend für die Vereinbarung (lat. pactum) sind grundsätzlich Angebot und Annahme, wozu beim Realvertrag noch die tatsächliche Hingabe kommt. Der Konsens muss verbindlich, gegenseitig, wahr, vollkommen und ausdrücklich erklärt (lat. obligatorius, mutuus, verus et perfectus, expresse declaratus) sein.
Das bloße einseitige Versprechen bindet grundsätzlich nicht. Der besondere Wortformalismus der Stipulation wird von Anfang an verworfen. Sittenwidrigkeit macht das Geschäft wegen Verstoßes gegen das Vernunftrecht unwirksam. Formalvertrag und Arrhalvertrag verschwinden. An den Vertrag bleibt man grundsätzlich gebunden (lat. pacta sunt servanda), doch führt das Vernunftrecht für den Fall der Vertragsuntreue des Gegners ein Rücktrittsrecht ein.
Im Vernunftrecht beginnt die Ausbildung der Lehren vom actus iuridicus (Rechtsgeschäft) und von der declaratio voluntatis (Willenserklärung) als allgemeiner Grundfiguren.
Für die Leistungsstörungen werden grundsätzlich die römischen Regeln übernommen. Allerdings dehnt Hugo Donellus (1527-1591) den anfangs nur sehr begrenzt bedeutsamen lateinischen Satz impossibilium nulla est obligatio (Zu Unmöglichem besteht keine Verpflichtung) ausdrücklich auf alle Verträge aus und erweitert Samuel Pufendorf (1632-1694) die zunächst nur für die besonderen Innominatkontrakte (unbenannten Verträge) anerkannten Regeln über die nachträgliche Unmöglichkeit im gegenseitigen Vertrag auf alle Verträge. Das preußische Allgemeine Landrecht (1794) enthält dann eine erste systematische Regelung der Unmöglichkeit als Leistungsstörung (vgl. auch § 920 ABGB [1811/1812]).
Der römische Grundsatz, dass einem Dritten kein Versprechen begründet werden kann (lat. alteri stipulari nemo potest), wird zwar anfangs übernommen. Hugo Grotius (1583-1645) stellt dann aber auf Grund allgemeiner Überlegungen die Sätze auf, dass erstens durch Annahme eines Versprechens im eigenen Namen für einen anderen der Annehmende das Recht erlangt, dass der Versprechende an den anderen - der im übrigen durch seinen Beitritt ein eigenes Recht erwerben kann - leistet (»unechter Vertrag zugunsten Dritter«), und dass zweitens durch Annahme eines Verspreches in fremdem Namen ein Dritter Vertragspartei wird, falls der Annehmende vom Dritten einen diesbezüglichen Auftrag erhalten hat (Vertretung). Diese vernunftrechtlichen Lehren gehen teilweise in die vernunftrechtlichen Gesetzbücher (Kodifikationen) ein.
Die Übertragung einer bestehenden Forderung von einem bisherigen Gläubiger auf einen neuen Gläubiger wird entsprechend dem römischen Recht anfangs vielfach ausgeschlossen. Andererseits wird sie etwa von Johann Schilter (1632-1705), der eine Rezeption insofern verneint, mit dem älteren deutschen Recht anerkannt. Das Vernunftrecht betrachtet die Forderung als Vermögensgegenstand, der ohne weiteres übertragbar ist (vgl. auch die §§ 1392ff. ABGB).
Zur Beendigung der Schuld genügt eine formlose Erklärung, weshalb die römische acceptilatio (Empfangnahme) nicht aufgenommen wird. Im Übrigen kann die Schuld außer durch Leistung des Geschuldeten seitens des Schuldners infolge zahlreicher, weniger wichtiger Gründe erlöschen (z. B. Aufrechnung).
b) Bei den einzelnen Schuldgründen (Schuldverhältnissen) dringt ebenfalls teilweise das römische Recht ein.
Der Kauf, der auf Grund der wirtschaftlichen Veränderungen (Geldwirtschaft, Marktwirtschaft) wieder zum häufigsten Geschäft wird, dient der Wissenschaft zunächst dazu, das bedeutsame allgemeine Problem des Irrtums zu erörtern.
Dabei unterscheidet das gemeine Recht für den Inhaltsirrtum die Fallgruppen des (lat.) error in negotio, error in obiecto, error in persona und error in nomine (Irrtum in Geschäftsart, Geschäftsgegenstand, Geschäftsgegner, Geschäftsbezeichnung). Das Vernunftrecht hält den Irrtum teils grundsätzlich für unbeachtlich (Wiguläus Kreittmayr 1705-1790), teils grundsätzlich für bedeutsam (ALR 1794) (vgl. auch die §§ 870f. ABGB).
Der Verkäufer ist anfangs verpflichtet, den Käufer vor Ansprüchen Dritter (Mängel der Sache bezüglich des Rechts, Rechtsmängel) zu schützen, seit dem Ende des 18. Jh. dazu, unbedingt das Eigentum zu verschaffen (vgl. die §§ 1053ff. ABGB). Für Sachmängel setzt sich die Regelung des ädilizischen Edikts, die den Käufer zu Wandelung (Vertragsauflösung unter Rückgewähr bereits erbrachter Leistungen) und Minderung (Herbsetzung des Entgelts bei Fortbestehen des Vertrags) beim bloßen Vorliegen von Mängeln der Kaufsache unabhängig von einem Verschulden des Verkäufers berechtigt, auf Grund der vom Vernunftrecht unterstützten Zielsetzung vom Gleichgewicht zwischen Leistung und Gegenleistung allmählich durch. Ausgenommen bleibt der im Mittelalter käufergünstig behandelte Viehkauf, dessen Berücksichtigung von Hauptmängeln nunmehr zu einer Einschränkung im Vergleich zur neuen Sachmangelregelung bei sonstigen Käufen wird, die im Ergebnis den Verkäufer besser stellt. Erhalten bleiben die Mindestanforderungen an einen gerechten Kaufpreis (lat. laesio enormis).
Bei den übrigen Verträgen dringen ebenfalls verschiedene römischrechtliche Gedanken ein. Nicht verdrängt werden kann allerdings etwa der Satz, dass Kauf nicht Miete bricht. Von den Diensten werden auch die höheren Dienste entgeltlich.
Für das Darlehen wird der allmähliche Wegfall des kanonischen Zinsverbotes bedeutsam. Es wird zunächst durch gesetzliche Höchstzinssätze ersetzt (1654 6%). Im Übrigen bewirkt die wirtschaftliche Entwicklung (Geldwirtschaft, Pauperismus) eine starke Ausweitung der Darlehen.
Von den Kondiktionen, welche die Glossatoren erstmals fest mit dem Prinzip der Beschränkung der Herausgabepflicht des Bereicherten auf die noch vorhandene Bereicherung (lat. in quo factus est locupletior, bezüglich wessen er reicher geworden ist) zu verbinden versucht hatten, erscheint der Fall der (lat.) condictio indebiti (Kondiktion einer Nichtschuld) bereits in der Wormser Stadtrechtsreformation von 1499.
Von Hugo Grotius (1583-1645) wird dann der allgemeine Grundsatz aufgestellt, dass jemand, der aus der Sache eines anderen, der sie nicht mehr hat, reicher geworden ist, herauszugeben hat, worum er reicher sei. Die Kodifikationen (ALR 1794, Cc 1804, ABGB 1811/1812) beschränken sich demgegenüber vor allem auf die Regelung der Kondiktion wegen Nichtschuld (lat. condictio indebiti).
c) Bei den Delikten, bei denen sich schon im mittelalterlichen kanonischen Recht die Vererblichkeit der Schadensersatzansprüche durchsetzt, werden die römischen Regeln in vielfach abgewandelter Form übernommen.
So wird etwa die (lat.) lex Aquilia (aquilisches Gesetz) bald für jeden Vermögensschaden verwendet. Weiter wird seit dem 17. Jh. unter Fortführung einheimischer Vorstellungen auch der immaterielle Schaden (z. B. Entstellung und Schmerzen bei Körperverletzung, vgl. die §§ 1325, 1331 ABGB) ersetzt. Die besondere Art der Schadensberechnung, die kumulative Haftung mehrerer Schädiger, die Unvererblichkeit der Ersatzansprüche, die Litiskreszenz und die Dreiteilung der actio legis Aquiliae in actio directa, actio utilis und actio in factum werden von Anfang an als römische Eigentümlichkeiten nicht rezipiert. Zugelassen wird die Wiederherstellung des früheren Zustandes (Naturalrestitution) (vgl. die §§ 1323ff. ABGB).
Im Vernunftrecht (Hugo Grotius 1583-1645, Samuel Pufendorf 1632-1694) wird im Übrigen - wohl auch in Fortführung hochmittelalterlicher, kirchenrechtlicher Gedanken - ein allgemeiner Satz gefordert, dass jede unerlaubte (schuldhafte) Schädigung zu Ersatz verpflichte, wobei allerdings in Übereinstimmung mit dem spätrömischen Recht für verschiedene Geschäfte ein unterschiedliches Maß von Schuld verlangt wird, das seinerseits auf die Nützlichkeit des Geschäfts für den Handelnden abstellt (Utilitätsprinzip). Das preußische Allgemeine Landrecht (1794) stuft dann die Höhe des Ersatzes nach der Schuld (Vorsatz und grobes Versehen, mäßiges Versehen, geringes Versehen) ab. Daneben kommt das Einstehenmüssen ohne jedes Verschulden teilweise sogar bei den von Tieren verursachten Schäden in Wegfall.
Vom preußischen Allgemeinen Landrecht (1794) wird schließlich allgemein die Selbsthilfe verboten(, vgl. auch § 344 ABGB).
d) Wenig berührt vom römischen Recht werden die in den römischen Quellen kaum erörterten Angelegenheiten des Handelsverkehrs. Das Recht des Handels wird, nachdem sich schon königliche Verordnungen in Frankreich (1673, 1681) und Wiguläus Kreittmayr (1705-1790) in seinenAnmerkungen mit ihm befasst hatten, erstmals im preußischen Allgemeinen Landrecht (1794) systematisch geregelt.
Danach ist Kaufmann außer dem Händler auch der Fabrikant. Auch eine Frau kann Kaufmann sein und ist dann freier gestellt als andere Frauen. Die Handelsleute dürfen in Handelssachen Beweis durch die Handelsbücher führen.
In der Rechtswirklichkeit schließen sich Kaufleute zur Ausbeutung der durch den wirtschaftlichen Aufschwung vergrößerten Gewinnmöglichkeiten immer öfter zu Gesellschaften zusammen, wobei jetzt auch die Aktiengesellschaft entsteht.
Im Einzelnen bilden sich zunächst die verschiedenen Typen der Handelsgesellschaft mit unbeschränkter Haftung (offene Handelsgesellschaft) und (teilweise) beschränkter Haftung (Kommanditgesellschaft, stille Gesellschaft) der Gesellschafter stärker durch. Seit dem 17. Jh. (1602 Niederländisch-ostindische Handelskompagnie) schließen sich Kaufleute zur Aufbringung besonders großer Gesamtkapitalien zu Gesellschaften mit beständigem Kapital und Veräußerungsmöglichkeit der Anteile sowie meist beschränkter Haftung zusammen, die Rechtsfähigkeit durch Privileg (Oktroisystem) erlangen.
Von den Wertpapieren breitet sich vor allem der Wechsel aus.
Seit dem Ende des 16. Jh. kann er durch eine besondere Form (Indossament, d. h. Vermerk [lat.] in dorso, auf dem Rücken [des Papiers]) leicht weitergegeben werden. Die durch ihn entstehenden Fragen werden später in zahlreichen partikularen Wechselordnungen in verwirrender Vielfalt geregelt.
Die Versicherung von Schadensrisiken gewinnt an Verbreitung.
Sie geht auf mittelalterliche Vorläufer zurück, die schon die gemeinsame Deckung von einzelnen Diebstahlsschäden und Brandschäden, Beerdigungskosten und Lösegeldsummen sowie in Italien seit dem 14. Jh. von Schiffsverlusten kennen. In Italien finden sich im 15. Jh. erste wissenschaftliche Erörterungen zur Versicherung (lat. assecuratio) als einer Ausnahme vom kanonischen Zinsverbot. Seit dem 17. Jh. wird die Lebensversicherung möglich. Dabei tritt neben das genossenschaftliche Gegenseitigkeitsprinzip mit seiner anteiligen Aufbringung der Schadenssumme bald die unternehmerische Versicherung in Form der Aktiengesellschaft, in welcher der Unternehmer das eigentliche Risiko des Ausgleichs von Schäden und Entgelten trägt. Der absolute Staat führt schließlich zur Sicherung der allgemeinen Wohlfahrt auch Zwangsversicherungen (z. B. gegen Feuer) ein.
Im Bergrecht entwickeln sich verschiedene rechtliche Besonderheiten.
Aus dem ursprünglichen Bergregal des Königs bzw. des Landesherrn wird die Bergbaufreiheit, die der merkantilistisch denkende Fürst aber wieder zurückdrängt. Die Bergbauunternehmer arbeiten als bergrechtliche Gewerkschaft (Genossenschaft) mit Kuxen als Anteilen. Dem Schutz der Bergarbeiter dienen besondere Regelungen.
Lit.: Bar, C./Dopffel, P., Deutsches Internationales Privatrecht im 16. und 17. Jahrhundert, 1995; Becker, C., Die Lehre von der laesio enormis, 1993; Dießelhorst, M., Die Lehre des Hugo Grotius vom Versprechen, 1959; Greiser, P., Der Kauf nach deutschen Landrechten der Rezeptionszeit, 1965 (Diss.); Haupt, P., Die Entwicklung der Lehre vom Irrtum beim Rechtsgeschäft seit der Rezeption, 1941; Luig, K., Zur Geschichte der Zessionslehre, 1966; Lutz, E., Die rechtliche Struktur süddeutscher Handelsgesellschaften im Zeitalter der Fugger, Bd. 1f. 1976; Kaufmann, H., Rezeption und usus modernus der actio legis Aquiliae, 1958; Klempt, W., Die Grundlagen der Sachmangelhaftung des Verkäufer, 1967; Ogris, W., Der mittelalterliche Leibrentenvertrag, 1964; Scherner, K., Anfänge einer Handelsrechtswissenschaft im 18. Jahrhundert, ZHR 136 (1972), 465; Scherner, K., Rücktrittsrecht wegen Nichterfüllung, 1965; Seiler, H., Die Systematik der einzelnen Schuldverhältnisse in der neueren Privatrechtsgeschichte, 1957 (Diss.); Vom Gewerbe zum Unternehmen, hg. v. Scherner, K./Willoweit, D., 1982; Wenn, H., Das Schuldrecht Pufendorfs, 1956 (Diss.); Wieling, H., Interesse und Privatstrafe vom Mittelalter bis zum Bürgerlichen Gesetzbuch, 1970; Wollschläger, C., Die Entstehung der Unmöglichkeitslehre, 1970
§ 7 Deutscher Bund (1815-1866) und kaiserliches zweites Reich (1871-1918)
A) Grundlagen
Zwischen 1800 und 1914 wächst die Bevölkerung in Deutschland bzw. im deutschen Sprachraum vor allem infolge der nun erheblich besseren medizinischen Versorgung von 23 über 56 (1900) auf 67 Millionen Menschen (in England von 11 auf 41, in Frankreich von 27 auf 40, in Russland von 38 auf 130 Millionen, wobei die Gesamtweltbevölkerung um 1820 etwa 1 Mrd. Menschen, 1850 1,241 Mrd. und um 1900 1,634 Mrd. beträgt). Von den Deutschen wohnen 1914 etwa 60 % in Orten mit mehr als 2000 Einwohnern und 25 % in Orten mit mehr als 100000 Einwohnern (Großstädten).
I. Politische Verhältnisse
Nach der durch Säkularisierung und Mediatisierung sowie den Zusammenbruch des Heiligen Römischen Reiches bewirkten Umordnung der politischen Verhältnisse wendet sich zunächst Preußen gegen den weiteren Aufstieg Frankreichs unter Napoleon und verliert nach der vernichtenden Niederlage bei Jena und Auerstedt (Oktober 1806) alle westelbischen Gebiete. Wenig später endet der weitere Widerstand Österreichs (1809, daneben der Tiroler Freiheitskampf Andreas Hofers gegen Bayern und Frankreich) ebenfalls mit weiteren einschneidenden Gebietsverlusten (Salzburg, Innviertel [an Bayern], Osttirol, Krain, Teile Kärntens und Kroatiens [an Frankreich bzw. Italien und Illyrien], Galizien [an das Großherzogtum Warschau bzw. Russland], österreichische Niederlande). Nach dem anschließenden kriegerischen Scheitern Napoleons in Russland, wo seit 1812 der Preuße Karl Freiherr vom Stein (1757-1831) als Berater des Zaren wirkt, erhebt sich freilich das durch innere Reformen gefestigte Preußen und besiegt gemeinsam mit Österreich und Russland in der Völkerschlacht bei Leipzig (1813) Napoleon, der anschließend nach Elba verbannt wird. Die Schlacht bei Waterloo (18. 6. 1815) beendet dann Napoleons Herrschaft nach seiner Rückkehr aus der Verbannung endgültig.
Auf dem Wiener Kongress (1815) wird auf Grund der geschickten französischen Verhandlungen und der Verwirklichung der Interessen des österreichischen Außenministers und späteren Staatskanzlers Metternich (1773-1859) nur das europäische Gleichgewicht auf dem gebietsmäßigen Stand von 1792 wiederhergestellt. Preußen erhält die Rheinprovinz und Westfalen, Österreich (Kaisertum Österreich als Gesamtstaatsbezeichnung für alle von Habsburg-Lothringen regierten Länder), das die schon 1797/1801 an Frankreich gelangten Reste der habsburgischen Niederlande (Gebiet von Belgien) an das Königreich der Niederlande und den Breisgau mit Freiburg an Baden verliert, Tirol, Vorarlberg, Salzburg, Kärnten, Krain, Triest, Galizien, Venedig (Venetien) und die Lombardei im Südosten und Süden. Im Nordwesten wird aus dem 1795 von Frankreich besetzten, 1806 in das Königreich Holland umgewandelten und 1810 von Frankreich annektierten Gebiet der niederländischen Generalstaaten und den früher habsburgischen Niederlanden sowie Lüttich das neue Königreich der Vereinigten Niederlande gebildet und auf dem Wiener Kongress anerkannt . Die nach Eroberungen Napoleons geschaffene italienische Republik bzw. das hieraus gebildete Königreich Italien Napoleons (1805) zerfällt wieder in seine früheren Einzelgebiete. Zugleich schließen sich entgegen den gedanklich auf der Aufklärung wie der französischen Revolution beruhenden nationalen Einigungsplänen der deutschen Freiheitsbewegungen, die am politischen Widerstand der einzelnen, seit 1806 selbständigen und nur an ihrer Souveränität interessierten deutschen Fürsten und der übrigen wichtigen europäischen Staaten scheitern, die deutschen Staaten in der Deutschen Bundesakte (nur) zum wohl schon seit September 1813 absehbaren, als unauflöslich vereinbarten Deutschen Bund (1815, einschließlich Österreichs, das 1830 noch Lustenau im Westen und 1846 den Freistaat Krakau im Osten erlangt,) zusammen, zu dem außenpolitisch noch die »Heilige Allianz« Österreichs, Preußens und Russlands kommt, welche die Grundsätze der Legitimität, Legalität und Stabilität als Voraussetzungen für den Bestand des Staates vertritt.
Schon bald nach seiner Entstehung wird der Deutsche Bund von liberalen Bestrebungen erfasst. Nachdem auf dem Wartburgfest (1817) von Studenten die Bundesakte verbrannt wird, verbieten die Mitglieder des Deutschen Bundes unter der politischen Führung Metternichs (1773-1859) in den Karlsbader Beschlüssen (1819) die studentischen Burschenschaften und vereinbaren die Verfolgung der »Demagogen« sowie die Überwachung der Presse und der Universitäten. Nach den der (zweiten) französischen Revolution vom Juli 1830 in Deutschland folgenden Ereignissen (Hambacher Fest 1832 mit vielleicht 25000 Teilnehmern, Sturm auf die Frankfurter Hauptwache) verstärkt sich die auf Adel, Kirche, Militär und Polizei gestützte Reaktion (Pressezensur, Demagogenverfolgung) des sog. Vormärz (Zeit vor März 1848) gegen das zunehmende bürgerliche Selbstbewusstsein. In Hannover kommt es wegen der Weigerung des neuen Königs, die bestehende Verfassung anzuerkennen, zu einem Verfassungskonflikt (1837 Protest und Entlassung der Göttinger Sieben [Professoren u. a. Brüder Grimm]), in Preußen zur Verweigerung einer formellen Verfassung.
In der Schweiz schließen sich die (22) Kantone am 7. 8. 1815 in einem Bundesvertrag zusammen. Ihre Neutralität wird auf dem Wiener Kongress gewährleistet. Organe sind Tagsatzung und jeweiliger Vorort. Es gilt das Mehrheitsprinzip. Anfangs konservativ geprägt setzt sich in dieser Vereinigung seit 1830 die Volkssouveränität durch. Nach dem Sieg über den Sonderbund der 7 katholischen Kantone wird am 12. 9. 1848 eine neue, 1874 revidierte Bundesverfassung geschaffen. Nach ihr liegt die Gesetzgebung bei den beiden Kammern Nationalrat und Ständerat. Vereinigt in der Bundesversammlung wählen sie die Regierung, den siebenköpfigen Bundesrat und die Richter am Bundesgericht (in Lausanne).
Am 24. Februar 1848 wird nach ersten Unruhen in Sizilien und Süditalien in Frankreich in einer (dritten) Revolution erneut die Republik verkündet. Wenig später wird auch in den Staaten des Deutschen Bundes zu Reformen (Pressefreiheit, Schwurgericht, Republik) aufgerufen. Im März kommt es in Wien, wo am 13. 3. 1848 Studenten mit der Forderung nach Pressefreiheit den Landtag in der Herrengasse stürmen (Bildung monokratischer Ministerien, Bestätigung 31er ungarischer Gesetzesartikel, Erlassung der böhmischen Charte), und Berlin, wo sich am 18. 3. 1848 10000 Demonstranten versammeln und 300 Menschenleben fordernde Barrikadenkämpfe losbrechen (und Friedrich Carl von Savigny als Gesetzgebungsminister entlassen wird), zu Unruhen zunächst von Bauern, Arbeitern und Studenten. Gleichzeitig bereiten Mitglieder süddeutscher Landtage eine Nationalversammlung vor (Heidelberger Siebenerausschuss vom 5. 3./12. 3. 1848, Frankfurter Vorparlament vom 31. 3. 1848), die auf Grund von am 30. 3. 1848 durch die Bundesversammlung unterstützten, im einzelnen unterschiedlich gestalteten Wahlen in den Einzelstaaten am 18. 5. 1848 in der Frankfurter Paulskirche eröffnet wird, während die Fürsten in der Zeit zwischen März und Juni der Bewegung durch liberale Zugeständnisse (z. B. 25. 4. 1848 Verfassungsurkunde des Kaiserreichs Österreich, Einberufung des vereinigten Landtags in Preußen, Ersetzung bisheriger Minister durch gemäßigte Liberale) bereits ihren revolutionären Schwung nehmen. Die Tätigkeit der (585 Abgeordnete umfassenden) Nationalversammlung beginnt - gegliedert in Konservative, Liberale und Demokratische Linke, etwa 50 % Staatsbedienstete, etwa 60 % Juristen (157 Richter, 66 Rechtsanwälte), etwa 75 % Akademiker, kein Bauer, kein Arbeiter - im Juni 1848 mit der Wahl des österreichischen Erzherzogs Johann zum Reichsverweser (29. 6. 1848), der Bildung einer vorläufigen Reichsregierung sowie der Beratung über Grundrechte und eine formelle Verfassung. Wegen der nationalen Frage kommt es anlässlich der Sitzverteilung im Staatenhaus zur Konfrontation zwischen den Anhängern der kleindeutschen Lösung (ohne Österreich) und der großdeutschen Lösung (mit Österreich [und seinen großen nichtdeutschen Gebieten]). Die kleindeutsche Richtung (Nationalstaat unter preußischer Führung) setzt sich schließlich durch und wählt am 28. 3. 1849 mit geringer Mehrheit den preußischen König zum Erbkaiser. Als dieser am 28. 4. 1849 die »mit dem Ludergeruch der Revolution behaftete« Krone ablehnt und die Reichsverfassung verwirft, löst sich die Versammlung auf. Die Reste der revolutionären Bewegung werden, nachdem bereits bis November 1848 die revolutionären Städte militärisch geschlagen werden, wenig später gewaltsam vernichtet. Am 20. 12. 1849 tritt der Reichsverweser von seinem Amt zurück.
In Österreich werden zwischen 1848 und 1851 zahlreiche revolutionäre Forderungen verwirklicht (Pillersdorfsche [formelle] Verfassung, Geschworenengerichte, Beseitigung der Grundherrschaft und der letzten Reste der persönlichen Unfreiheit durch Patent vom 7. 9. 1848). Auf der Grundlage der Märzverfassung 1849 werden Pressegesetz, Vereinsgesetz und Gemeindeordnung geschaffen und Gerichtsbarkeit und Verwaltung geordnet und voneinander getrennt. Mit dem Silvesterpatent 1851 erfolgt aber in vielfacher Hinsicht die Rückkehr zu den älteren Verhältnissen (Beseitigung der Geschworenengerichte, des neu eingeführten Strafprozesses, des neuen Pressrechts, Vereinsrechts und Gemeinderechts, Neoabsolutismus), die bis 1861 bzw. sachlich bis zur Dezemberverfassung 1867 fortdauert. Im Gegensatz hierzu gilt im wirtschaftlichen Bereich der Grundsatz des Liberalismus.
Preußen schließt bereits am 26. 5. 1849 mit Sachsen und Hannover ein besonderes Dreikönigsbündnis. Obwohl dieser Erfurter Union zahlreiche weitere Staaten folgen, muss sie am 29. 11. 1850 aufgelöst werden (Olmützer Punktation zum Ausgleich der Spannungen zwischen Österreich und Preußen). Dessenungeachtet tritt Preußen für einen neuen Bundesstaat ein.
Der Deutsche Bund endet als Folge des militärischen Vorgehens des Bundes (tatsächliche Bundesexekution) gegen das seit 1862 von Otto von Bismarck (1815-1898) als Ministerpräsidenten gelenkte Preußen im Streit um die 1864 kriegerisch von Dänemark gewonnenen und der gemeinsamen Verwaltung Preußens und Österreichs unterstellten Länder Schleswig und Holstein am 23. 8. 1866. Nach dem durch Verbindungen zum 1859/1860 durch nationale Einigung neu entstandenen Königreich Italien und zu Ungarn begünstigten Sieg (Königgrätz 3. 7. 1866) annektiert Preußen große Gebiete nördlich des Maines (Schleswig-Holstein, Hannover, Kurhessen, Nassau, Frankfurt am Main [ohne Inkraftsetzung des Allgemeinen Landrechts von 1794]) und schließt sich mit allen anderen norddeutschen Staaten (21) am 18. August 1866 zum Norddeutschen Bund zusammen (Verfassung vom 16. 4. 1867). Alle übrigen Staaten werden (wieder) völlig selbständig (Österreich, Hessen-Darmstadt [südlich des Mains], Bayern, Baden, Württemberg, Liechtenstein, Luxemburg [1867]). Österreich verliert nach der Lombardei (1859) nun auch Venetien an das neue Königreich Italien und muss sich mit fortgesetzten Unabhängigkeitsbestrebungen der Ungarn auseinandersetzen (1867 österreichisch-ungarischer Ausgleich). Hessen-Darmstadt, Bayern, Baden und Württemberg treten in Schutz- und Trutzbündnisse mit dem Norddeutschen Bund ein (1867). Als Frankreich sich 1870 wegen der möglichen Thronfolge eines (preußisch-)hohenzollerischen Prinzen in Spanien von Preußen bedroht fühlt, erklärt es in Erwartung der Unterstützung des 1866 von Preußen gedemütigten Österreichs Preußen den Krieg. Nach dem mit süddeutscher Waffenhilfe errungenen Sieg über Frankreich treten Baden, Hessen-Darmstadt (15. 11. 1870), Bayern (23. 11. 1870) und Württemberg (25. 11. 1870) auf der Grundlage des Norddeutschen Bundes durch Verträge dem Norddeutschen Bund (zu einem umfassenden Bund der deutschen Staaten) bei, der zum 1. 1. 1871 zum (zweiten) Deutschen Reich (ohne Österreich[-Ungarn], Luxemburg, Limburg und Liechtenstein) umgeformt wird, und proklamieren am 18. 1. 1871 auf Grund eines Angebots des mit hohen Zuwendungen entlohnten Königs von Bayern den preußischen König Wilhelm I. zum deutschen Kaiser.
Dieses die meisten Deutschen als Nation einende Reich sichert sich unter Reichskanzler Otto von Bismarck (1815-1898) nach außen durch verschiedene Bündnisse und erwirbt sehr spät noch Kolonien (1884 Deutsch-Südwestafrika/Namibia, Togo, Kamerun). Im Inneren kommt es zu Auseinandersetzungen (der Liberalen) mit der jetzt als staatsfeindlich angesehenen katholischen Kirche (Kulturkampf 1871-1886, 1871 Kanzelparagraph gegen den öffentlichen Missbrauch eines geistlichen Amtes zur Stiftung von Unfrieden [1953 aufgehoben], 1871 Jesuitenverbot [1917 aufgehoben], 1874 in Preußen, 1875 im Reich obligatorische Ziviltrauung) und (der Konservativen mit) den Sozialisten (1878 Sozialistengesetz mit Parteiverbot) sowie seit 1880 zu antisemitischen Vereinigungen gegen die zunehmende Einwanderung osteuropäischer Juden. Kaiser Wilhelm II., der 1890 in Wahrnehmung seines Selbstregierungsanspruchs Reichskanzler Otto von Bismarck entlässt und die Politik der saturierten friedenstauglichen Bewegungslosigkeit durch die Politik des prestigeträchtigen kriegstauglichen Ausgreifens ersetzt, will Deutschland zur Weltmacht erheben und beginnt einen Rüstungswettlauf mit England und Frankreich. Er kann jedoch nicht verhindern, dass sich die Staatssekretäre immer mehr über ihre Gesetzesvorhaben mit den Reichstagsparteien verständigen. In »Nibelungentreue« zu Österreich, das 1908 die schon 1878/1879 besetzten türkischen Provinzen Bosnien und Herzegowina annektiert, tritt Deutschland nach der Ermordung des österreichischen Thronfolgers Franz Ferdinand in Sarajewo (28. 6. 1914) durch den serbischen Bosnier Gavrilo Princip und der Kriegserklärung Österreichs an Serbien, das sich 1816 teilweise und 1878 vollständig aus der türkischen Herrschaft gelöst hatte, in den - als Machtmittel noch nicht geächteten - Krieg ein. Da England, Frankreich und Russland sich als Gegner Österreichs und Deutschlands auf die Seite Serbiens stellen, entwickelt sich die Auseinandersetzung zum ersten Weltkrieg, in dem die beteiligten Großmächte unter dem Opfer 8 Millionen gefallener Soldaten eine Entscheidung über die Vorherrschaft in Europa suchen. Nach vierjährigem Ringen erklärt die deutsche Heeresleitung nach starken Rückschlägen im Juli und August 1918 den Kampf für aussichtslos und unterbreitet den Alliierten (Großbritannien, Frankreich, Russland, seit 1917 Vereinigte Staaten von Amerika, daneben seit 1914 Japan, seit 1915/1916 gegen die schon 1912 von England geheim gegebene Zusage des Gebiets von Südtirol das zuvor mit Deutschland und Österreich im sog. Dreibund verbündete Italien) ein Waffenstillstandsangebot. Nach Unruhen im Reich (ausgehend am 29. 10. 1918 von der nicht mehr zu einem erneuten Auslaufen bereiten Flotte, 3. 11. 1918 Demonstrationen von Matrosen in Kiel, Sympathiestreiks von Arbeitern) wird nach der Ausrufung der Republik in Bayern (7. 11. 1918) und der Abdankung des Königs von Bayern (8. 11. 1918) am 9. 11. 1918 nach einem Streikaufruf der Mehrheitssozialisten (MSPD) in der Mittagszeit vom Reichskanzler Prinz Max von Baden ein Verzicht des Kaiser Wilhelms II. auf den Thron bekanntgegeben. Damit endet das (zweite deutsche) Kaiserreich.
In Österreich erklärt Kaiser Karl I. am 11. 11. 1918 seinen Verzicht auf einen Anteil an den Staatsgeschäften.
Lit.: Aufklärung – Vormärz – Revolution, hg. v. Reinalter, H., 2000; Best, H./Weege, W., Biographisches Handbuch der Abgeordneten der Frankfurter Nationalversammlung, 1996; Binder, H., Reich und Einzelstaaten während der Kanzlerschaft Bismarcks 1871-1890, 1971 (Diss.); Boldt, H., Deutsche Staatslehre im Vormärz, 1975; Craig, G., Geschichte Europas im 19. und 20. Jahrhundert, Bd. 1 1978; Darmstadt, R., Der Deutsche Bund in der zeitgenössischen Publizistik, 1971; Die Auflösung des Habsburgerreiches, 1970; Die Säkularisation 1803, hg. v. Oer, R. Freiin v., 1970; Fehrenbach, E., Traditionale Gesellschaft und revolutionäres Recht, 1980; Gall, L., Bismarck. Der weiße Revolutionär, 1980; Grimm, D., Recht und Staat der bürgerlichen Gesellschaft, 1987; Grosser, D., Vom monarchischen Konstitutionalismus zur parlamentarischen Demokratie, 1970; Koselleck, R., Preußen zwischen Reform und Revolution, 3. A. 1981; Der österreichisch-ungarische Ausgleich von 1867, 1967; Österreich und die deutsche Frage im 19. und 20. Jahrhundert, hg. v. Lutz; H. u. a., 1982; Mommsen, W., Das Ringen um den nationalen Staat, 1993; Olechowski-Hrdlicka, K., Die gemeinsamen Angelegenheiten, 2000; Quellen zur Geschichte des Deutschen Bundes, Bd. 1ff. 2000ff.; Rauchensteiner, M., Der Tod des Doppeladlers, 1993; Deutsche Parteien vor 1918, hg. v. Ritter, G., 1973; Schmidt-Volkmar, E., Der Kulturkampf in Deutschland, 1962; Schroeder, K., Das Alte Reich und sein Städte, 1991; Siemann, W., Die deutsche Revolution von 1848/49, 1985; Das kaiserliche Deutschland, hg. v. Stürmer, M., 2. A. 1977; Wehler, H., Das deutsche Kaiserreich 1871-1918, 3. A. 1977; Wilhelm, R., Das Verhältnis der süddeutschen Staaten zum Norddeutschen Bund 1867-1870, 1978
II. Wirtschaft
Aus dem raschen Bevölkerungswachstum seit dem späten 18. Jh. entstehen neue wirtschaftliche Schwierigkeiten. Von den zu ihrer Bewältigung angebotenen theoretischen Lösungen gewinnt die These des Liberalismus, dass der bestmögliche Ertrag durch die freie Entfaltung des Einzelnen zustande komme, rasch an Boden und wird allgemein zur Grundlage der staatlichen Wirtschaftspolitik gemacht und nur gelegentlich durch staatliche Eingriffe zu Gunsten einer Gruppe (der 1907 17,8 Millionen Arbeiter, 1,7 Millionen Dienstboten, 2,5 Millionen Bauern, 3,5 Millionen Beamte und Angestellte, 2,5 Millionen Handwerker und Kleinkaufleute, 1,3 Millionen Besitzbürger und rund 3,5 Millionen Berufslose und Rentenbezieher umfassende) Bevölkerung korrigiert. Im ersten Weltkrieg erlaubt das Ermächtigungsgesetz vom 4. 8. 1914 dem Bundesrat, zahlreiche (ca. 1000) Notverordnungen zu erlassen, die zu einer neuartigen Verdichtung der Staatstätigkeit führen.
1. Landwirtschaft
Die Landwirtschaft zählt am Ende des 18. Jh. etwa sieben Millionen Beschäftigte und rund 85 % der Bevölkerung nutzen noch in irgendeiner Form selbst den Boden (1870 sind noch 50 % aller Beschäftigten in der Landwirtschaft tätig). Die Produktionsweisen sind einfach (Dreifelderwirtschaft) und die Erträge bescheiden (10 dz Getreide pro Hektar). Die Bauern sind überwiegend feudal abhängig.
Älteren einzelnen Ansätzen (1688 Graf Rantzau in Schleswig-Holstein, Savoyen, 1783 Baden, 1718 Aufhebung der Leibeigenschaft der Domänenbauern in Ostpreußen, dann in den übrigen Provinzen [1799 rund 50000], 1777 Eigentumsgewährung, 1804 persönliche Freiheit) und der entschädigungslosen Beseitigung aller alten Abhängigkeitsverhältnisse durch die französische Revolution von 1789 (1793) folgend führen die von der kritischen Philosophie Immanuel Kants (1724-1804) und vom Liberalismus auf der Suche nach günstigeren Lebensbedingungen getragenen Reformen Karl Freiherr vom Steins (1757-1831) und Karl August Hardenbergs (1750-1822) in Preußen zur völligen Auflösung der bisherigen Agrarverfassung mit all ihren Bindungen wie Sicherungen.
Die Reformer heben zunächst im Edikt betreffend den erleichterten Besitz des Grundeigentums sowie die persönlichen Verhältnisse der Landbewohner vom 9. 10. 1807 (Stein), das bereits vor der Amtszeit Freiherr vom Steins im Ministerialentwurf vorbereitet worden war, die ständischen Schranken sowie die nicht an allen Orten für die Grundherren gleich bedeutsame persönliche Abhängigkeit (der Bauern) auf. Danach will das Edikt vom 14. 9. 1811, die Rechte der gutsherrlichen und bäuerlichen Verhältnisse betreffend (Regulierungsedikt), nach französischem Vorbild (1798 linksrheinisch) dem einzelnen Bauern Eigentum an Grund und Boden verschaffen (Hardenberg).
Diese preußischen Reformen, denen andere Länder (Österreich, wo seit 1781 beginnende Reformen wenig später zurückgenommen worden waren, mit kaiserlichem Patent vom 7. 9. 1848 über die Aufhebung des Untertänigkeitsverbandes und Entlastung des bäuerlichen Besitzes, Regelung der Durchführung im Patent vom 4. 3. 1849, Abwicklung bis etwa 1857) folgen, schlagen entgegen ihrer Zielsetzung aber deswegen in Wirklichkeit zum Nachteil der Bauern aus, weil sie den Erwerb des Eigentums entweder von der Abgabe eines Drittels bzw. der Hälfte des Landes oder von einer Geldablösung abhängig machen, so dass die Bauern entweder auf zu geringen Flächen arbeiten oder sich verschulden müssen. Ihre schwierige Lage wird auch durch die schon von den Physiokraten befürwortete Aufteilung der Allmenden seit 1811, die spätere Beseitigung des geteilten Eigentums (1850) und die allmähliche Verbesserung der Produktionsweise (Fruchtwechselwirtschaft, Agrikulturchemie Justus Liebigs 1841 [Kunstdünger], Umlegung bzw. Verkoppelung [seit 1821], erste Maschinen) nur wenig gemildert. Verbesserungen bewirken erst die besonderen landwirtschaftlichen Kreditinstitute (Rentenbanken) und Genossenschaften (Friedrich Wilhelm Raiffeisen [1818-1888] 1849 Spar- und Darlehensgenossenschaft) sowie die spätere Gesetzgebung (vgl. auch schon Hannover 1831/1833, Sachsen 1832, Preußen 1836, Bayern 1848), welche die Hofteilung erschwert (Anerbengesetze z. B. in Österreich 1889 [eingeführt in Tirol 1900, Kärnten 1903, Böhmen 1908]), die Agrarstruktur verbessert (Flurbereinigung, Siedlungsaktionen) und Schutzzölle gegen billigere ausländische Produkte (amerikanischer Weizen) errichtet.
Insgesamt bleiben ungeachtet der erheblich steigenden Erzeugung die landwirtschaftlichen Erträge pro Kopf hinter den industriellen Erträgen zurück.
2. Gewerbe
Im Gewerbe beginnt auf der Suche nach günstigeren Lebensbedingungen die Industrialisierung und die Produktion in der Fabrik.
Wegweisend ist England, wo die aus der Politik ausgeschlossenen kalvinistischen Puritaner unter besonderem Fleiß, Sparsamkeit und Gewinnstreben eine neue Arbeitsauffassung begründen und Investitionskapital ansammeln. Dieses ermöglicht es, unter Verwendung der zahlreichen, auch in England durch Änderung der Agrarverfassung (Agrarrevolution) freigesetzten Arbeitskräfte und der mit Hilfe der neuen naturwissenschaftlichen Methoden gewonnenen Erfindungen im großgewerblichen Fabriksystem billiger, rascher und mehr zu produzieren. Beachtliche Teile des Handwerks, des Verlags und der Manufaktur gehen in dieser maschinenorientierten Industrie auf.
Begünstigt wird diese Entwicklung durch die vom Staat eröffnete Gewerbefreiheit (Frankreich 1791, England 1814, Preußen 1807/1810/1811/1845), die jedermann zum freien wirtschaftlichen Wettbewerb zulässt. Darüber hinaus bekämpft man die ausländische Konkurrenz durch Außenzölle und strebt nach der Vereinheitlichung des nationalen Wirtschaftsgebiets (1818 Preußen einheitliches Grenzzollsystem, 1819 Deutscher Handels- und Gewerbeverein, 1828 Süddeutscher Zollverein, 1833 zum 1. 1. 1834 Deutscher Zollverein [ohne Österreich] mit beachtlichem Programm zur Rechtsvereinheitlichung).
Auf dieser Grundlage setzt (auch) in Deutschland kurz vor der Mitte des 19. Jh. die industrielle Revolution ein. Insbesondere die Dampfmaschine (1769/1777) ermöglicht die Mechanisierung der Arbeitsvorgänge, die konzentriert und unter Trennung von Vorbereitung und Ausführung vollzogen werden und immer stärkerer Differenzierung und Spezialisierung unterliegen. Wesentliche Bedingung der Maschinisierung ist dabei die Erhöhung der Steinkohlenproduktion, die etwa zwischen 1840 und 1870 von ca. 3 auf fast 30 Millionen Tonnen jährlich steigt und dann auch eine entsprechend höhere Eisengewinnung ermöglicht. Die Erfindungen des Elektromotors (1834) und des Verbrennungsmotors (1876) begünstigen diese Entwicklung ebenso wie die Herausbildung entschiedener Unternehmerpersönlichkeiten (Krupp, Borsig, Siemens).
Ein weiterer Anstoß erwächst aus der französischen Kriegsentschädigung von 1871. Das dadurch zuwachsende Kapital verleitet zur Gründung zahlreicher neuer Unternehmen (Gründerjahre mit anschließender Krise) insbesondere im Metallgewerbe, Bergbaugewerbe, Baugewerbe, Optikgewerbe und Elektrogewerbe, wobei statt des Einzelunternehmers zunehmend die Gesellschaft (Aktiengesellschaft) als Unternehmensform auftritt. Am Ende des 19. Jh. erfolgt schließlich der Übergang zur Großindustrie, die zur ungehemmten Gewinnmaximierung die Nachfrage nach Massengütern künstlich belebt (Werbung, Mode), den Wettbewerb einschränkt (Kartell, Trust), sich auf rohstoffreiche Industrielandschaften konzentriert (Ruhr, Saar, Oberschlesien) und die Arbeitsprozesse weiter mechanisiert und differenziert (Erfindung des Fließbandes bei Ford in den Vereinigten Staaten von Amerika).
Österreich bleibt demgegenüber länger agrarisch geprägt. Die von der Gewerbeordnung des Jahres 1859 gewährte beschränkte Gewerbefreiheit wird 1883 wieder beseitigt.
3. Handel
Dem Handel dient die erhebliche Verbesserung der Verkehrswege ebenso wie die Liberalisierung der Rahmenbedingungen .
Allmählich entstehen rund 300000 km Chausseen (fester Unterbau, glatte Oberfläche). Zahlreiche Kanäle werden gebaut (1807 Erfindung des Dampfschiffes). 1835 wird die erste deutsche Strecke der Eisenbahn, mit der Arbeitskräfte und Produkte rasch und billig befördert werden können, zwischen Nürnberg und Fürth errichtet und bis 1913 das allmählich weitgehend verstaatlichte Streckennetz bis auf 60000 km ausgebaut.
Da auch bald infolge der Wirkungen des 1833 vereinbarten, 1834 in Kraft getretenen Deutschen Zollvereins (ohne Österreich) zwischen den meisten deutschen Staaten die inneren Zollschranken fallen, weitet sich der Handel rasch aus. Dementsprechend geht die Selbstversorgungsquote erheblich zurück. Als besondere Handelsformen erscheinen im späteren 19. Jh. die Selbsthilfegenossenschaften (z. B. Konsum) und die Warenhäuser (ab 1890, z. B. Hertie).
Nachdem sich schon seit dem Ende des 18. Jh. Sparkassen gebildet hatten (1778 Hamburg), beginnen seit etwa 1835 die Banken mit der Finanzierung der Industrie, deren Unternehmer bereit werden, Fremdkapital aufzunehmen. In den Gründerjahren entstehen Spezialbanken (Hypothekenbanken) sowie die späteren Großbanken (1870 Deutsche Bank, 1872 Dresdener Bank). Zur Vereinheitlichung des Banknotenwesens wird 1875 die Reichsbank eingerichtet.
Das Münzwesen wird auf übereinstimmende Größen umgestellt (1821 in Preußen der Taler, 1837 in Süddeutschland Gulden, 1871/3 im Reich Mark = halber Taler), ebenso das Maßwesen (metrisches System).
Lit.: Dipper, C., Die Bauernbefreiung in Deutschland 1790-1850, 1980; Zunkel, F., Industrie und Staatssozialismus, 1974
III. Gesellschaft
Unter dem Einfluss der Aufklärung und des Liberalismus im Allgemeinen und der französischen Revolution von 1789 im Besonderen werden die ständischen Schranken abgebaut (Preußen 9. 10. 1807) und zugleich allmählich dem Bereich Staat des Monarchen der von ihm unterschiedene Bereich Gesellschaft des Volkes gegenübergestellt, in dem der Staat grundsätzlich ausgeschlossen sein soll. Der durch die Gewerbefreiheit ermöglichte schrankenlose Wettbewerb führt dann aber mit der kapitalistischen Verhaltensweise und dem ungestümen Bevölkerungswachstum bald dazu, dass sich ein Heer von zwar freien, aber vermögenslosen Arbeitswilligen bildet, das auf den Verkauf seiner Arbeitskraft an den einem Gutsherren ähnlichen Unternehmer angewiesen ist. Durch das übermäßige Arbeitskraftangebot sinkt entsprechend dem liberalistischen Wirtschaftsgesetz von Angebot und Nachfrage der Arbeitslohn, so dass zur Sicherung des Einkommens noch mehr Arbeit (lange Arbeitszeit, Frauenarbeit und Kinderarbeit) angeboten werden muss, worauf der Arbeitslohn weiter sinkt. Dementsprechend stehen sich bald als neue, ökonomisch bestimmte Schichten die Klassen der besitzenden Kapitalisten (Bürger) und der besitzlosen Proletarier (Arbeiter, vierter Stand) gegenüber (soziale Frage).
Die schwierige Lage der Arbeiter bewegt das Bürgertum und den Adel zunächst kaum. Auch der Staat wird entsprechend seinen Zielsetzungen nur in bescheidenem Maß tätig (Schutzgesetze u. a. gegen Kinderarbeit 1813 in Frankreich, 1802, 1833 in England, 1839 - aus Sorge um die Gesundheit der Rekruten - in Preußen). Den Arbeitern selbst wollen sozialistische Theoretiker (Karl Marx/Friedrich Engels) ihre Lage klarmachen (1847/1848 Kommunistisches Manifest). In der Folge schließen sich die Arbeiter zu Arbeiterbewegungen zusammen, deren vereinte Kraft die Schwäche des Einzelnen ausgleichen soll. Dabei widmen sich die zuerst in England bereits vor 1799 aufgekommenen Gewerkschaften, die in Preußen in der Gewerbeordnung 1845 verboten, dann aber nach frühen lokalen Gewerkschaftsvereinen (1862) 1869 durch die Gewerbeordnung des Norddeutschen Bundes wieder zugelassen werden, der Erkämpfung besserer Arbeitsbedingungen (Arbeitslohn) gegenüber den Unternehmern. Genossenschaftliche Zusammenschlüsse wollen die wirtschaftliche Situation durch solidarische Selbsthilfe verbessern (1844 Konsumvereine zur Ausschaltung des Zwischenhandels, gewerbliche Genossenschaften [1850 handwerklicher Einkaufs- und Kreditverein des Kreisrichters Schulze, 1808-83, aus Delitzsch], bäuerliche Genossenschaften [Raiffeisen]). Politisch sollen die Ziele der Arbeiter durch sozialistische Parteien erreicht werden (1863 Allgemeiner Deutscher Arbeiterverein [Ferdinand Lassalle 1825-1864], 1869 Sozialdemokratische Arbeiterpartei [Wilhelm Liebknecht 1826-1900, August Bebel 1840-1913], 1875 Vereinigung zur Sozialistischen Arbeiterpartei).
Durch die Sozialistische Arbeiterpartei mit einem Stimmenanteil von weniger als 10 % fühlt Reicskanzler Otto von Bismarck das Kaiserreich bedroht und verbietet sie und die Gewerkvereine nach Attentaten auf den Kaiser durch das Sozialistengesetz (1878). Zugleich versucht Otto von Bismarck, die sozialen Probleme, für die seit 1850 Werkskassen für Krankheit, Alter und Invalidität entstehen, durch eine umfassende Sozialversicherungsgesetzgebung (1883ff.) und Arbeitsschutzmaßnahmen (1890) zu lösen, um auch dadurch die Arbeiter von den 1890 durch Aufhebung des Sozialistengesetzes wieder zugelassenen sozialistischen Parteien fernzuhalten (1890 Sozialdemokratische Partei Deutschlands mit marxistischem Erfurter Programm Karl Kautskys [1854-1938]). Da sich aber trotz langsam steigender Reallöhne die Gesamtlage der Arbeiter, die in Mietskasernen untergebracht werden und immer mehr Waren über den Markt erwerben müssen, nicht bessert, steigt die Zahl der Anhänger der Sozialdemokraten so stark, dass ihre Partei 1912 stärkste Fraktion im Reichstag wird.
Daneben beginnt seit der Mitte des 19. Jh. die Emanzipation der Frau von der Vorherrschaft der Männer (1865 Allgemeiner Deutscher Frauenverein in Leipzig, 1869 Beseitigung der Prozessvormundschaft), wobei 1895 erst 7 % aller verheirateten Frauen außer Haus berufstätig sind.
Lit.: Bedingungen für die Entstehung und Entwicklung von Sozialversicherung, 1979; Born, K., Wirtschafts- und Sozialgeschichte des deutschen Kaiserreiches, 1985; Engelhardt, U., Nur vereinigt sind wir stark, 1977; Gollwitzer, H., Die Standesherren, 2. A. 1964; Richarz, M., Der Eintritt der Juden in die akademischen Berufe, 1974; Ritter, G., Der Sozialstaat, 1989; Rückert, J., Entstehung und Vorläufer der gesetzlichen Rentenversicherung, in: Handbuch der gesetzlichen Rentenversicherung, 1990, 1; Teuteberg, H., Geschichte der industriellen Mitbestimmung in Deutschland, 1961; Vormbaum, T., Politik und Gesinderecht im 19. Jahrhundert, 1980
IV. Geistesleben
1. Die Aufklärung wird durch mehrere geistige Strömungen abgelöst.
Zunächst kehrt sich die Romantik von der Vernunft als dem allein bestimmenden Umstand ab und betont das Gefühl, den Traum, das Irrationale. Sie anerkennt den willkürlichen und unregelmäßigen Formenreichtum des historisch Gewordenen. Volkssprache und Volkslied sind ihr der Ausdruck des unbewusst schaffenden Volksgeistes (Johann Gottfried Herder 1744-1803, Theologe und Philosoph), dessen nationale Eigenart geschichtlichen Eigenwert besitzt (Idee der Kulturnation). Unter dem Einfluss der französischen Revolution und als Reaktion auf die französische Vorherrschaft entwickelt sich hieraus rasch ein deutsches Nationalbewusstsein (Friedrich Schiller 1804 Wilhelm Tell, Johann Gottlieb Fichte 1807/1808 Reden an die deutsche Nation, Heinrich von Kleist 1808 Hermannsschlacht).
Den deutschen Idealismus begründet Immanuel Kant (1724-1804), der sich gegen die Versuche wendet, aus wenigen vorgegebenen Grundbegriffen formallogisch ein System der Welterkenntnis aufzubauen und die Situationsbedingtheit aller materialen ethischen Entscheidungen erweist. Nach Kant trägt der Mensch das moralische Gesetz in sich, so dass die sittliche Autonomie des Individuums das Grundgesetz der moralischen Welt bildet. Zu einer objektiven Rechtsordnung kommt Kant mit Hilfe seines kategorischen Imperativs.
Bereits Georg Friedrich Hegel (1770-1831) schließt den deutschen Idealismus ab. Nach ihm entfaltet sich der absolute Weltgeist in der Geschichte. Sie steigt im Wege von These, Antithese und daraus folgender Synthese dialektisch zu immer höheren Formen der Vernunft und Freiheit empor, wobei ihm der Staat an sich die Wirklichkeit der sittlichen Idee ist, der Gang Gottes in der Welt, der Mittler zwischen Individuum (Einzelnem) und Universum (All).
In entschiedenem inhaltlichem Gegensatz hierzu entwickelt sich fast gleichzeitig der historische Materialismus (Karl Marx 1818-1883) auf ähnlicher formalgesetzlicher Grundlage. Nach Marx sind die ökonomischen und sozialen Verhältnisse (Basis, Unterbau) entscheidend für den jeweiligen ideologischen Überbau (z. B. Recht). Arbeitsteilung und Eigentumsbildung entfremden den Menschen von sich selbst. Die besitzende Klasse hält am jeweiligen Zustand der Produktionsverhältnisse fest, während die ausgebeutete Klasse nach seiner Veränderung strebt. Durch Revolutionen wird die jeweilige Basis und damit auch der Überbau verändert und eine jeweils höherwertige Stufe des sich nach exakten Gesetzen vollziehenden Geschichtsablaufes erreicht.
Der Positivismus schließlich (Auguste Comte 1798-1857, Discours sur l’esprit positif, 1844) hält die übernatürliche Deutung der Welt durch die Theologie für ebenso überholt wie die gedankliche Erklärung mit Hilfe abstrakter Ideen durch die Philosophie. Entscheidend ist ihm vielmehr die wissenschaftliche Zusammenfassung der tatsächlichen Erscheinungen (des durch Beobachtung Erfahrbaren, Gegebenen, Wirklichen oder Positiven) in Gesetzen, durch die der Gesellschaft ein glückliches Leben gesichert werden soll. Deshalb sind Theologie und Philosophie durch positive Wissenschaften, in erster Linie Sozialwissenschaften und Naturwissenschaften, zu ersetzen.
2. Politische Grundideen sind vor allem Konservatismus, Liberalismus und Sozialismus.
Der Konservatismus will als Gegenbewegung zur französischen Revolution von 1789 die überkommene Lebensform bewahren. Staat, Gesellschaft und Kultur sollen sich nicht künstlich verändern lassen, sondern nur organisch entwickeln können. Der entschiedenste Vertreter dieser vor allem von Adel, Bauern, Beamten und der Kirche geteilten Auffassung ist Karl Ludwig von Haller (1768-1854).
Der Liberalismus erstrebt möglichst viele Freiheiten des Einzelnen. Dieser soll am Staat durch Wahlen und Vertreter (Parlament) teilhaben. Dem Staat, der als politischer Bereich von der Gesellschaft als wirtschaftlichem Bereich getrennt wird, ist der Schutz des Einzelnen aufgegeben. Erarbeitet sind diese, vor allem im Besitzbürgertum und Bildungsbürgertum vorherrschenden Vorstellungen hauptsächlich von den Engländern Jeremy Bentham (1748-1832), John Stuart Mill (1806-1873) und Herbert Spencer (1820-1903) sowie von den südwestdeutschen Liberalen Karl von Rotteck (1775-1840) und Karl Theodor Welcker (1790-1869) (Staatslexikon 1834-1848).
Für den Sozialismus geht es in erster Linie um eine gerechte Eigentumsordnung und Gesellschaftsordnung, die auch dem sozial Schwachen Wohlstand und Gleichberechtigung gewährt. Daher finden sich seine Anhänger vorwiegend in der Arbeiterschaft. Wichtigste Theoretiker dieser Richtung sind außer den Franzosen Claude Henri de Saint-Simon (1760-1825), Louis Blanc und Pierre Joseph Proudhon (1809-1865) vor allem Karl Marx (1818-1883) und Friedrich Engels (1820-1895).
Daneben sind als eigenständige politische Richtungen schon kurz vor der Mitte des 19. Jh. der politische Katholizismus und der demokratische Radikalismus zu erkennen. Dementsprechend bilden sich etwa zwischen 1835 und 1845 fast gleichzeitig die fünf Parteien der Liberalen (mit einem linken und einem rechten Flügel), der Demokraten (jüngere Intellektuelle), Sozialisten, Konservativen (Gerlach, Leo, Stahl) und der Katholiken (Görres, Jarcke, Baader, Döllinger, Reichensperger, Ketteler).
3. Für die Allgemeinheit noch von Bedeutung sind schließlich die Erziehungsreformen sowie der naturwissenschaftlich-technische Fortschritt.
Eine Erziehungsreform wird außer in Frankreich in Preußen zu Beginn des 19. Jh. durchgeführt. Danach soll die Volksschule stärker die natürlichen Anlagen fördern und die Gymnasialschule die allgemeine Bildung unter besonderer Berücksichtigung der klassischen Sprachen und Bildungsgüter (Neuhumanismus, Wilhelm von Humboldt 1767-1835, 1809 Vorlage eines in 16 Monaten als Leiter der Sektion für Kultus und öffentlichen Unterricht erarbeiteten Bildungsprogramms) pflegen. Vereinzelt wird schon die Einheitsschule gefordert. In Berlin wird eine Universität gegründet (1810), die unter Abkehr von älteren auf unmittelbare Nützlichkeit abstellenden Erwägungen von den Grundsätzen der akademischen Freiheit und der Einheit des Forschens, Lehrens und Lernens beherrscht ist.
Der naturwissenschaftlich-technische Fortschritt führt zu zahlreichen Entdeckungen und Erfindungen (1828 Harnstoffsynthese, 1831 Generator, 1839 Fotografie, 1859 Darwinsche Entwicklungslehre, 1865 Vererbungsregeln, 1867 Dynamit, Eisenbeton, 1876 Telefon, 1879 elektrisches Licht, 1882 Entdeckung des Tuberkelbazillus, 1885 Kraftwagen, 1895 Röntgenstrahlen, 1900 Luftschiff, 1905 Relativitätstheorie, 1911 Atommodell).
Lit.: Baumgarten, M., Vom Gelehrten zum Wissenschafter, 1988; Positivismus im 19. Jahrhundert, hg. v. Blühdorn, J./Ritter, J., 1971; Boldt, W., Die Anfänge des deutschen Parteiwesens, 1971; Tripp, D., Der Einfluss des naturwissenschaftlichen, philosophischen und historischen Positivismus auf die deutsche Rechtslehre im 19. Jahrhundert, 1983
B) Recht
I. Allgemeines
1. Im Anschluss an die mit der Niederringung Napoleons endenden Freiheitskämpfe stellt sich die Frage, ob der in vielen von Frankreich beherrschten Gebieten eingeführte französische Code civil des Jahres 1804 in Deutschland gelten könne. Sie wird zwar von der Bevölkerung für das linksrheinische Gebiet wegen der anerkannten Vorzüge dieses Gesetzbuchs bejaht (rheinisches Recht), im Übrigen aber 1814 von dem hannoverschen Hofrat Rehberg aus nationalen Gründen entschieden verneint. Dementsprechend wird noch im gleichen Jahr von dem Heidelberger Zivilrechtsprofessor Anton Friedrich Justus Thibaut (1772-1840) die Forderung erhoben, nach dem Vorbild Frankreichs die territorialen Partikularrechte der rund 40 deutschen Einzelstaaten durch eine einheitliche nationale Kodifikation (Bürgerliches Gesetzbuch) aller Deutschen zu ersetzen. Dem tritt der Berliner Zivilrechtsprofessor Friedrich Carl von Savigny (1779-1861), der vielleicht bedeutendste deutsche Jurist überhaupt, sofort mit der schon seit 1808 im geistigen Umriss greifbaren Schrift »Vom Beruf unserer Zeit für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft« (1814) entgegen. Trotz oder wegen dieses Kodifikationsstreits bleibt es bei der hergebrachten, den egoistischen Bestrebungen der Einzelfürsten entgegenkommenden Rechtszersplitterung.
Thibaut, hugenottischer Majorssohn und Lehrer des römischen Rechts in Heidelberg, begründet seine Schrift »Über die Notwendigkeit eines allgemeinen bürgerlichen Gesetzbuches für Deutschland«, mit Vaterlandsliebe und praktischem Interesse an der Verbesserung der zivilrechtlichen Verhältnisse. Savigny, aus begütertem, früher lothringischem Adel, schon früh durch sein Buch »Das Recht des Besitzes« (1803) berühmt geworden und nach Marburg (1800-1804) und Landshut (1808-1810) bald an die 1810 neugegründete, dem Neuhumanismus und der Freiheit verpflichtete Reformuniversität Berlin berufen, stellt dem die Behauptung entgegen, dass Recht organisch aus dem Volksbewusstsein - gemeint ist das Bewusstsein der das Volk kulturell vertretenden Schicht der Gelehrten und Richter -entstehe. Ein (im Jahre 1814) von oben kommendes Gesetz sei unorganisch und damit überflüssig oder schädlich. Im Ergebnis setzt sich diese, von den politischen Gegebenheiten vieler ihre Souveränität liebenden Fürsten nahegelegte und von Savignys Gelehrtenruhm gestützte Ablehnung durch, so dass es bei der Rechtszersplitterung in Deutschland lange Zeit bleibt.
2. Die Rechtsquellen sind dementsprechend sehr umfangreich und vielfältig.
a) Im Vordergrund stehen neben den grundlegenden völkerrechtlichen Verträgen die Gesetze der unterschiedlichen politischen Entwicklungsstufen, für die nun allmählich auch amtliche Sammlungen eingerichtet werden (seit 1780 Justizgesetzsammlung, seit 1790 Politische Gesetzsammlung, seit 1849 Reichsgesetzblatt in Österreich, 1806 preußische Gesetzsammlung, 1867 Gesetzblatt des Norddeutschen Bundes, 1871 Reichsgesetzblatt).
aa) Zunächst werden in Fortsetzung der Kodifikationsbewegung, im Zeichen des von den Liberalen begehrten Rechtsstaats und nach dem leuchtenden Vorbild Frankreich auf vielen wichtigen Rechtsgebieten einzelne partikulare Gesetze geschaffen.
Dies beginnt - abgesehen von den Verfassungen - für das Strafrecht mit dem Bayerischen Kriminalgesetzbuch (1813) Anselm von Feuerbachs (1775-1833), dem 1851 nach verschiedenen anderen partikularen Strafgesetzbüchern (Oldenburg 1814, Preußen 1830/1833, Sachsen 1838, Württemberg 1839, Sachsen-Weimar 1839, Hannover 1840, Braunschweig 1840, Sachsen-Altenburg 1841, Hessen 1841, Lippe-Detmold 1843, Sachsen-Meiningen 1844, Schwarzburg-Sondershausen 1845, Baden 1845, Nassau 1849, Sachsen 1850) ein stark vom französischen Code pénal (Strafgesetzbuch) beeinflusstes Strafgesetzbuch Preußens folgt, während in Österreich 1852 nur das Strafgesetzbuch von 1803 in einer wenig veränderten Fassung neu herausgegeben wird (1855 Militärstrafgesetzbuch). Der Strafprozess erhält 1844 in Baden, 1849 in Preußen und 1850 in Österreich eine neue, zeitgemäßere Ordnung (in Österreich 1853 wieder beseitigt und erst 1873 endgültig eingeführt). Der Zivilprozess wird 1831 in Baden, 1850 in Hannover und in einem preußischen Entwurf von 1864 nach französischem Vorbild reformiert (Österreich Zivilprozessordnung 1895). Schließlich gelingt auch für das bürgerliche Recht wenigstens in Sachsen (1863) eine umfassende, das spätere deutsche Bürgerliche Gesetzbuch beeinflussende Neuordnung in 5 Büchern (Allgemeiner Teil, Sachenrecht, Schuldrecht, Familienrecht, Erbrecht) mit insgesamt 2620 Paragraphen (Entwürfe in Bayern 1860/1864, Hessen-Darmstadt 1842/1845/1851/1853, Preußen 1839/1841/1842).
In Österreich kommt es weiter 1812 zu einem Lotto-Patent, 1819 zu einem Patent über das Verfahren in Ehesachen, 1832 zu einem Auswanderungspatent, 1844 zu einem Sparkassenregulativ, 1846 zu einem Urheberrechtspatent (Patent über das artistische Eigentum), 1852 zu einem Forstgesetz, 1854 zu einem Gesetz über das Verfahren in bürgerlichen Sachen außer Streit (freiwillige Gerichtsbarkeit) und einem Berggesetz sowie 1859 zu einer Gewerbeordnung.
In der Schweiz entstehen die ersten Zivilgesetzbücher in Anschluss an den französischen Code civil (Genf 1804, Waadt 1819, Freiburg im Üchtland 1835-1850, Tessin 1837, dann Neuenburg 1854/1855, Wallis 1855), der im Baseler Jura als solcher überhaupt in Geltung bleibt. Unter dem Einfluss des österreichischen Allgemeinen Bürgerlichen Gesetzbuch von 1811 entstehen Privatrechtskodifikationen in Bern (1824-1831), Luzern (1831-1839), Solothurn (1841-1847) und im Aargau (1847-1855), unter dem Einfluss der von Savigny begründeten historischen Rechtsschule auch in Zürich (1856), Schaffhausen (1863-1865), im Thurgau (1860), in Nidwalden (1853-1859), Appenzell-Außerrhoden (1861), Glarus (1869-1874) und Graubünden (1862). Nur ein Entwurf gelingt in Basel-Stadt. 1874 erlangt der Bund die Gesetzgebungszuständigkeit über die persönliche Rechtsfähigkeit, das Obligationenrecht, das Urheberrecht, das Erfinderrecht, den Personenstand und die Ehe und setzt 1874 ein Personenstands- und Ehegesetz und 1881 Gesetze über das Obligationenrecht (samt dem Handels- und Wertpapierrecht) und über die Handlungsfähigkeit (1882) in Kraft. 1892 wird Eugen Huber (1849-1923) mit dem Entwurf eines Zivilgesetzbuchs betraut. Dieser wird am 10. 12. 1907 angenommen und zum 1. 1. 1912 geltendes Recht, wobei auch das Obligationenrecht abgeändert wird (1911, in einigen Teilen erst 1937). Seine 977 Artikel sind in eine Einleitung und in Personenrecht, Familienrecht, Erbrecht und Sachenrecht geteilt. Es beeinflusst das Privatrecht vieler Länder (Liechtenstein [seit 1926], Italien [1942], Österreich, Griechenland, Ungarn, Jugoslawien, Türkei [1923/1926], Peru, Albanien, China, Polen, Rumänien, Bulgarien usw.). Die Strafgesetzbücher der einzelnen Kantone folgen zunächst dem französischen Code pénal (Strafgesetzbuch) und in der Ostschweiz dem bayerischen Strafgesetzbuch von 1813 sowie im Aargau dem Österreichischen Strafgesetz von 1803, später dem deutschen Reichsstrafgesetzbuch von 1871. Weitere Schweizer Gesetze betreffen das Fabrikwesen (1877), die Eisenbahn (1872), das Postwesen und das Fernmeldewesen (1907, 1910) sowie das Schuldbetreibungsverfahren und das Konkursverfahren (1889).
bb) Allgemeines deutsches Recht entsteht auf dem Gebiet des Handelsrechts um die Mitte des 19. Jh. in der Allgemeinen Deutschen Wechselordnung und im Allgemeinen Deutschen Handelsgesetzbuch auf staatenbundlicher Vereinbarung durch übereinstimmende Gesetzgebung der Mitgliedstaaten des Deutschen Bundes.
Den Anstoß hierzu geben kaufmännische Kreise, die ihre wirtschaftlichen Entwicklungsmöglichkeiten durch das verschiedene Recht der einzelnen Mitgliedstaaten des Deutschen Bundes behindert sehen und schon 1837 einen allgemeinen Bundesbeschluss des Bundestags gegen den Nachdruck von Büchern erreichen. Nach dem Vorbild des französischen Code de commerce (Handelsgesetzbuch) von 1808, dem 1829 in Spanien, 1833 in Portugal und 1838 in den Niederlanden je ein besonderes Handelsgesetzbuch folgt, will die deutsche Nationalversammlung der Frankfurter Paulskirche 1848 das Handelsrecht kodifizieren, scheitert daran aber infolge ihrer begrenzten Handlungsfähigkeit. Lediglich ein bereits 1847 von allen Bundesstaaten gemeinsam ausgearbeiteter Entwurf einer Allgemeinen Wechselordnung (ADWO) wird als Reichsgesetz (am 27. 11. 1848 verkündet) angenommen, später aber zur Sicherheit auch noch von den (meisten) Einzelstaaten durch Landesgesetz (z. B. in Österreich 25. 1. 1850) als sog. allgemeines deutsches Recht in Kraft gesetzt. In gleicher Weise wird der auf bayerischen Antrag und unter Verwendung preußischer und österreichischer Vorlagen 1861 durch kommissionelle Zusammenarbeit der Mitgliedstaaten des Deutschen Bundes entstandene (Nürnberger) Entwurf eines Handelsgesetzbuches durch ihn in gleicher Weise (bis 31. 12. 1868) übernehmende Einzelgesetze der Mitgliedstaaten (einschließlich Österreichs, 1. 7. 1863 Allgemeines Handelsgesetzbuch) zum Allgemeinen Deutschen Handelsgesetzbuch (ADHGB mit auf das Handelsgeschäft abstellendem objektivem System). Dagegen bleibt die 1862 beschlossene Schaffung eines einheitlichen Obligationenrechts infolge der Auflösung des Bundes ebenso im Stadium des Entwurfs (1866 Dresdener Entwurf) stecken wie der Hannoversche Entwurf einer Allgemeinen Deutschen Civilprocessordnung.
cc) Mit der Entstehung des Norddeutschen Bundes (1867) und vor allem des deutschen Reiches (1871) beginnt auf bundesstaatlicher Grundlage eine tiefgreifende Vereinheitlichung des Rechts durch zahlreiche Gesetze, von denen außer der Verfassung und der Gewerbeordnung (1869) sowie dem Strafgesetzbuch und dem Handelsgesetzbuch (und dem Reichshaftpflichtgesetz von 1871 mit seiner Gefährdungshaftung für Eisenbahnen) insbesondere die Reichsjustizgesetze, die Sozialversicherungsgesetze und das Bürgerliche Gesetzbuch hervorzuheben sind.
Am Beginn der Reichsgesetzgebung steht die der Reichsgründung folgende Verfassung vom 16. 4. 1871, die auf der Verfassung des Norddeutschen Bundes (1867) beruht. Das Strafgesetzbuch von 1871 geht ebenfalls auf den Norddeutschen Bund (und von dort auf das preußische Strafgesetzbuch von 1851) zurück. Im Handelsrecht wird das Allgemeine Deutsche Handelsgesetzbuch 1870 gemeines Recht und 1872 Reichsgesetz (1884 Änderungen im Aktienrecht).
Die Neuordnung des Verfahrensrechts soll die Ziele des liberalen Rechtsstaats verwirklichen. Sie erfolgt in den vier Reichsjustizgesetzen (Reichszivilprozessordnung, Reichsstrafprozessordnung, Gerichtsverfassungsgesetz, Reichskonkursordnung). Sie treten gemeinsam zum 1. 10. 1879 in Kraft.
Die Sozialversicherungsgesetze, mit denen Otto von Bismarck versucht, die Arbeiter politisch von den sozialistischen Parteien fernzuhalten, werden eingeleitet durch die Kaiserliche Botschaft zum 17. 11. 1881. Innerhalb weniger Jahre werden Krankenversicherung (15. 6. 1883), Unfallversicherung (6. 7. 1884) sowie Altersversicherung und Invalidenversicherung (22. 6. 1889) gesetzlich geregelt. Die Reichsversicherungsordnung (19. 7. 1911), die noch durch ein Angestelltenversicherungsgesetz (28. 12. 1911) ergänzt wird, fasst abschließend die Einzelgesetze zusammen.
In Österreich wird unter Ministerpräsident Taafe und dem Justizministerialbeamten Steinbach die Unfallversicherung der Arbeiter 1887 und die Krankenversicherung der Arbeiter 1888 geregelt sowie nach Erweiterung dieser Gesetze (1894, 1899) 1906 die Angestelltenpensionsversicherung eingeführt, in der Schweiz die Krankenversicherung und Unfallversicherung 1911.
Das (seit 1860 auch von dem neu gegründeten deutschen Juristentag gewünschte) Bürgerliche Gesetzbuch schließlich wird durch einen (bereits im Norddeutschen Bund) 1867, 1869, (und dann im Reichstag des zweiten deutschen Reichs) 1871 und 1872 vergeblich eingebrachten, 1873 schließlich aber doch erfolgreichen Antrag der nationalliberalen Abgeordneten Johannes Miquel (1828-1901) und Eduard Lasker (1829-1884) ermöglicht, auf Grund dessen die (zunächst eingeschränkte) Zuständigkeit des Reiches vom Verkehrsrecht (Schuldrecht) auf das gesamte bürgerliche Recht ausgedehnt wird (20. 12. 1873). Auf ein Gutachten des Berliner Handelsrechtlers Levin Goldschmidt (1829-1897) und den Vorschlag einer fünfköpfigen, später sog. Vorkommission hin (April 1874) wird 1874 eine (erste) Kommission mit 11 Mitgliedern (sechs Richter, zwei Professoren, drei Ministerialbeamte, u. a. Gottlieb Planck 1824-1910, Bernhard Windscheid 1817-1892 [bis 1883], Heinrich Pape [1816-1888]) eingesetzt. Sie entscheidet sich nach dem Vorbild des Sächsischen Bürgerlichen Gesetzbuches (1863) für ein Fünfbüchersystem, für dessen fünf Teile je ein Kommissionsmitglied einen Teilentwurf vorlegt. Ihr vom Reichsjustizamt nicht unerheblich beeinflusster Gesamtentwurf wird 1887 dem Reichskanzler vorgelegt und 1888 mit Motiven (nachträgliche Ausarbeitungen der Hilfsarbeiter der Kommission) publiziert. Er wird von den zur Stellungnahme eingeladenen Juristen überwiegend gelobt, teils aber auch als sozial rückständig (Anton Menger [1841-1906], Das bürgerliche Recht und die besitzlosen Volksklassen, 1889), als undeutsch (Otto von Gierke [1841-1921], Der Entwurf eines Bürgerlichen Gesetzbuches und das deutsche Recht, 1888/1889) und als lebensfremd, hölzern und doktrinär kritisiert.
Daraufhin wird 1890 eine zweite Kommission (10 bzw. 11 ständige, 12 bzw. 13 nichtständige Mitglieder, u. a. Gottlieb Planck [1824-1910], Karl Ritter von Jacubezky, keine Vertreter der Sozialdemokratie, Gewerkschaften oder Arbeiter), der informell noch eine »Vorkommission« (1890-1893) vorgeschaltet wird, mit der Umarbeitung betraut. Sie nimmt (nur) einige kritische Anregungen auf, verbessert die Sprache und arbeitet die Grundgedanken deutlicher heraus. Einzelne Fragen überlässt sie bewusst der Entscheidung durch die Rechtswissenschaft oder verzichtet wegen der damit verbundenen Schwierigkeiten auf eine Regelung (culpa in contrahendo [Ihering 1818-1892], Drittschadensliquidation [1855]). Schließlich legt sie 1895 den zweiten Entwurf samt den zugehörigen Protokollen dem Reichskanzler vor, der ihn an den Bundesrat weiterleitet. Er wird nach einigen Änderungen als dritter Entwurf samt einer Denkschrift des Reichsjustizamts im Reichstag eingebracht (17. 1. 1896), von einem Ausschuss (u. a. Ludwig Enneccerus [1843-1928]) beraten und umgearbeitet und schließlich gegen die Stimmen der Sozialdemokraten, die das Dienstvertragsrecht zugunsten eines von ihnen angestrebten Arbeitsvertragsgesetzes ablehnen, mit 222 von 288 (bzw. insgesamt 393) Stimmen angenommen, am 18. 8. 1896 verkündet und zum 1. 1. 1900 in Kraft gesetzt (vgl. dazu Mugdan, B., Die gesamten Materialien zum bürgerlichen Gesetzbuch für das Deutsche Reich, Bd. 1ff. 1899f., Neudruck 1979; Die Beratung des Bürgerlichen Gesetzbuchs in systematischer Zusammenstellung der unveröffentlichten Quellen, hg. v. Jakobs, H./Schubert, W., Bd. 1f. 1978ff.; Die Vorlagen der Redaktoren für die erste Kommission zur Ausarbeitung des Entwurfs eines Bürgerlichen Gesetzbuches, hg. v. Schubert, W., Teil 1ff. 1980ff). Damit endet im Bereich des Privatrechts im Wesentlichen die Geltung des um 1900 für 16,5 Millionen Menschen anzuwendenden gemeinen Rechts, des preußischen Allgemeinen Landrechts (21 Millionen Menschen), des Code civil, der während des gesamten 19. Jahrhunderts linksrheinisch (zuletzt etwa für 14 % der Deutschen bzw. knapp 8 Millionen) in Geltung gewesen war, des sächsischen Bürgerlichen Gesetzbuches (3, 5 Millionen) und zahlreicher Einzelgesetze (, nicht dagegen die Geltung des Allgemeinen Bürgerlichen Gesetzbuchs Österreichs).
Gleichzeitig werden Handelsgesetzbuch (HGB von 1897 mit auf den Kaufmann abstellendem subjektivem System), Konkursordnung (KO) und Zwangsvollstreckung (ZPO) angepasst und eine Grundbuchordnung (GBO 1897), ein Gesetz über die Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit (FGG 1898) sowie über die Zwangsversteigerung und Zwangsverwaltung (ZVG 1897) geschaffen. Dem folgen weitere Nebengesetze nach (z. B. 1901 Verlagsgesetz, Literatururhebergesetz, 1908 Versicherungsvertragsgesetz, Scheckgesetz). Andere einzelne Teile des privaten Rechts (von geringerer Bedeutung) bleiben dem Landesrecht vorbehalten (sog. Verlustliste der deutschen Rechtseinheit).
Bei einer wertenden Betrachtung erweist sich insgesamt das Bürgerliche Gesetzbuch als ein durch seine weitgefassten Grundregeln für neue Anforderungen (z. B. Versandhandel, Selbstbedienungskauf, unbare Zahlung, elektronischer Geschäftsverkehr) durchaus offenes, recht begriffliches, ziemlich abstraktes, nach den Erscheinungsformen des subjektiven Rechtes und vom Allgemeinen zum Besonderen fortschreitend gegliedertes Erzeugnis technisch geschulter Juristen, unter denen (anders als in der Schweiz) eine überragende schöpferische Persönlichkeit fehlt. Inhaltlich überwiegen die den bürgerlichen Wirtschaftskreisen angemessenen und günstigen liberalen Ziele, zu denen sich patriarchalisch-konservative Elemente (Familienrecht und Erbrecht) und vereinzelte soziale Regelungen (§§ 138, 343, 617, 618, 829, 1149, 1229 BGB) gesellen. Wegen seiner klaren Systematik und seiner dogmatischen Gründlichkeit hat es (im Wesentlichen bis zum ersten Weltkrieg) in verschieden starkem Maß das Privatrecht Japans (1898), der Schweiz (dem Handelsrecht und Schuldrecht verbindenden Obligationenrecht von 1883 [revidiert 1911] folgendes, von Eugen Huber ausgearbeitetes Zivilgesetzbuch [1. 1. 1912], Chinas (1930), Brasiliens (1916), Thailands (1925), Perus (1936), Griechenlands (1930/1946) Italiens (1942 Codice civile) und Frankreichs sowie Ungarns, der Tschechoslowakei, Koreas oder Vietnams beeinflusst.
Lit.: Ahcin, C., Zur Entstehung des bürgerlichen Gesetzbuches für das Königreich Sachsen, 1996; Brandt, D., Die politischen Parteien und die Vorlage des Bürgerlichen Gesetzbuches im Reichstag, 1975 (Diss.); Caroni, P., Liberale Verfassung und bürgerliches Gesetzbuch im 19. Jahrhundert, 1988; Das Bürgerliche Gesetzbuch und seine Richter. Zur Reaktion der Rechtsprechung auf die Kodifikation des deutschen Privatrechts (1896-1914), hg. v. Falk, U. u. a., 2000; Dölemeyer, B., Einflüsse von ALR, Code civil und ABGB auf Kodifikationsdiskussionen und Kodifikationsprojekte in Deutschland, Ius commune 7 (1978), 179; Falk, U., Ein Gelehrter wie Windscheid, 1989; Getz, H., Die deutsche Rechtseinheit im 19. Jahrhundert als rechtspolitisches Problem, 1966; Gmür, R., Das schweizerische Zivilgesetzbuch verglichen mit dem deutschen Bürgerlichen Gesetzbuch, 1965; Gross, N., Der Code civil in Baden, 1993; Hammen, H., Die Bedeutung Friedrich Carl von Savignys für die allgemeinen dogmatischen Grundlagen des Deutschen Bürgerlichen Gesetzbuches, 1983; Die Beratung des BGB in systematischer Zusammenstellung der unveröffentlichten Quellen, hg. v. Jakobs, H./Schubert, W., Bd. 1ff. 1978ff.; Kaser, M., Der römische Anteil am deutschen bürgerlichen Recht, JuS 1967, 337ff.; Ein Jahrhundert Sozialversicherung, hg. v. Köhler, P./Zacher, F., 1981; Gieseke, L., Vom Privileg zum Urheberrecht, 1995; Krause, H., Der deutschrechtliche Anteil an der heutigen Privatrechtsordnung, JuS 1970, 313; Landau, P., Die Reichsjustizgesetze von 1879 und die deutsche Rechtseinheit, in: FS Vom Reichsjustizamt zum Bundesministerium der Justiz, 1977, 161; Muscheler, K., Die Rolle Badens in der Entstehungsgeschichte des Bürgerlichen Gesetzbuches, 1993; Rechtsvereinheitlichung durch Gesetze, hg. v. Starck, C., 1991; Rosenberg, M., Friedrich Carl von Savigny, 2000; Schulte-Nölke, H., Das Reichsjustizamt und die Entstehung des Bürgerlichen Gesetzbuchs, 1995; Sozialdemokratie und Zivilrechtskodifikation, hg. v. Vormbaum, T., 1977; Süss, W., Heinrich Dernburg, 1991; Wadle, W., Der Zollverein und die deutsche Rechtseinheit, ZRG GA 102 (1985), 99; Wagner, W., Geltungsbereiche ausländischer Kodifikationen im Deutschen Reich vor Inkrafttreten des BGB, Ius Commune 14 (1987), 203; Wieacker, F., Das Sozialmodell der klassischen Privatrechtsgesetzbücher, 1953; Wieacker, F., Industriegesellschaft und Privatrechtsordnung, 1974
In Österreich, das mit dem Ende des Deutschen Bundes deutlicher von den übrigen deutschen Ländern getrennt wird, werden 1852 eine Neufassung des Strafgesetzes von 1803, 1868 eine Konkursordnung, 1869 ein Eisenbahnhaftpflichtgesetz (mit dem Prinzip der Gefährdungshaftung), 1871 ein Notariatsgesetz und ein Grundbuchsgesetz, 1873 eine rechtsstaatliche Strafprozessordnung und ein Genossenschaftsgesetz, 1883 ein Kommassierungsgesetz (Zusammenlegung bäuerlicher Fluren), 1895 eine Zivilprozessordnung (mit Mündlichkeit, Öffentlichkeit und Unmittelbarkeit) und ein Gesetz (Jurisdiktionsnorm) über die Ausübung der Gerichtsbarkeit sowie ein Urheberrechtsgesetz, 1896 ein Aktienregulativ, 1900/1903 Anerbengesetze (Tirol, Kärnten), 1902 ein Kraftfahrzeughaftpflichtgesetz sowie 1906 ein Gesetz betreffend die Gesellschaften mit beschränkter Haftung erlassen. Unter dem Einfluss des deutschen Bürgerlichen Gesetzbuches wird in Teilnovellen 1914 (Personenrecht, Familienrecht, Erbrecht), 1915 (Nachbarrecht) und 1916 (Eigentumsvorbehalt, Belastungsverbot, Vertrag, Schuldübernahme, Auslobung, Schadensersatz, Verjährung) das Allgemeine Bürgerliche Gesetzbuch an das deutsche Bürgerliche Gesetzbuch angeglichen und 1916 durch eine Entmündigungsordnung ergänzt. Der durch das Kriegsleistungsgesetz von 1913 begünstigte erste Weltkrieg führt 1914 zur Suspendierung staatsbürgerlicher Rechte und 1917 zu einem kriegswirtschaftlichen Ermächtigungsgesetz sowie zur Wohnungszwangswirtschaft.
b) Neben dem Gesetz ist auch das Gewohnheitsrecht (eine gegenüber dem Gesetz unterlegene) Rechtsquelle. Es wird jetzt dogmatisch untersucht (Georg Friedrich Puchta [1798-1846], Das Gewohnheitsrecht 1828/1837). Tatsächlich verliert es durch die Vielzahl neuer Gesetze sehr an Bedeutung.
c) Erhebliches Gewicht kommt der juristischen Literatur zu, die mit dem weiteren Ausbau des juristischen Studiums und der Universitäten erheblich zunimmt.
Dabei stehen sich um 1890 insgesamt 200 Professoren und 6700 Studenten gegenüber. Die Vorlesungen sind in teilweise neugebildete Fachgebiete gegliedert und werden durch allmählich obligatorische praktische Übungen und durch Seminare ergänzt. Bereits das Gerichtsverfassungsgesetz von 1877 schreibt eine Mindeststudienzeit für die Aufnahme in den anschließenden praktischen Ausbildungsdienst vor.
In Österreich wird nach 1848 das Fehlen einer geschichtlichen Grundlage als Ursache für die revolutionäre Bewegung des Jahres 1848 angesehen und dementsprechend durch Unterrichtsminister Graf Leo Thun-Hohenstein eine Studienreform durchgeführt. Sie ist durch die Übernahme der Erkenntnisse der historischen Schule gekennzeichnet. Im Mittelpunkt des Studienbeginns steht die deutsche Rechtsgeschichte, für die mehrere deutsche (nichtösterreichische) Professoren nach Österreich berufen werden. Die späteren Studienjahre sind von der Pandektistik geprägt. 1893 kommt eine österreichische Reichsgeschichte hinzu.
Die wissenschaftliche Literatur befasst sich hauptsächlich mit dem gemeinen (römischen) Recht sowie auch dem gemeinen deutschen Privatrecht, das seit Conring (1606-1681), Thomasius (1655-1728) und Beyer (1665-1714) entwickelt worden war und sich bis zur Mitte des 18. Jh. als Gegenstück zum gemeinen (-römischen Privat-)Recht durchgesetzt hatte, und nur vereinzelt mit den Partikularrechten der Einzelstaaten bzw. Bundesstaaten. Diese erhalten aber verschiedene zusammenfassende Darstellungen.
Davon sind die wichtigsten: Brauer, J., Erläuterungen über den Code Napoléon und die großherzoglich badische bürgerliche Gesetzgebung, 1809ff.; Unger, J., System des österreichischen allgemeinen Privatrechts, Bd. 1ff. 1856ff. (unvollendet); Roth, P. v., Bayrisches Civilrecht, 1871ff.; Grefe, F., Hannovers Recht, 3. A. 1860f.; v. Roth, P./Meibom, V. v., Kurhessisches Privatrecht, 1858; Schmidt, A., Die geschichtlichen Grundlagen des bürgerlichen Rechts im Großherzogtum Hessen, 1893; Böhlau, H., Mecklenburgisches Landrecht, 1871ff.; Bornemann, F., Systematische Darstellung des preussischen Civilrechts, 2. A. 1842f.; Dernburg, H., Lehrbuch des preußischen Privatrechts und der Privatrechtsnormen des Reichs, 4./5. A. 1894ff.; Haubold, C., Lehrbuch des königlich sächsischen Privatrechts, 3. A. 1847f.; Reyscher, A., Das gesamte württembergische Privatrecht 1846ff.; Zachariae v. Lingenthal, C., Handbuch des französischen Civilrechts, 8. A. 1894f.
Die Zahl der einzelnen dogmatischen Abhandlungen der gemeinrechtlichen Rechtswissenschaft, die für das 19. Jh. den von den Pandekten abgeleiteten besonderen Namen Pandektistik erhält, ist unübersehbar. Methodisch vorbildlich erscheint wegen der systematisch-theoretischen Durchdringung des historisch vorgegebenen Stoffes Friedrich Carl von Savignys (1779-1861) Arbeit »Das Recht des Besitzes« (1803). Die wichtigsten Gesamtdarstellungen sind vielleicht Savignys »System des heutigen römischen Rechts«, 1839ff. (unvollendet), Georg Friedrich Puchtas (1798-1846) »Cursus der Institutionen«, 2. A. 1845f., 10. A. 1893ff., und abschließend Bernhard Windscheids (1817-1892) Pandekten (1862ff., 7. A. 1891), welche das römische Recht grundsätzlich eher bewahren als fortentwickeln. Teilweise wird das in ihnen verkörperte Juristenrecht als dem Gesetz gleichwertig angesehen.
Aus der Praxis beigesteuert werden schließlich noch die veröffentlichten Entscheidungen der Obergerichte (z. B. Canngiesser, L. v., Collectio notabiliorum decisionum, 1768ff., Oberhofgericht Mannheim 1824, Oberappellationsgericht Wiesbaden 1824, Oberappellationsgericht Lübeck 1827, Entscheidungen des - preußischen - königlichen geheimen Obertribunals, hg. v. Simon, A./Strampff, H., 1837ff., des Reichsoberhandelsgerichts, 1871-1880, und des Reichsgerichts, 1880ff.), welche die ältere, wissenschaftlich erörternde Dezisionenliteratur (Mynsinger, Gail, Pufendorf [1744ff.], Bülow/Hagemann [1798ff.]) allmählich ablösen.
3. Für das Recht im Allgemeinen gehen neue Impulse vor allem von Immanuel Kant und Gustav Hugo aus.
Nach Kant (1724-1804) besteht als einziges angeborenes Recht des Menschen seine Freiheit (ethischer Zentralbegriff). Hiervon ausgehend versteht Kant das Recht objektiv als den Inbegriff der Bedingungen, unter denen die Willkür des einen mit der Willkür des anderen nach einem allgemeinen Gesetz der Freiheit vereinigt werden kann. Sinn des Staates ist es nur, die Gerechtigkeit zu wahren.
Hugo (1764-1844) wird insofern bedeutsam, als er sich sowohl gegen eine rein antiquarisch-praktische Jurisprudenz eines Teils des usus modernus (elegante Jurisprudenz, Niederländer, Johann Gottlieb Heineccius [1681-1741]) wie auch gegen den abstrakten und doktrinären Rationalismus des späten, in Frankreich mit dem Umsturz von 1789 verbundenen Vernunftrechts wendet. Für ihn ist auf Grund seines eigenen Kant-Verständnisses im Recht alles möglich, was die Erfahrung als wirklich lehrt (selbst die Sklaverei). Ausgerichtet an der gesellschaftlichen und politischen Wirklichkeit strebt er eine allgemeine Theorie des geltenden Rechts an, nach welcher der positive Rechtsstoff philosophisch, d. h. begrifflich-systematisch, durchdrungen wird.
Auf die Ideen beider gründet sich in einem objektiven, scheinbar gegen das ungeschichtliche Naturrecht (Vernunftrecht) gerichteten Idealismus Friedrich Carl von Savigny (1779-1861), indem er in rechtspolitischer Entscheidung Kants Freiheitsethik übernimmt und Hugos methodische Forderungen nicht nur in seine methodologischen Gedankengänge einbezieht, sondern auch schon im »Recht des Besitzes« (1803) in der Form der philosophischen (begrifflichen, allgemeinen, absoluten, systematisch-theoretischen) Durchdringung des historischen (tatsächlichen, positiven, konkreten, exegetisch-praktisch behandelten) Stoffes verwirklicht, um in manchmal fast gewaltsamem Umgang mit den Quellen den Besitzwillen als allgemeines logisches konstituierendes Element des Besitzrechts konstruktiv-systematisch zu erarbeiten. Damit wird er zugleich zum Begründer der sog. historischen Rechtsschule. Sie sieht grundsätzlich das Recht an seine geschichtliche Voraussetzungen gebunden und wendet sich gegen die Vorstellung, dass jedes Zeitalter seine Welt willkürlich selbst hervorbringe. Das Recht, das Vernunft und Ordnung in sich selbst birgt und damit auch aus sich selbst heraus ergänzungsfähig ist, ist ihr vielmehr entsprechend den Vorstellungen Johann Gottfried Herders (1744-1803) ein aus dem innersten Wesen der Nation selbst und ihrer Geschichte geborener Teilbereich der Gesamtkultur und muss mit dieser, gespeist von irrationalen Kräften, organisch wachsen. Weil das Historische in der Jurisprudenz nicht mehr als zufällig, sondern als geschichtlich notwendig verstanden wird, hält sie eine Kodifikation wie das Allgemeine Landrecht (1794) oder den Code civil (1804) (zumindest in ihrer eigenen Gegenwart) für entbehrlich, wenn nicht gar schädlich. Allerdings dient die als geschichtlich behauptete Betrachtungsweise bei Savigny im Ergebnis nur dazu, den insgesamt vorhandenen Rechtsstoff von allem dem zu reinigen, was nur noch historische Bedeutung hat und deswegen für die Dogmatik bedeutungslos ist (z. B. mittelalterliche Abänderungen des antiken römischen Rechts). Schon seit seinen Landshuter Vorlesungen der Jahre 1808/1809 vertritt Savigny - ohne dass er dies näher zu begründen versucht - dabei die Ansicht, dass die Wanderungen und Revolutionen der germanischen Stämme verhindert hätten, dass das ursprüngliche germanische Recht einen festen Bezugspunkt und einzigen Mittelpunkt gefunden habe, weshalb die Deutschen gar kein eigenes ursprüngliches Recht besässen, so dass auch für sie das römische Recht das eigentümliche (organisch gewachsene, geschichtlich notwendige) Recht sei. Der nach dieser Zurückweisung des älteren deutschen Rechtes germanistischer Herkunft und nach Ausscheiden der mittelalterlichen und neuzeitlichen Entstellungen des römischen Rechts verbleibende Stoff, nämlich das klassisch-römische Recht, ist im eigentlich bei diesem historischen Verstehen unerwarteten Wiederaufgreifen naturrechtlicher Begriffsbildung und naturrechtlicher Systematik der Gegenstand konstruktiv-systematischer, die tatsächliche geschichtliche Entwicklung bewusst als überflüssig abstreifender Durchdringung, wie sie Savigny im »System des heutigen römischen Rechts« als Beispiel wissenschaftlicher Grundlegung eines modernen Privatrechts überhaupt zwischen 1840 und 1849 durchführt.
Die historische Rechtsschule teilt sich später in Romanisten (Savigny [1769-1861], Georg Friedrich Puchta [798-1846], Bernhard Windscheid [1817-1892]) und Germanisten (Karl Friedrich Eichhorn 1781-1854, Jacob Grimm 1785-1863, Otto von Gierke 1841-1921). Ihre dogmatisch-praktische Zielsetzung geht bald in der (die Geschichte abstreifenden und damit eigentlich unhistorischen) Begriffsjurisprudenz auf.
Savignys Schüler und Nachfolger auf dem Berliner Lehrstuhl Georg Friedrich Puchta (1798-1846) verlegt - seiner zeitgenössischen Wirklichkeit näherkommend - den Schwerpunkt der Rechtsentstehung vom Volk auf die Juristen als die legitimen Vertreter des Volkes bzw. des Volksgeists (d. h. des gemeinsamen Bewusstseins der durch natürliche Momente zur Einheit verbundenen Nation). Statt des Volkes sind die Juristen befugt zur selbständigen Schaffung neuer Rechtssätze. Methodisch greift Puchta dann offener als Savigny auf naturrechtliche Ansätze zurück und verpflichtet den Juristen bei der Suche nach gerechten und brauchbaren Lösungen auf ein hierarchisches System von rein juristischen, positiven und von der gesellschaftlichen Wirklichkeit (wie der Geschichte) gelösten Begriffen (Begriffspyramide), aus denen (nach vorgegebener, und damit im Gegensatz zum Positivismus im eigentlichen Sinne stehender und den Naturwissenschaften verwandter geometrischer Art) für jedes Problem konstruktiv eine Lösung gewonnen werden kann (Begriffsjurisprudenz, Positivismus).
Damit ist im Ergebnis die organische Volksgeistlehre aufgegeben und durch die Begriffsjurisprudenz ersetzt, in der ein Begriff einfach deshalb existiert, weil er als einmal gedachter nun nicht mehr nicht existieren kann, und die in der Ableitung eines Rechtssatzes und in seiner Anwendung rein verstandesmäßige, streng logische Akte sieht. Sie beherrscht im Wesentlichen die spätere Pandektistik und damit das ausgehende 19. Jh. Es wird lediglich noch der mit der Begriffsjurisprudenz verbundene wissenschaftliche Positivismus, für den das geltende Recht nur aus (geschichtlichen und daher) positiven Quellen fließt, im letzten Drittel des 19. Jh. durch den Gesetzespositivismus abgelöst, mit dem die liberal-rechtsstaatliche Überzeugung einhergeht, dass Rechtssetzung (des Parlaments) und wissenschaftliche Rechtsanwendung (der Rechtswissenschaft bzw. Rechtsprechung) entsprechend der Gewaltenteilung notwendig voneinander getrennt sein müssen.
Der Gesetzespositivismus gründet das Recht statt (wie in der vor der Gesetzgebung liegenden Zeit) auf die wissenschaftliche Autorität des Juristen auf das (seit den zahlreichen einzelnen Gesetzgebungsakten des 18. und 19. Jh.) den Volkswillen eindeutig verkörpernde Gesetz. Sein formell ordnungsmäßiges Zustandekommen (vor allem in der Volksvertretung) scheint Willkür auszuschließen und Gerechtigkeit zu garantieren. Deshalb wird der Richter auch an dieses mit dem Recht identische und damit notwendig richtige Gesetz fest gebunden.
Die positivistische Begriffsjurisprudenz wird freilich bald vor allem von Karl Marx (1818-1883) und Rudolf von Ihering (1818-1892) in Frage gestellt.
Nach Marx ist das Recht nichts absolut Vorgegebenes, sondern nur ein Teil des von der ökonomischen Basis abhängigen theoretischen Überbaus. Es dient der Sicherung der ökonomischen Herrschaftsverhältnisse (z. B. der Kapitalisten). Deswegen ist es in der vom Sozialismus unter Führung der Kommunistischen Partei angestrebten klassenlosen Gesellschaft, in der es weder Not noch Unterdrückung gibt, ebenso überflüssig wie der Staat.
Ihering, zunächst Anhänger, dann Kritiker der historischen Rechtsschule und pandektistischen Begriffsjurisprudenz, wendet sich seit etwa 1860 der sozialen Wirklichkeit zu. Beeinflusst von Auguste Comte (1798-1857) und Charles Darwin (1809-1882) begründet er einen juristischen Naturalismus. Danach ist der Zweck, dessen Subjekt unklar bleibt, der Schöpfer des Rechts. Dieses ist aus der Wirklichkeit der Gesellschaft zu erklären und durch menschliche Zwecke motiviert. Die einzelne Rechtsvorschrift kann nicht aus sich heraus, sondern nur aus dem gesetzgeberischen Motiv und ihrem Verhältnis zu den hinter dem Gesetz stehenden Interessen verstanden werden.
Iherings kritischer Ansatz wird später fortgeführt von der freien Rechtsschule und von der Interessenjurisprudenz. Von diesen geht die freie Rechtsschule oder freie Rechtsbewegung (Ernst Fuchs [1859-1929], Die Gemeinschädlichkeit der konstruktiven Jurisprudenz, 1907, weiter H. U. Kantorowicz [1877-1940], Eugen Ehrlich [1862-1922, Freie Rechtsfindung und freie Rechtswissenschaft, 1903]), davon aus, dass die konkrete Fallentscheidung des Richters in Wahrheit nicht auf logisch-verstandesmäßiger Unterordnung, sondern auf dem Rechtsgefühl beruhe. Der Richter dürfe und müsse vom Gesetz abweichen, sobald es zu unrichtigen Ergebnissen führen würde. Seine Aufgabe bestehe mehr in der am allgemeinen Wohl ausgerichteten Gesellschaftsgestaltung als in der strengen Normanwendung.
4. Deutlich wird seit Beginn des 19. Jh. auch die grundsätzliche dogmatische Trennung von öffentlichem Recht und privatem Recht. Während mit der Absonderung des öffentlichen Rechts die Macht des souveränen Fürstenstaats gegen Adel und Bürgertum abgeschirmt werden soll, steht hinter der Errichtung eines autonomen Privatrechts die vom Liberalismus getragene Absicht, aus dem Machtbereich des Staates einen Raum der Freiheit für die bürgerliche Gesellschaft auszugrenzen. Dementsprechend wird Privatrecht mit Freiheit und öffentliches Recht mit Zwang gleichgesetzt. Im Verhältnis zueinander wird (vom Liberalismus) dem Recht der Freiheit der Vorrang vor dem Recht des Zwanges eingeräumt.
Lit.: Behrends, O., Rudolph von Ihering (1818-1892), in: Rechtswissenschaft in Göttingen, hg. v. Loos, F., 1987, 229; Bohnert, J., Über die Rechtslehre Georg Friedrich Puchtas (1798-1846), 1975; Braun, J., Judentum, Jurisprudenz und Philosophie, 1997; Buschmann, A., Ursprung und Grundlagen der geschichtlichen Rechtswissenschaft, 1963 (Diss.); Buschmann, A., Das Sächsische Bürgerliche Gesetzbuch von 1863/65, JuS 1980, 553; Das Obligationenrecht 1883-1983, hg. v. Caroni, P., 1984; Das Bürgerliche Gesetzbuch und seine Richter, hg. v. Falk, U. u. a., 2000; Die Protokolle des preußischen Staatsministeriums, Bd. 1ff. 1999ff.; Dilcher, G., Der rechtswissenschaftliche Positivismus, Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie 61 (1975), 497; Ebel, F., Savigny officialis, 1987; Ebert, I., Die Normierung der juristischen Staatsexamina, 1995; Französisches Zivilrecht in Europa während des 19. Jahrhunderts, hg. v. Schulze, R., 1994; Gmür, R., Savigny und die Entwicklung der Rechtswissenschaft, 1962; Gromitsaris, A., Theorie der Rechtsnorm bei Rudolph von Ihering, 1989; Haferkamp, H., Georg Friedrich Puchta und die Begriffsjurisprudenz, 2004; Hammen, H., Die Bedeutung Friedrich Carl von Savignys für die allgemeinen dogmatischen Grundlagen des Deutschen Bürgerlichen Gesetzbuches, 1983; Hattenhauer, H., Thibaut und Savigny, 1973; Hedemann, J., Der Dresdner Entwurf von 1866, 1935; Herberger, M., Dogmatik. Zur Geschichte von Begriff und Methode in Medizin und Jurisprudenz, 1981; Holzborn, T., Die Geschichte der Gesetzespublikation, 2003; Huber, U., Das Reichsgesetz über die Einführung einer allgemeinen Wechselordnung für Deutschland vom 26. 11. 1848, JZ 1978, 785; Hundert Jahre Schweizerisches Obligationenrecht, hg. v. Peter, H./Stark, E./Tercier, P., 1982; Jakobs, H., Wissenschaft und Gesetzgebung im bürgerlichen Recht nach der Rechtsquellenlehre des 19. Jahrhunderts, 1983; Janssen, A., Otto von Gierkes Methode der geschichtlichen Rechtswissenschaft, 1974; Jherings Erbe, hg. v. Wieacker, F./Wollschläger, C., 1979; Kern, R., Georg Beseler, Leben und Werk, 1982; Köbler, G., Zur Herkunft der deutschen Rechtslehrer des 19. Jahrhunderts, FS Walter Mallmann 1978, 117; Kühne, D., Der marxistisch-sozialistische Rechtsbegriff, 1985; Landau, P., Karl Marx und die Rechtsgeschichte, TRG 41 (1973), 361ff.; Lombardi-Vallauri, L., Geschichte des Freirechts, 1971; Mauntel, C., Carl Georg von Wächter, 2004; Meder, S., Missverstehen und Verstehen, 2004; Muscheler, K., Hermann U. Kantorowicz, 1984; Naturrecht im 19. Jahrhundert, hg. v. Klippel, D., 1997; Ogorek, R., Richterkönig oder Subsumtionsautomat?, 1986; Österreichisch-deutsche Rechtsbeziehungen, Bd. 1, hg. v. Brauneder, W.,1996; Polay, E., Ursprung, Entwicklung und Untergang der Pandektistik, 1981; Ramm, T., Die großen Sozialisten als Rechts- und Sozialphilosophen, 1955; Reimann, M., Historische Rechtsschule und Common Law, 1993; Riebschläger, K., Die Freirechtsbewegung, 1968; Rückert, J., August Ludwig Reyschers Leben und Rechtstheorie, 1974; Rückert, J., Idealismus, Jurisprudenz und Politik bei Friedrich Carl von Savigny, 1984; Savignyana. Bd. 1 Pandektenvorlesung 1824/24, hg. v. Hammen, H., 1993, Bd. 2 Vorlesungen über juristische Methodologie 1802-1842, hg. v. Mazzacane, A., 1993; Schröder, J., Zur Vorgeschichte der Volksgeistlehre, ZRG GA 92 (1992), 1; Schubert, W., Französisches Recht in Deutschland zu Beginn des 19. Jahrhunderts, 1977; Strauch, D., Recht, Gesetz und Staat bei Friedrich Carl von Savigny, 2. A. 1963; Studien zur Einwirkung der Industrialisierung auf das Recht, hg. v. Coing, H., 1991; Stühler, H., Die Diskussion um die Erneuerung der Rechtswissenschaft von 1780-1815, 1978; Wadle, E., Der Zollverein und die deutsche Rechtseinheit, ZRG GA 102 (1985), 99; Wadle, E., Französisches Recht in Deutschland, 2002; Wieacker, F., Industriegesellschaft und Privatrechtsordnung, 1974; Wieacker, F., Wandlungen im Bilde der historischen Rechtsschule, 1967; Wilhelm, W., Zur juristischen Methodenlehre im 19. Jahrhundert, 1958
II. Öffentlicher Bereich
1. Verfassung
Die weitere Entwicklung der Grundordnung von Staat und Gesellschaft (Verfassung im materiellen Sinn) beruht zu einem großen Teil auf der außerhalb Deutschlands erfolgten Ausbildung der Ideen der Gewaltenteilung, der Volkssouveränität und der Grundrechte, die (seit der Virginia Bill of Rights vom 12. 6. 1776) möglichst in einer besonderen Urkunde (Verfassung in formellem Sinn) niederzulegen sind.
Die Beschränkung der Macht des (absoluten) Monarchen und die daraus folgende Teilung der Gewalt im Staat zur Sicherung der persönlichen Freiheit und des Eigentums des Bürgers in Legislative und Exekutive (Gewaltenteilung) wird schon von John Locke (1632-1704) in seinem Werk »Two treatises on government« (zwei Abhandlungen über Regierungswesen, 1690) gefordert. Diesen Ansatz führt in Frankreich Charles Montesquieu (1689-1755) in seiner Untersuchung De l’ésprit des lois (Vom Geist der Gesetze, 1748) fort. Danach gewährleistet persönliche Freiheit nur ein solcher Staat, in dem die Gewalt durch ihre Aufteilung sich selbst beschränkt. Dazu ist erforderlich, dass der König sich mit der Exekutive (Ausführung, Verwaltung) begnügt und die Legislative (Gesetzgebung) an vom Volk (indirekt) gewählte Vertreter (, die sich wie z. B. in England in ein adliges Oberhaus und ein bürgerliches Unterhaus gliedern,) überträgt. Der König kann die Legislative durch ein Vetorecht, die Volksvertreter können den König durch Kontrollrechte und das Steuerbewilligungsrecht einengen. Daneben steht als drittes die unabhängige Judikative (Rechtsprechung).
Die bereits im Mittelalter gelegentlich aufscheinende Idee der Volkssouveränität wird von Jean Jacques Rousseau (1712-1778) im Contrat social (Gesellschaftsvertrag, 1762) neu gefasst. Danach ruht, da die ursprünglich im Kampf aller gegen alle lebenden Menschen sich erst zur Wahrung von Freiheit und Gleichheit durch Vertrag zum Staat zusammenschließen, die Staatsgewalt bei dem Volk (als der Gesamtheit der diesen Vertrag abschließenden Menschen). Dessen Souveränität ist absolut, unteilbar, unveräußerlich und kommt in der volonté generale (Allgemeinwillen), die vom Einzelwillen und der Summe der Einzelwillen (volonté de tous) zu unterscheiden ist, zum Ausdruck. Die Regierenden sind nur durch Vertrag bestellte Funktionäre des Volkes, die Gesetze bedürfen der Zustimmung aller, die (in der Wirklichkeit der bestehenden großen Völker aber) nur durch die Vertreter aller in einem Parlament erfolgen kann.
Als Vorläufer von allgemeinen, dem Zugriff des Staates entzogenen Grundrechten hatten schon im Mittelalter einzelne naturrechtliche Theoretiker (Thomas von Aquin 1225-1274) Leben, Freiheit und Eigentum gesehen. In der Rechtswirklichkeit finden sich zunächst in England außer der mittelalterlichen Magna charta libertatum (1215, große Urkunde der Freiheiten), welche die Barone dem glücklosen König Johann ohne Land abgerungen hatten, in der frühen Neuzeit gewisse die Rechte des Einzelnen sichernde Urkunden (1628 Petition of Rights zur Sicherung vor willkürlicher Verhaftung und Besteuerung, 1679 Habeas-Corpus-Act zur Sicherung der persönlichen Freiheit und 1689 Declaration of Rights, die Heer, Steuern und Redefreiheit betrifft). Auch die calvinistisch geprägte Erklärung mehrerer nordwestlicher Länder (Holland, Seeland, Westfriesland) im Unabhängigkeitskampf gegen Spanien (Erklärung von Dordrecht) des Jahres 1572 betont besondere Freiheiten. In den Einzelstaaten Amerikas schließlich werden zu Beginn des Unabhängigkeitskriegs gegen England - neben den Grundsätzen der Gewaltenteilung und der Volkssouveränität - auch fundamentale Rechte (inherent rights, unalienable rights, angeborene Rechte, unveräußerliche Rechte, 1770 droits fundamentaux, grundlegende Rechte) des Einzelnen in eine eigene Urkunde (formelle Verfassung) aufgenommen (12. 6. 1776 Virginia Bill of Rights). Danach werden in Frankreich Menschenrechte (Freiheit, Gleichheit, Weltbürgertum) proklamiert (26. 8. 1789) und revolutionär eingefordert. In der zugehörigen neuen formellen Verfassung vom 3. 9. 1791, der eine erste geschriebene Konstitution (Verfassung) Europas in Polen vom 3. 5. 1791 vorausgeht, stehen sich (bis zur Umwandlung Frankreichs in eine Republik 1792) monarchische Exekutive und nach einem auf das besitzende Bürgertum ausgerichteten Zensuswahlrecht (durch die Steuerleistung des Einzelnen bestimmten Wahlrecht) gewählte Legislative gegenüber.
Für Napoleon bedeutet diese Verfassungsgebung Neuordnung von Staat und Gesellschaft. Dem folgen die Verfassungen der Rheinbundstaaten sowie die Musterverfassung von Westphalen und Berg im Jahre 1808. Sie wird (1808) auch von Bayern übernommen.
a) Die für den Deutschen Bund getroffene Regelung ist demgegenüber trotz der Tatsache, dass auch im Heiligen Römischen Reich die Diskussion um Menschenrechte bereits vor der französischen Revolution begonnen hatte (Jacobi 1783, Hommel 1784, Physiokraten, Kant 1785, 1788) ganz konservativ.
Nachdem sich zwischen 1806 und 1815 die Auffassung durchgesetzt hatte, dass das Reich auch rechtlich untergegangen sei und sich eine Restauration wegen der egoistischen Interessen der deutschen Fürsten und der außerdeutschen europäischen Staaten (Frankreich, Russland, England) als aussichtslos erweist, schließen sich 39 (41) (1864 nur noch 34) weltliche Mitgliedsstaaten (Österreich und Preußen mit ihren 1803 zum Reich gehörigen Gebieten, Bayern, Sachsen, Hannover, Württemberg, Baden, Kurhessen, Großherzogtum Hessen, Dänemark wegen Holstein, Niederlande wegen Luxemburg, Sachsen-Weimar, Sachsen-Gotha, Sachsen-Coburg, Sachsen-Meiningen, Sachsen-Hildburghausen, Braunschweig, Nassau, Mecklenburg-Schwerin, Mecklenburg-Strelitz, Holstein-Oldenburg, Anhalt-Dessau, Anhalt-Bernburg, Anhalt-Köthen, Schwarzburg-Sondershausen, Schwarzburg-Rudolstadt, Hohenzollern-Hechingen, Hohenzollern-Sigmaringen, Liechtenstein, Reuß ältere Linie, Reuß jüngere Linie, Schaumburg-Lippe, Lippe, Waldeck und die 4 selbständig gebliebenen Städte Lübeck, Frankfurt am Main, Bremen und Hamburg) mit 30 Millionen Einwohnern (Österreich 31%, Preußen 26%) zu einem Staatenbund zusammen. Sein Organ ist die Bundesversammlung bzw. der ständige Bundestag (Gesandtenkongress) in Frankfurt am Main. In dessen selten zusammengetretenem Plenum hat jeder Staat mindestens eine, höchstens aber vier (Österreich, Preußen) der insgesamt 69 Stimmen, im engeren Rat die elf größten Staaten je eine, die übrigen 28 zusammen sechs. Den Vorsitz führt Österreich. Der Bund selbst hat grundsätzlich weder gesetzgebende noch vollziehende noch richterliche Gewalt. Nach Art. 13 der in den Artikeln 16 und 18 eine Reihe von Rechten der Untertanen (u. a. gesetzlich beschränkbare Pressefreiheit) aufführenden Bundesakte wird in allen Bundesstaaten eine (von den verschiedenen Staaten unterschiedlich verstandene) landständische Verfassung stattfinden, doch muss nach Art. 57 der Wiener Schlussakte (1820) die gesamte Staatsmacht in dem Oberhaupt des Staates vereinigt bleiben und darf der Landesfürst durch eine landständische Verfassung nur in der Ausübung bestimmter Rechte an die Mitwirkung der Stände gebunden werden. Die dem Attentat des Studenten K. L. Sand auf den Liberalismus und Burschenschaften verspottenden Dichter und Kulturattaché Russlands August von Kotzebue (1761-1819) nachfolgende Wiener Schlussakte von 1820 erhebt das monarchische Prinzip zum Verfassungsgrundsatz, sichert aber auch den Bestand der vorhandenen landständischen Verfassung.
b) In den einzelnen Bundesstaaten verläuft die Entwicklung in Richtung auf eine formelle Verfassung verschieden.
In einem Teil der süddeutschen Mittelstaaten werden trotz Ablehnung der Grundsätze der Volkssouveränität und Gewaltenteilung Veränderungen insofern getroffen, als nach französischem Vorbild von 1814 (oktroyierte Charte constitutionelle König Ludwigs XVIII., monarchisches Prinzip, aber ein Teil der Machtbefugnisse des Königs auf andere Staatsorgane übertragen) zwecks Stärkung der eigenen Souveränität und Schwächung des altständischen Adels alle Gebiete zu einem einheitlichen Staat zusammengefasst werden, Staat und privater Hof des Fürsten getrennt werden und ein für Gesetzgebung, allgemeine Verwaltungsgrundsätze und Verwaltungsstreitsachen geschaffener Staatsrat von Ministern gebildet wird. Daneben beendet ein Teil der Fürsten freiwillig die absolutistische Periode und gewährt aus souveräner Machtvollkommenheit und ohne Rücksicht auf die früheren landständischen Zustände Verfassungen, welche die Gesellschaft vor staatlicher Willkür schützen und zugleich durch Repräsentationsorgane am Staatsleben teilhaben lassen (Nassau [vom Freiherrn vom Stein beeinflusst, am 3. 9. 1814 verkündet unter Rückdatierung auf den 2. 9. 1814, mit Herrenbank und Versammlung der Landesdeputierten, ohne Volkssouveränität, oktroyiert, aber die Landstände bereits als Vertreter der Gesamtheit der Bürger verstehend], Bayern 26. 5. 1818 [Sicherheit der Person, des Eigentums, ordentlicher Richter, Gewissensfreiheit, Pressefreiheit, Freizügigkeit], Baden 22. 8. 1818, Württemberg 25. 9. 1819 [zwischen dem Landesfürsten und den Landständen vereinbart], Hessen-Darmstadt 17. 12. 1820) (konstitutionelle Monarchie, in welcher der Monarch allein die Regierung ernennt, [Frühkonstitutionalismus]) und rasch als dem einfachen Gesetz übergeordnet gelten. Auf Grund dieser Verfassungen besteht die Vertretung des Landes (»Landstände«) nach englischem Beispiel regelmäßig aus einer ersten Kammer (Prinzen, Adel[, Standesherren], Vertreter von Kirche und Universität) und einer zweiten Kammer (nach ständischem, meist zweistufigem Wahlrecht gewählte Vertreter). Obwohl ihre Zustimmung für neue Gesetze und Steuern erforderlich ist, sind sie im Sinne des um 1800 als Schlagwort entstandenen monarchischen Prinzips -, dem Wilhelm Albrecht dadurch, dass er in einer Rezension in den Göttinger gelehrten Anzeigen vom 21. 9. 1837 - mit der Vorstellung, dass die Staatsgewalt vom Fürsten ausgeht, dieser das Staatsgebiet als Privateigentum hat und der Staat mit dem Tod des Fürsten endet, brechend - den Monarchen als Organ der juristischen Person Staat einordnet, erstmals im deutschen Schrifttum die Legitimationsgrundlage entzieht -, ein dem König nachgeordnetes Organ ohne Gesetzesinitiativrecht. Im Übrigen werden in besonderen Sätzen Rechte und Pflichten der Staatsbürger festgelegt (Gleichheit bezogen auf bestimmte Sachverhalte, Freiheit der Person und des Gewissens [Pressefreiheit, Auswanderungsfreiheit, Schutz vor willkürlicher Verhaftung, Berufswahlfreiheit], Sicherung des Eigentums, Recht auf den gesetzlichen Richter). Teilweise wird die Ministerverantwortlichkeit eingeführt (in Württemberg Ministerverantwortlichkeit mit Gegenzeichnung sowie Staatsgerichtshof mit der Möglichkeit der Anklage von Verfassungsverletzungen).
In den norddeutschen Mittelstaaten und Kleinstaaten erfolgt ebenfalls früh eine erste vorsichtige Lockerung der ältern Zustände (, 8. 1. 1816 Schwarzburg-Rudolstadt, 15. 1. 1816 Schaumburg-Lippe, 19. 4. 1816 Waldeck, 5. 5. 1816 Sachsen-Weimar – mit Freiheitsrechten -, 19. 3. 1818 Sachsen-Meiningen-Hildburghausen). Nach der französischen Revolution von 1830, in deren Gefolge in dem aus den Niederlanden durch Abspaltung der südlichen (vielfach französisch sprechenden) Landesteile neu enstandenen Belgien (1831) eine besonders liberale, politisch dem deutschen Bürgertum fortan als vorbildlich geltende Verfassung (Volkssouveränität, parlamentarisches System, Grundrechte) eingeführt wird, werden auch in Norddeutschland die Neuerungen der süddeutschen Staaten verwirklicht und dem Staat die Staatsbürger als Träger von (noch ungleichen) Rechten gegenübergestellt (Hessen-Kassel [Kurhessen] 1831, Sachsen 1831, Braunschweig 1832, Hannover 1833, wo der Widerruf der Verfassung durch den 1837 als König folgenden Ernst August wegen Fehlens seiner Zustimmung zu einem Verfassungskonflikt und danach zu einer weitgehenden Wiederherstellung der widerrufenen Verfassung führt), ohne dass auch der in Belgien anerkannte Grundsatz der Volkssouveränität bereits übernommen wird. 1846 verlangt der Tübinger Staatsrechtler Robert von Mohl (1799-1875) die Regierungsbildung durch die Mehrheit der Volksvertretung.
In Preußen wird die schon 1810 und 1815 zugesagte Repräsentation bzw. Verfassung - nach zwischenzeitlicher Erneuerung der alten Landstände (1823-1824) und Scheitern eines vereinigten Landtags von 1847 an Meinungsverschiedenheiten über das Recht zum regelmäßigen Zusammentritt und Scheitern einer preußischen verfassunggebenden Nationalversammlung von 1848 - erst im Gefolge der Unruhen von 1848 oktroyiert (5. 12. 1848/31. 1. 1850). Sie enthält ein nach der Steuerleistung (mehr Steuern, mehr Recht) gestaffeltes, aus der Landgemeindeordnung des Jahres 1845 übernommenes, bis 24. 8. 1918 geltendes Dreiklassenwahlrecht (30. 5. 1849), das Budgetrecht beider Kammern des Parlaments und einen vom höchsten preußischen – insofern als Vorläufer eines noch fehlenden besonderen Verfassungsgerichts tätigen - Gericht durchaus angewandten Katalog der Rechte (Grundrechte) der Preußen. Ihre nach belgischem Vorbild verhältnismäßig liberalen Errungenschaften werden zum Teil bald eingeschränkt, so dass Preußen trotz des Anscheins einer konstitutionellen Monarchie ein konservativer Obrigkeitsstaat bleibt.
In Österreich wird am 14. 3. 1848 als Folge der revolutionären Unruhen die Zensur aufgehoben und die Errichtung einer Nationalgarde zur Aufrechterhaltung von Ruhe und Ordnung gestattet. Am 25. 4. 1848 wird vom Kaiser eine Ungarn und Lombardo-Venetien (nicht aber Böhmen) ausnehmende Verfassung gegeben (oktroyiert), die im Zusammenwirken mit einem ständischen Zentralausschuss im Wesentlichen unter dem Innenminister Franz Xaver von Pillersdorf unter Verwendung des belgischen Vorbilds geformt wird (Aprilverfassung, Pillersdorfsche Verfassung mit Gewaltenteilung, Gesetzgebung durch Kaiser [absolutes Vetorecht] und Reichstag, Gesetzesvollzug durch Kaiser, Gegenzeichnung der Vollzugshandlungen des Kaisers durch den verantwortlichen Minister, Reichstag bestehend aus Senat [vor allem Prinzen und Großgrundeigentümer] und Abgeordnetenkammer [indirekte Wahl, Wahlrecht für alle Männer über 24, ausgenommen Tagelöhner, Dienstboten und Wohlfahrtsempfänger], Grundrechtskatalog mit Gleichheit vor dem Gesetz, Glaubensfreiheit, Gewissensfreiheit, Schutz vor ungesetzlicher Verhaftung, Briefgeheimnis, aber ohne Anerkennung der Volkssouveränität, konstitutionelle Monarchie). Sie wird auf Forderungen von Demonstranten (Sturmpetition) hin abgeändert (Einkammersystem [ohne Senat] ohne Steuerzensus). Am 22. 10. 1848 wird der österreichische Reichstag wegen eines Aufstands nach Kremsier in Mähren (Kromeriz) verlegt, wo er den Kremsierer Entwurf erarbeitet, der auf der Grundlage der neuen Vorstellung der Volkssouveränität inhaltlich im Wesentlichen der Pillersdorfschen Verfassung entspricht (Volkskammer und Länderkammer, Reichsgericht), aber infolge Auflösung des Reichstags durch den Kaiser (Franz Joseph) im März 1849 nicht beschlossen werden kann. Nach dem militärischen Sieg über die Revolution oktroyiert der Kaiser die (an den Kremsierer Entwurf angelehnte) Märzverfassung vom 4. 3. 1849, die erstmals die nichtdeutschen Gebiete Ungarn und Lombardo-Venetien einschließt. Sie stellt dem Kaiser den aus Oberhaus und Unterhaus bestehenden Reichstag gegenüber und sieht einen einheitlichen Gesamtstaat, ein kaiserliches Notverordnungsrecht, einen beratenden Reichsrat und eine Ministerverantwortlichkeit vor. Hinzu kommt in einem eigenen Patent ein Grundrechtskatalog (ausgenommen Ungarn und Lombardo-Venetien). Die ganze Verfassung tritt trotz Verkündung allerdings nicht als Ganzes in Kraft (Reichstag und auch Landtage werden nie einberufen) und wird am 31. 12. 1851 (Silvesterpatente) als unangemessen und unausführbar aufgehoben. Da die damit vollzogene Rückkehr zum Absolutismus (Neoabsolutismus mit Gesetzgebung durch den Kaiser, weitgehender Außerkraftsetzung des Grundrechtskatalogs, Bildung von Statthaltereien in jedem Land und Kreisbehörden sowie Bezirksämtern, 1855 Bündnis von Thron und Altar durch Abschluss eines Konkordats mit der katholischen Kirche) bei der Bevölkerung tiefe Unzufriedenheit bewirkt, wird nach der Niederlage gegen die italienische Einigungsbewegung (Königreich Sardinien, bei Solferino am 24. 6. 1859) am 20. 10. 1860 ein neues Staatsgrundgesetz als allgemeiner Rahmen gewährt (Oktoberdiplom), demzufolge die Gesetzgebung unter Mitwirkung der Landtage oder des Reichsrats ausgeübt werden soll. Da das Oktoberdiplom weder in Ungarn noch in Böhmen Billigung findet, wird am 26. 2. 1861 das Februarpatent verkündet. Es versteht als Verfassung des Reiches einen Inbegriff von Grundgesetzen (Pragmatische Sanktion, Oktoberdiplom, Grundgesetz über die Reichsvertretung, Landesordnungen) und sieht für den Reichsrat zwei Kammern (Herrenhaus, Abgeordnetenhaus) vor. 1862 werden die Gesetze zum Schutz der persönlichen Freiheit und zum Schutz des Hausrechts erlassen (Anspruch auf den gesetzlichen Richter, Verhaftung und Hausdurchsuchung nur auf Grund eines richterlichen Befehls). Sachlich scheitert allerdings das Februarpatent am Widerstand der Liberalen, der Tiroler, Polen, Tschechen, Kroaten und Ungarn. Deshalb wird das Grundgesetz über die Reichsvertretung am 20. 9. 1865 (Sistierungspatent) sistiert. Nach der Niederlage des Deutschen Bundes (unter der Führung Österreichs) gegen Preußen bei Königgrätz und der anschließenden Auflösung des Deutschen Bundes kommt es am 12. 6. 1867 auf ungarische, schon am 11. 4. 1848 durch 31 Gesetzartikel vorläufig beruhigte Forderungen hin zu einem »Ausgleich«, in dem der Kaiser von Österreich die Selbständigkeit und Unabhängigkeit Ungarns (mit Siebenbürgen und Kroatien-Slawonien) anerkennt und nur Herrscher, auswärtige Angelegenheiten, Armee und Finanzwesen als pragmatische Angelegenheiten (über ein gemeinsames k. u. k. [kaiserlich und königliches] Ministerium) gemeinsam sein sollen (Realunion österreichisch-ungarische Monarchie, Zweistaatenmonarchie Österreich-Ungarn bestehend aus Cisleithanien [die im Reichsrat vertretenen Länder] und Transleithanien [die Länder der ungarischen Krone], zwei Staatsbürgerschaften, Vielvölkerstaat mit 11 verschiedenen Nationalitäten [Deutsche, Ungarn, Tschechen, Polen, Ruthenen, Rumänen, Kroaten, Serben, Slowaken, Slowenen, Italiener], davon in Cisleithanien 35,6% Deutsche). Danach werden am 21. 12. 1867 sechs Gesetze (Staatsgrundgesetz über die allgemeinen Rechte der Staatsbürger, Gesetz über die Änderung des Grundgesetzes über die Reichsvertretung [des Februarpatents] mit Entsendung der Mitglieder durch die Landtage [1873 direkte Volkswahl nach Zensuswahlrecht], Staatsgrundgesetz über die Einsetzung eines Reichsgerichts, Staatsgrundgesetz über die richterliche Gewalt, Staatsgrundgesetz über die Regierungs- und Vollzugsgewalt, Delegationsgesetz für den Einbau des österreichisch-ungarischen Ausgleichs in die Verfassung Cisleithaniens) erlassen, die zusammengenommen die Dezemberverfassung bilden (Reichsrat mit Herrenhaus und Abgeordnetenhaus, Grundrechte in 19 Artikeln, Reichsgericht als Verfassungsgerichtshof, Trennung von Verwaltung und Justiz, oberster Gerichts- und Kassationshof in Wien für Zivilsachen und Strafsachen). Dem Wahlrecht bleibt bis 1907 (Becksche Wahlreform) bzw. bis 1918 (Einführung des Frauenwahlrechts) der Gedanke der Gleichheit fremd.
c) Die deutsche verfassunggebende Nationalversammlung von 1848 (Frankfurter Paulskirchenversammlung) erarbeitet vom 3. 7. 1848 an zunächst ein Reichsgesetz betreffend die Grundrechte des deutschen Volkes (27. 12. 1848, Grundrechtskatalog). Gewährleistet werden mit der Zielrichtung des Schutzes gegen hoheitliche Eingriffe (Bindung aller staatlichen Gewalt) vor allem Reichsbürgerrecht, Unverletzlichkeit der Person, Meinungsfreiheit, Glaubensfreiheit, Gewissensfreiheit, Gewerbefreiheit, Berufsfreiheit, Lehrfreiheit, Wissenschaftsfreiheit und Vereinsfreiheit, Petitionsrecht, Schutz des Eigentums und der Wohnung sowie das Schwurgericht. Nach dem am 27. 3. 1849 abgeschlossenen organisatorischen Teil soll das Reich ein Bundesstaat mit einem erblichen Kaiser der Deutschen an seiner Spitze sein. Der Reichstag soll aus einem Staatenhaus (192 von den Regierungen und den Parlamenten der Einzelstaaten ausgewählte Mitglieder) und einem Volkshaus (Abgeordnete aus geheimen, direkten, allgemeinen und gleichen Wahlen) bestehen. Zwischen Bund und Einzelstaaten sind die Zuständigkeiten verteilt. Allerdings kann diese Verfassung wegen des Scheiterns des Revolutionsversuchs nicht in die Wirklichkeit umgesetzt werden (Grundrechtskatalog durch Bundesbeschluss vom 23. 8. 1851 aufgehoben).
d) Für den zwischen Einheitsstaat und Staatenbund stehenden Norddeutschen Bund wird eine besondere Verfassung von dem preußischen Ministerpräsidenten Otto von Bismarck (1815-1898) vorgelegt und von einem beratenden norddeutschen Reichstag und den Landtagen der Einzelstaaten im Frühjahr (16. 4.) 1867 angenommen.
Danach hat der Norddeutsche Bund ein Präsidium, einen Reichstag und einen Bundesrat. Das Präsidium (König von Preußen) vertritt den Bund nach außen, entscheidet über Krieg und Frieden, hat den Oberbefehl über das Heer, die Aufsicht über die Ausführung der Bundesbeschlüsse und die Bundesexekution. Ihm wird der Bundeskanzler zur Ausübung seiner Befugnisse beigeordnet. Die Anordnungen und Verfügungen des Bundespräsidiums bedürfen zur Gültigkeit der Gegenzeichnung des Bundeskanzlers. Der Bundeskanzler (Bismarck) ist verantwortlicher Minister (Gegenzeichnungsrecht), wodurch der Bund konstitutioneller Staat wird, in dem das Präsidium eigentlicher Träger der Exekutivgewalt ist. Die Souveränität steht der Gesamtheit der verbündeten Regierungen zu, die für die Gesetzgebung und die Ausführung der Bundesbeschlüsse im Bundesrat, in dem Preußen 17 von insgesamt 43 Stimmen hat, zusammengeschlossen sind. Der in allgemeiner, direkter und geheimer Wahl bestimmte Reichstag (297 Abgeordnete) wirkt als Volksvertretung ebenfalls bei der Gesetzgebung (in der Form der Zustimmung zu Gesetzesbeschlüssen des Bundesrats) mit. Im Jahre 1869 wird außerdem ein gemeinsamer oberster Gerichtshof für Handelssachen (Bundesoberhandelsgericht in Leipzig) eingerichtet.
e) Diese durch einfache Gesetzgebung umformbare Verfassung des Norddeutschen Bundes bildet die Grundlage der weder noch dem monarchischen Prinzip noch schon der Volkssouveränität gänzlich verpflichteten Reichsverfassung des neuen Bundesstaats Deutsches Reich vom 16. 4. 1871, die den freiwillig beitretenden süddeutschen Staaten (Bayern, Baden, Württemberg, Hessen-Darmstadt) gewisse Reservatrechte (Post, Eisenbahn, Heer, Steuern) belassen muss (und in den Kolonien nicht eingeführt wird). Im Übrigen ändert sich nur wenig. Das Reich wird nach außen durch den deutschen Kaiser (König von Preußen als „Präsidium des Bundes“) und den von ihm (als einzigen Minister) ernannten, nur von seinem Vertrauen abhängigen und die kaiserlichen Anordnungen und Verfügungen gegenzeichnenden Reichskanzler (preußischer Ministerpräsident [anfangs Otto von Bismarck], Vorsitzender des Bundesrats) vertreten, ohne dass der Kaiser mehr als der (erbliche) Inhaber der Präsidialrechte im Reich ist. Träger der Souveränität ist die Gesamtheit der Fürsten und freien Städte. Der mit stellvertretenden Bevollmächtigten (der 25 „Bundesstaaten“) besetzte Bundesrat, dessen Mitgliederzahl (Stimmenzahl) auf 58 erhöht wird, ist oberstes Organ des Reiches und wirkt vor allem bei der Gesetzgebung mit, wobei sowohl Preußen (17 Stimmen) allein als auch Bayern (6), Sachsen (4) und Württemberg (4) zusammen (14 Stimmen) in vielen Fragen zur Einlegung eines Vetos in der Lage sind. Der seit 1890 an Bedeutung gewinnende, 1908 erstmals zur selbständigen Mehrheitsbildung findende Reichstag mit nunmehr 382 aus allgemeinen, gleichen, geheimen und direkten Wahlen nach dem Mehrheitswahlsystem hervorgegangenen Abgeordneten stimmt grundsätzlich über Gesetzesvorlagen ab und hat den jährlichen Reichshaushalt zu bewilligen. Er gliedert sich in Parteien (Nationalliberale, Deutschkonservative 1876, Freikonservative, Zentrum 1870, Fortschrittspartei 1861 bzw. Freisinnige 1884, Sozialdemokraten 1875), die in wechselnder Zusammensetzung die Politik des Kanzlers stützen oder angreifen. Vom Bundesrat und Reichstag beschlossene Gesetze muss der Kaiser vollziehen (ausfertigen und verkünden), ihre Ausführung ist – von einigen wichtigen Ausnahmen abgesehen – Aufgabe der Gliedstaaten („Bundesstaaten“). Die Zuständigkeit ist zwischen Reich (Außenpolitik, Zoll, Handel, Verkehr, Post und Heer) und den 25 Einzelstaaten (allgemeine Verwaltung, Justiz, Kultur) aufgeteilt. In der Gesetzgebung hat das Reich die Kompetenzkompetenz, welche die Erweiterung der Zuständigkeit zu Gunsten des Reichs gestattet (z. B. 1873 für das Gebiet des bürgerlichen Rechtes). Das 1871 zum Reichsoberhandelsgericht umgewandelte Bundesoberhandelsgericht des Norddeutschen Bundes (eröffnet am 5. 8. 1870, erster Präsident Eduard Pape) wird am 1. 10. 1879 in das Reichsgericht (in Leipzig) überführt. Grundrechte als Schranken der Staatsgewalt werden in der Verfassung in Übereinstimmung mit der führenden staatsrechtlichen Lehre (Paul Laband 1838-1918) grundsätzlich nicht aufgenommen (anders Petitionsrecht, Wehrgleichheit, Wahlrecht), doch ist ihr bereits allgemein anerkannter Grundbestand größtenteils durch Einzelgesetze (nach Gewerbefreiheit, Koalitionsfreiheit, Freizügigkeit und Bekenntnisfreiheit [1867, 1869] Pressefreiheit [1874], Rückwirkungsverbot [StGB 1870], gesetzlicher Richter [GVG 1877], persönliche Freiheit [StGB 1877], Briefgeheimnis [Postgesetz 1871]) verwirklicht. Insgesamt wird das Deutsche Reich als Rechtsstaat angesehen. In seiner Verfassungswirklichkeit verschieben sich Zuständigkeiten von den Mitgliedstaaten auf das Reich und von der ausführenden Gewalt auf den Reichstag als führender politischer Kraft.
Lit.: Blickle, P., Von der Leibeiegenschaft zu den Menschenrechten, 2003; Böckenförde, E., Gesetz und gesetzgebende Gewalt, 2. A. 1981; Björner, U., Die Verfassungsgerichtsbarkeit, 2000; Böckenförde, E., Die deutsche verfassungsgeschichtliche Forschung im 19. Jahrhundert, 1961; Dürig, G./Rudolf, W., Texte zur deutschen Verfassungsgeschichte, 2. A. 1979; Ehrle, P., Volksvertretung im Vormärz, 1979; Fenske, H., Der moderne Verfassungsstaat, 2000; Grimm, D., Deutsche Verfassungsgeschichte 1776-1866, 1988; Greve, F., Die Ministerverantwortlichkeit im konstitutionellen Staat, 1977; Handbuch der Grundrechte, hg. v. Merten, D. u. a., 2004; Grund- und Freiheitsrechte von der ständischen zur spätbürgerlichen Gesellschaft, hg. v. Birtsch, G., 1987; Grundrechte im 19. Jahrhundert, hg. v. Dilcher, G. u. a., 1982; Kersten, J., Georg Jellinek und die klassische Staatsrechtslehre, 2000; Kleinheyer, G., Staat und Bürger im Recht, 1959; Kröger, K., Einführung in die jüngere deutsche Verfassungsgeschichte (1806-1933), 1988; Kumpf, J., Petitionsrecht und öffentliche Meinung im Entstehungsprozess der Paulskirchenverfassung 1848/49, 1978; Laband, P., Das Staatsrecht des Deutschen Reiches, 1876; Laufs, A., Die rechtsstaatlichen Züge des Bismarck-Reiches, in: Rechtshistorische Studien, 1977, 72; Meinungsfreiheit, hg. v. Schwartländer, J./Willoweit, D., 1986; Obenaus, H., Anfänge des Parlamentarismus in Preußen bis 1848, 1984; Olechowski, T., Die Entwicklung des Pressrechts in Ölsterreich, 2004; Parteien im Wandel, hg. v. Dowe, D. u. a. 1999; Rauh, M., Die Parlamentarisierung des Deutschen Reiches, 1977; Reibstein, E., Volkssouveränität und Freiheitsrechte Bd. 1f. 1972; Siemann, W., Die Frankfurter Nationalversammlung 1848/49, 1976; Schmidt-Aßmann, E., Der Verfassungsbegriff in der deutschen Staatslehre der Aufklärung und des Historismus, 1967; Schulz, A., Die Gegenzeichnung, 1978; Suppé, R., Die Grund- und Menschenrechte in der deutschen Staatslehre, 2004; Westerkamp, D., Pressefreiheit und Zensur, 1999; Zur Geschichte der Erklärung der Menschenrechte, hg. v. Schnur, R., 1964
2. Verwaltung
a) Deutscher Bund und Deutsches Reich
Der Deutsche Bund hat als Folge seiner Wesens als Staatenbund keine nennenswerte eigene Verwaltung.
Im Bundesstaat (zweites) Deutsches Reich sind dem Reichskanzler als dem Leiter der Reichspolitik Staatssekretäre (Äußeres, Inneres, Justiz, Post, Schatzamt) unterstellt. Daneben entstehen zur Abwehr der liberalen Wunschvorstellungen eines verantwortlichen Reichsministeriums (Reichskanzleramts) selbständige Reichsbehörden (1870 Auswärtiges Amt, Admiralität [1872], Reichseisenbahnamt [1873] sowie durch Auflösung bzw. Aufteilung des Reichskanzleramts das Reichspostamt [1876 bzw. 1880], Reichsjustizamt [1877], Amt für Inneres [1879] und Reichsschatzamt [1879]), deren Leiter bald dem Kaiser unmittelbar verantwortlich werden und deren Zahl sich während des ersten Weltkriegs erhöht (Reichsarbeitsamt, Reichswirtschaftsamt).
Das Recht der Reichsbeamten wird in einem Reichsbeamtengesetz geregelt (31. 1. 1873), das die schon im Allgemeinen Landrecht (1794) gewährten Rechte (z. B. Schutz gegen willkürliche Entlassung) verstärkt.
Die einheitliche Marine und das nach einem festgelegten Verhältnis von den Bundesstaaten gestellte Heer unterstehen dem Befehl des Kaisers. An Einnahmen hat das Reich die Zölle und Verbrauchsabgaben, die aber von den Landesbehörden verwaltet werden, bis zur Höhe von 130 Millionen Mark (1879 Franckensteinsche Klausel) sowie die Posteinkünfte und Beiträge der Einzelstaaten (Matrikularbeiträge). Später werden zur Verbesserung der bedrängten Finanzlage besondere Reichssteuern festgesetzt (1881 Stempelsteuer, 1902 Schaumweinsteuer, 1906 Erbschaftsteuer u. a., 1913 außerordentliche, bereits progressiv gestaffelte Einkommensteuer, 1916 Vorläufer der Umsatzsteuer, 1917 Beförderungsteuer).
b) Länder
Während des Deutschen Bundes liegt die Verwaltung gänzlich, während des Deutschen Reiches überwiegend bei den Ländern. Ihr Grundprinzip wird es im Gegensatz zum absolutistischen Polizeistaat, dass der Einzelne grundsätzlich auf sich allein gestellt ist und es ihm überlassen bleibt, sich durchzusetzen. Dementsprechend werden die zulässigen Eingriffe der Verwaltung in die Freiheit der Bürger (Eingriffsverwaltung) durch den Liberalismus auf bloße Ordnungsfunktionen beschränkt (Nachwächterstaat [Lassalle]). Erst später entsteht infolge des Bevölkerungswachstums, der zunehmenden Vermögenslosigkeit und einer sich verändernden Lebenseinstellung der Bürger ein Bedürfnis nach öffentlicher Daseinsvorsorge, das die Verwaltung dazu veranlasst, eigene Leistungen zu erbringen (öffentlicher Verkehr, öffentliche Stromversorgung, Wasserversorgung und Gasversorgung, Abfallentsorgung, Leistungsverwaltung).
Schon zu Beginn des 19. Jh. wird dabei unter französischem Einfluss die Organisation der Staatsbehörden verbessert. In Preußen werden zu diesem Zweck durch die Stein-Hardenbergschen Reformen 1808 die mehreren bisher nebeneinanderbestehenden Kollegialbehörden durch ein einheitliches zentrales Ministerium (Staatsministerium) mit sachlich qualifizierten Fachministern (zunächst Auswärtiges, Krieg, Inneres, Finanzen, Justiz) mit Verantwortlichkeit gegenüber dem König und Gegenzeichnungsrecht ersetzt, wodurch rein tatsächlich die monarchische Macht eingeschränkt wird. Die Provinzialbehörden erhalten den Namen Regierungen und geben verwaltungsgerichtliche Funktionen an Justizkollegien ab. Der Landrat in der Kreisverwaltung behält seine Stellung. Die einzelne Behörde wird allmählich rational-bürokratisch aufgebaut und der Beamte allgemein unter Verbesserung seiner Rechtsstellung (Schutz vor willkürlicher Entlassung) zu Leistung und unbedingtem Gehorsam in Wahrnehmung eines öffentlichen Amtes verpflichtet (Staatsdiener). Eine Trennung von Justiz und Verwaltung auch auf unterster Ebene setzt sich nur langsam durch (Württemberg 1818, Kurhessen 1820, Preußen 1849, Hannover 1850, Baden 1857, Österreich 1867). Daneben versuchen die preußischen Reformer im anfänglichen Unterschied zu anderen Einzelstaaten auch, den Einzelnen zur Mitarbeit am Staat heranzuziehen. Dazu wird unter dem Einfluss Adam Smiths in der preußischen Städteordnung vom 19. 11. 1808 zwecks Freisetzung von Kräften die ältere Stadtverfassung aufgehoben. Rechtsprechung und Polizei werden an staatliche Behörden übertragen. Unter der Vorstellung von der Beschränkung der staatlichen Verwaltung auf die oberen Ebenen wird die gesamte kommunale Verwaltung (insbesondere die Wohlfahrtspflege) der Stadtgemeinde überlassen (kommunale Selbstverwaltung, im Gegensatz etwa zu Frankreich, das nach der Revolution von 1789 alle Munizipalitäten in Stadt und Land zu untersten staatlichen Verwaltungseinheiten macht.) Dazu wählt deren Bürgerschaft mittels eines Dreiklassenwahlrechts eine Stadtverordnetenversammlung als gesetzgebendes und allgemein ausführendes Organ und diese einen Magistrat als (bis 1831) abhängiges, rein ausführendes Vollzugsorgan (Magistratsverfassung im Gegensatz zur rheinischen Bürgermeisterverfassung mit dem Bürgermeister an der Spitze des einzigen Beschlussorgans). Dem Staat steht nur eine eingeschränkte Aufsicht zu (vgl. auch Baden 1831 Gemeindegesetz, Preußen 1853 Städteordnung, Bayern 1869 Gemeindeordnung). Im Vergleich hierzu wird den Provinzen, Kreisen und Landgemeinden, die zunächst ebenfalls ausschließlich staatliche Verwaltungsbehörden sind, erst spät ein großer Wirkungskreis zu selbständiger Erfüllung mit eigenen Kräften übertragen (1872 Kreisordnung, 1875 Provinzialordnung, 1891 Landgemeindeordnung).
In Österreich wird am 17. 3. 1849 das bald wieder aufgehobene provisorische Gemeindegesetz erlassen, das den Gemeinden Aufgaben der aufgehobenen Patrimonialherrschaft zuteilt und Selbstverwaltung durch Gemeindeausschuss und Gemeindevorstand überträgt.
Der aufgeklärte Polizeibegriff des preußischen Allgemeinen Landrechts (1794) wird durch die Verordnung wegen verbesserter Einrichtung der Provinzial- und Finanzbehörden (1808) aufgegeben und auch durch das preußische Polizeiverwaltungsgesetz von 1850 noch nicht wiedereingeführt. In Österreich wird die Verwaltung unter Metternich (1773-1859, 13. 3. 1848 erzwungener Rücktritt) zum Instrument der Bespitzelung und Unterdrückung des Einzelnen. Dagegen erlassen bald nach 1848 Bayern (1861), Baden (1863) und Württemberg (1871) Polizeistrafgesetzbücher, die dem rechtsstaatlichen Begriff der Polizei, wie er dem preußischen Allgemeinen Landrecht zugrundeliegt, folgen und teils selbst Verbotsvorschriften, teils Ermächtigungen hierzu enthalten, allerdings auch eine subsidiäre stillschweigende Generalermächtigung zur Gefahrenabwehr nicht ausschließen. In Preußen spricht dann das preußische Oberverwaltungsgericht (1882) der Polizei die Zuständigkeit für Maßnahmen der Wohlfahrtspflege, sofern eine spezielle gesetzliche Grundlage hierfür fehlt, ab (Kreuzbergurteil) und beschränkt sie auf den Schutz von Sicherheit und Ordnung.
Für das Bauwesen enthält das preußische Allgemeine Landrecht eine liberale Garantie der Baufreiheit. Seit der Mitte des 19. Jh. ergehen dann zur Beseitigung der durch die rasche Vergrößerung der Städte entstandenen Missstände erste allgemeinere Regelungen, welche die älteren Polizeiverordnungen, Erlasse und Entschließungen des regional sehr zersplitterten Bauordnungsrechts ablösen (in Bayern 2. 10. 1863 Allgemeine Bauordnung für die Haupt- und Residenzstadt München, 30. 6. 1864 Allgemeine Bauordnung, Baden 1868, Sachsen 1868/1869, Württemberg 1872). In Preußen und anderen Staaten werden seit 1871 Gesetze über Fluchtlinien erlassen (Bauplanung).
Im Bereich der Wirtschaft wird in Preußen die volle staatliche Einheit durch das Zollgesetz (26. 5. 1818) hergestellt, das alle Binnenzölle durch einen Grenzzoll ersetzt. Bald danach werden auch die Steuern im Wesentlichen einheitlich festgesetzt, wobei es in Preußen seit 1851 zu einer Besteuerung des Einkommens (Sachsen 1878 bis 5 %) und seit 1893 des Vermögens kommt. 1850 wird in Preußen der seit 1713 übliche Haushaltsvoranschlag an die Bewilligung des Landtags gebunden. Etwa gleichzeitig wird allgemein der Kirchenzehnt beseitigt und durch die Kirchensteuer ersetzt (Preußen 20. 6. 1875, vgl. auch ALR). Schließlich wird auch das Schulwesen voll vom Staat übernommen und die allgemeine Schulpflicht vollständig durchgesetzt. Die Sozialversicherung wird dagegen von besonderen selbstverwaltenden Versicherungsträgern durchgeführt (Berufsgenossenschaften für Unfallversicherung, Krankenkassen für Krankenversicherung, Versicherungsanstalten für Rentenversicherung). Im Heereswesen wird als Gegenstück zur allgemeinen Gleichheit die allgemeine Wehrpflicht (Preußen 1814) mit der Möglichkeit des Aufstiegs im Heer nach Tüchtigkeit und Bildung eingeführt.
c) Allgemeines Verwaltungsrecht
Unter dem Einfluss liberalen Gedankenguts bildet sich allgemein das Prinzip der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung aus, das zur Verhinderung übermäßiger Einschränkung der menschlichen Handlungsfreiheit erstmals von W. J. Behr in seinem System der allgemeinen angewandten Staatslehre (1810) eingefordert wird. Eingriffe in Rechtsgüter des Einzelnen wie Freiheit und Eigentum werden von gesetzlicher Gestattung abhängig (Vorbehalt des Gesetzes, vgl. § 5 VI des Grundgesetzes von Sachsen-Weimar [1816]), wobei seit etwa 1870 das Gesetz im formellen Sinn (in bestimmter förmlicher Weise zustandegekommener Willensakt des Staates) vom Gesetz im materiellen Sinn (jede rechtsverbindliche Anordnung eines Rechtssatzes) unterschieden wird (Paul Laband 1838-1918). Das an die Zustimmung der Bürger gebundene, seit Montesquieu (1748) nach allgemeiner Ansicht Willkür damit ausschließende Gesetz ersetzt für die Verwaltung den Willen des Staatsoberhaupts und geht jeder anderen staatlichen Willensäußerung vor (Vorrang des Gesetzes). Das Handeln der Verwaltung wird allgemein nachprüfbar, wobei Ermessensbegriffe weniger und unbestimmte Rechtsbegriffe stärker erfasst werden (Rechtsstaat).
Eine eigene Verwaltungsrechtswissenschaft entsteht seit der Mitte des 19. Jh. (Mohl, R. von, Staatsrecht des Königsreichs Württemberg, 1831, Stein, L. von, Arbeiten zur Verwaltungslehre, 1865ff., Gerber, C., Über öffentliche Rechte, 1852, Mayer, F., Grundsätze des Verwaltungsrechts mit besonderer Berücksichtigung auf gemeinsames deutsches Recht, 1862). Sie wendet sich später der »juristischen Methode« zu und erstellt allmählich ein eigenes wissenschaftliches System mit besonderen Begriffen. 1884 verfasst E. Loening das erste Lehrbuch des deutschen Verwaltungsrechts mit einem allgemeinen Teil.
Die erste grundlegende Darstellung des allgemeinen Verwaltungsrechts stammt von Otto Mayer (1846-1924, Deutsches Verwaltungsrecht, 1895/1896), der sich vor allem um die Ausbildung dogmatischer Grundfiguren im Bereich des hoheitlich-obrigkeitlichen Staatsdenkens bemüht und unter Anderem den für die Verwaltungstätigkeit maßgeblichen Begriff des Verwaltungsakts (der Verwaltung zugehöriger obrigkeitlicher Ausspruch [Akt], der dem Untertanen im Einzelfall bestimmt, was für ihn rechtens sein soll ® hoheitliche Maßnahme zur Regelung eines Einzelfalls) erarbeitet.
Lit.: Badura, P., Das Verwaltungsrecht des liberalen Rechtsstaates, 1967; Brügel, L., Soziale Gesetzgebung in Österreich von 1848-1918, 1919; Deutsche Verwaltungsgeschichte, hg. v. Jeserich, K. u. a., Bd. 2 1983; Ebert, K., Die Anfänge der modernen Sozialpolitik in Österreich, 1975; Erdmann, C., Die Entwicklung der deutschen Sozialgesetzgebung, 2. A. 1957; Geschichte der Verwaltungsrechtswissenschaft in Europa, hg. v. Heyen, E., 1982; Greim-Kuczewski, P., Die preußische Klassen- und Einkommensteuergesetzgebung im 19. Jahrhundert, 1989 (Diss.); Harnischmacher, R./Semerak, A., Deutsche Polizeigeschichte, 1986; Heffter, H., Die deutsche Selbstverwaltung im 19. Jahrhundert, 2. A. 1961; Heyen, E., Otto Mayer. Studien zu den geistigen Grundlagen seiner Verwaltungsrechtswissenschaft, 1981; Hueber, A., Otto Mayer. Die »juristische Methode im Verwaltungsrecht«, 1982; Ishikawa, T., Friedrich Franz von Mayer, 1992; Knemeyer, F., Regierungs- und Verwaltungsreformen in Deutschland zu Beginn des 19. Jahrhunderts, 1970; Lieb, T., Privileg und Verwaltungsakt, 2004; Rückert, J., Entstehung und Vorläufer der gesetzlichen Rentenversicherung, in: Handbuch der gesetzlichen Rentenversicherung, 1990, 1; Schmidt-DeCaluwe, Der Verwaltungsakt in der Lehre Otto Mayers, 1999; Schwab, D., Die Selbstverwaltungsidee des Freiherrn von Stein und ihre geistigen Grundlagen, 1971; Stolleis, M., Die Sozialversicherung Bismarcks, in: Bedingungen für die Entstehung und Entwicklung von Sozialversicherung, 1979, 387; Thier, A., Steuergesetzgebung und Verfassung in der konstitutionellen Monarchie, 1999; Ulbrich, J., Grundzüge des österreichischen Verwaltungsrechts, 1884; Wickenhagen, E., Geschichte der gewerblichen Unfallversicherung, 1980; Wissenschaft und Recht der Verwaltung seit dem Ancien Régime, hg. v. Heyen, E., 1984; Wunder, B., Privilegierung und Disziplinierung. Die Entstehung des Berufsbeamtentums in Bayern und Württemberg, 1978
3. Verfahren
a) Organisation
Mit dem Ende des Heiligen Römischen Reiches (1806)verschwinden auch dessen Gerichte (Reichskammergericht, Reichshofrat). Im Deutschen Bund gibt es im Wesentlichen lediglich eine Schiedsgerichtsbarkeit für Streitigkeiten zwischen Mitgliedern (Austrägalinstanz). Daneben kann der Bund darüber entscheiden, ob Verfassung, Gesetze und Einrichtungen der Einzelstaaten mit Bundesrecht in Widerspruch stehen. Schließlich kann bei Rechtsverweigerung (Verweigerung einer gerichtlichen Entscheidung durch die Gerichtsbarkeit) die Bundesversammlung angerufen werden.
In den Einzelstaaten erfassen liberale Grundsätze die Gerichtsverfassung. Danach wird alle Gerichtsbarkeit im Grundsatz auf den Herrscher bzw. den Staat zurückgeführt und das nichtstaatliche Gericht (Patrimonialgericht, Gemeindegericht, geistliches Gericht) als Ausnahme angesehen. Weiter verliert der Herrscher das Recht, in Verfahren einzugreifen (Kabinettsjustiz). Der Richter wird unabhängig (so England schon 1701) und niemand darf seinem gesetzlichen Richter (so Frankreich schon 1701) entzogen werden.
Die Gerichte sind aber selbst innerhalb eines Landes noch nicht einheitlich. Immerhin wird im Grundsatz zwischen Untergericht, Obergericht und oberstem Gerichtshof unterschieden. Justiz und Verwaltung werden allmählich auch auf unterer Stufe getrennt. Damit wird dort gleichfalls die Gewaltenteilung durchgeführt. Im Streit darüber, ob die Verwaltung durch die allgemeinen Gerichte (Otto Bähr 1864) oder eigene Gerichte (Rudolf von Gneist 1857ff., 1872) überprüft werden soll, setzt sich die zweite Ansicht durch, so dass bald besondere Verwaltungsgerichte (als Obergerichte) entstehen (Baden 1863, Preußen 1875/80/83, Hessen 1875, Österreich 1875 [Verwaltungsgerichtshof, Oberverwaltungsgericht], Württemberg 1876, Bayern 1879), die in den unteren Instanzen meist zugleich Verwaltungsaufgaben ausführen und für deren Zuständigkeit das Enumerationsprinzip gilt. Eine reichseinheitliche Gestaltung der ordentlichen Gerichtsbarkeit bringt dann das am 27. 1. 1877 verkündete Gerichtsverfassungsgesetz. Danach gliedert sie sich in ein Reichsgericht und mehrere unter Länderhoheit stehende Oberlandesgerichte (in Bayern zusätzlich Oberstes [Bayerisches] Landesgericht), Landgerichte und Amtsgerichte. Patrimonialgerichte (in Preußen seit 1875, vgl. Verordnung über die Aufhebung der Privatgerichtsbarkeit vom 2. 1. 1849), geistliche Gerichte (in weltlichen Angelegenheiten, seit 1875) und Aktenversendung werden allgemein und endgültig beseitigt. Privilegierte Gerichtsstände und Sondergerichte verschwinden weitgehend. Die Richter sind sachlich (Weisungsfreiheit) und persönlich (Unabsetzbarkeit) unabhängig und entscheiden teils (an Obergerichten) in Kollegien (Senaten, Kammern), teils (an Untergerichten) einzeln (Einzelrichter). Neben (durch Richteramtsbefähigung, d. h. erfolgreiche zweite juristische Staatsprüfung, ausgewiesenen) Berufsrichtern stehen teilweise Laienrichter (in Strafsachen, später auch in Handelssachen und Arbeitssachen). Die Urteile sind mit Gründen zu versehen, die bekanntzugeben sind. Auf Grund des Gewerbegerichtsgesetzes von 1890 (vgl. das entsprechende Gesetz in Österreich vom 1. 7. 1898) werden schließlich besondere erstinstanzliche Gewerbegerichte eingeführt, die mit Arbeitgeberbeisitzern und Arbeitnehmerbeisitzern besetzt sind. Eine besondere Verfassungsgerichtsbarkeit besteht nicht, doch nimmt der für Rechtsverweigerung und für Streitigkeiten zwischen den Gliedstaaten zuständige Bundesrat verfassungsgerichtliche Aufgaben wahr.
In Österreich, wo 1848 die Aufhebung der Patrimonialgerichte beschlossen wird und am 18. 5. 1848 erstmalig Geschworenengerichte eingeführt werden, unterscheidet das Gerichtsorganisationsgesetz von 1896 zwischen Bezirksgerichten, Gerichtshöfen erster Instanz (je nach Land Landesgericht oder Kreisgericht) mit Senaten, Oberlandesgerichten und dem Obersten Gerichtshof (in Wien). In der Schweiz erfolgt die Bundesrechtspflege durch das Bundesgericht in Lausanne und das Versicherungsgericht in Luzern, die kantonale Rechtspflege durch kantonale Gerichte.
b) Ablauf
aa) Zivilverfahren (Zivilprozess)
Zunächst stehen sich drei verschiedene Rechtsgebiete gegenüber.
In den Ländern des gemeinen Prozessrechts (Bayern, Baden, Württemberg, Kurhessen, Sachsen, Hannover, Schleswig-Holstein u. a.) herrscht das schriftliche, gegliederte Verfahren mit formalem Beweisrecht. In Preußen ist die Allgemeine Gerichtsordnung von 1793 in Kraft (Schriftlichkeit, formale Beweistheorie, Untersuchungsgrundsatz, Justizkommissare). Spätere Gesetze (1833/1846) führen die Verhandlungsmaxime, die begrenzte Mündlichkeit und den Anwaltsprozess (wieder) ein. In den westlichen Gebieten schließlich gilt der liberale französische Prozess des Code de procédure civile von 1806 (Mündlichkeit, Öffentlichkeit, Parteibetrieb, freie Beweiswürdigung, Ablehnung der Eventualmaxime, besondere Gerichtsvollzieher, Rechtsanwälte).
Unter Verwendung des französischen Vorbilds schaffen Hannover (1850), Baden (1864), Württemberg (1868) sowie sehr selbständig und neuartig mit der Zielsetzung des Richters als Repräsentanten des Gemeinwesens (u. a. Einzelrichter im Kollegialgericht) auch Österreich (1895) u. a. neue Verfahrensordnungen. Die Zivilprozessordnung des Reiches von 1877/1879 übernimmt die in verschiedene weitere Entwürfe eingegangenen Prinzipien Parteibetrieb, Verhandlungsgrundsatz, Öffentlichkeit, Mündlichkeit, Unmittelbarkeit, freie Beweiswürdigung und teilweiser Rechtsanwaltszwang. Unter dem Einfluss der österreichischen Zivilprozessordnung Franz Kleins (1854-1926) von 1895 erlassene Novellen (1898, 1909) drängen die Freiheit der Parteien allerdings zugunsten eines weitgehenden Leitungsrechts des Richters wieder etwas zurück.
Das Erkenntnisverfahren beginnt nach diesen Prozessgesetzen mit der schriftlichen oder mündlichen Erhebung der Klage durch den Kläger oder seinen Vertreter. Nach der amtlichen Zustellung der Klage, welche die meisten Wirkungen der aufgegebenen litis contestatio (Streitbefestigung) übernimmt, wird unter gerichtlicher Ladung in einem Termin verhandelt. Streitige entscheidungserhebliche Tatsachen können in einem Beweistermin mit einem der Beweismittel (Zeuge, Urkunde, Sachverständiger, Augenschein, Parteieid [bzw. seit 1933, nach österreichischem Vorbild, Parteivernehmung]) bewiesen werden. Dann ergeht im Namen des Reiches oder des Königs das Urteil, das mit Rechtsmitteln (Berufung, Revision) angegriffen werden kann. Für einige Sonderverfahren gelten besondere Regeln. Im anschließenden Vollstreckungsverfahren wird durch ein Vollstreckungsorgan (Gerichtsvollzieher, Vollstreckungsgericht, Prozessgericht, Grundbuchamt) die Durchsetzung des erkannten bzw. festgestellten Rechts betrieben (Beseitigung der Schuldhaft 1868, auch in Österreich). Sonderregeln gelten dabei für das einstweilige Verfahren (Arrest, - mit dem Mandatsprozess verwandte - einstweilige Verfügung) und den im 19. Jh. im Wesentlichen auf Kaufleute beschränkten und nach dem Muster des französischen Rechts geregelten Konkurs (Zusammenlauf der Gläubiger zwecks einheitlicher Vollstreckung).
Rechtstatsächlich steigt in dieser Zeit die Zahl der Zivilprozesse verhältnismäßig stark an. Auch die Zahl der Juristen erhöht sich demgemäß (1880 4112 Rechtsanwälte, 1901 6831, 1919 12030).
Für Gegenstände der freiwilligen Gerichtsbarkeit (von lat. iurisdicitio voluntaria) (Vormundschaftssachen, Nachlasssachen, Handelssachen, Vereinssachen, Güterrechtssachen u. a.) sind die Vorschriften des Gesetzes über die Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit (1898) anzuwenden (Österreich Außerstreitverfahren).
bb) Strafverfahren (Strafprozess)
Der Liberalismus entwickelt neue Vorstellungen. Danach soll das Verfahren mündlich und öffentlich sein. Zur Vermeidung von Missbrauch und aus rechtsstaatlichen Erwägungen sollen die Funktionen des Untersuchens und Entscheidens getrennt werden und die Untersuchung vom Richter als eine der Verhandlung vorausgehende Voruntersuchung auf einen besonderen öffentlichen Ankläger (Staatsanwalt, frz. ministère public) übertragen werden. Der damit von der parteiischen Anklägerrolle befreite, die Hauptverhandlung unparteiisch leitende Richter soll das nach dem Grundsatz der Unmittelbarkeit des Verfahrens in der Hauptverhandlung erzielte Beweisergebnis frei würdigen. Bei der Entscheidung über die Tatfragen soll das Volk mitwirken (Laienrichter, Geschworenengerichte, auf die - auf die Schuld zu beziehende - Tatfrage [im Gegensatz zur die Strafe betreffenden Rechtsfrage] beschränkte Jury von 12 Geschworenen). Verdachtsstrafe und Instanzentbindung sollen entfallen.
Diese im französischen Code d’instruction criminelle (Strafprozessordnung, 1808) und seinen Einflussgebieten verwirklichten und linksrheinisch in Geltung gebliebenen Vorstellungen werden auch in den rechtsrheinischen Staaten des Deutschen Bundes ab etwa 1840 zu politischen Forderungen. Nach 1848 werden sie in weitem Umfang in neue Prozessordnungen aufgenommen (Staatsanwalt, öffentliche Anklage, Mündlichkeit, Öffentlichkeit, freie Beweiswürdigung, Schwurgericht, Schöffengericht [Hannover, Württemberg, Sachsen]). Nur vereinzelt wird am Inquisitionsprozess festgehalten (Mecklenburg, Schleswig-Holstein, Hansestädte). Die Reichsstrafprozessordnung (1877/1879) folgt den liberalen Grundsätzen. Danach wird die Strafgerichtsbarkeit ausschließlich von staatlichen Gerichten in verschiedenen Instanzen - darunter dem mit drei Berufsrichtern und 12 Laien besetzten Schwurgericht, in dem die Laien nach englischem Vorbild über die Tat einschließlich der Schuld, die Berufsrichter über die Strafe befinden [in Österreich 1852 und Sachsen 1855 wieder abgeschafft]- ausgeübt. Das Ermittlungsverfahren gegen einen Verdächtigen, der nur unter bestimmten rechtsstaatlichen Voraussetzungen in Haft genommen werden kann und sich in jeder Lage des Verfahrens eines rechtskundigen berufsmäßigen Vertreters (Verteidigers) bedienen darf, betreibt unter Mithilfe der Polizei die Staatsanwaltschaft, die verpflichtet ist, grundsätzlich bei allen strafbaren Handlungen einzuschreiten (Legalitätsprinzip, Offizialmaxime) und objektiv nachzuforschen. Das Hauptverfahren kann erst auf eine Anklage, für welche die Staatsanwaltschaft ein beschränktes Monopol - das nur in wenigen Fällen durch die Privatklage durchbrochen ist - hat, hin eröffnet werden (Anklageprinzip). Das Gericht hat unter Bindung an gesetzliche Schranken in einem mündlichen, öffentlichen und unmittelbaren Verfahren die Wahrheit zu erforschen (Untersuchungsgrundsatz). Es muss das Beweisergebnis frei würdigen und im Zweifel zugunsten des Angeklagten entscheiden (in dubio pro reo, für die Neuzeit formuliert von C. Stübel [1764-1828] 1811), der damit bis zum Nachweis seiner Schuld als unschuldig gilt. Gegen das Urteil sind Rechtsmittel (Berufung, Revision) möglich. Sein Vollzug (Strafvollzug) erfolgt unverändert nach den hergebrachten Regeln.
Lit.: Alber, P., Die Geschichte der Öffentlichkeit im deutschen Strafverfahren, 1971; Brand, J., Untersuchungen zur Entstehung der Arbeitsgerichtsbarkeit in Deutschland, 1990; Carsten, E., Die Geschichte der Staatsanwaltschaft in Deutschland bis zur Gegenwart, 1932, Neudruck 1971; Collin, P., Wächter der Gesetze?, 2000; Damrau, J., Die Entwicklung einzelner Prozessmaximen seit der Reichszivilprozessordnung von 1877, 1975; Dumke, D., Vom Gerichtsschreiber zum Rechtspfleger, 1993; Ebert, I., Die Normierung der juristischen Staatsexamina, 1995; Gedruckte Quellen der Rechtsprechung in Europa (1800-1945), hg. v. Ranieri, F., 1992; Gneist, R. v., Der Rechtsstaat und die Verwaltungsgerichte in Deutschland, 1872, Neudruck 1968; Gschwend, L., Zur Geschichte der Lehre von der Zurechnungsfähigkeit, 1996; Hahn, E., Rudolf von Gneist, 1995; Henne, T., Verwaltungsrechtsschutz im Justizstaat, 1995; Hennig, J., 2000 Jahre Koblenz - fast 200 Jahre Verwaltungsrechtsschutz in Rheinland-Pfalz, 1994; Hermann, N., Entstehung, Legitimation und Zukunft der konkreten Normenkontrolle, 2001; Holly, G., Geschichte der Ehrengerichtsbarkeit der deutschen Rechtsanwälte, 1989; Holthöfer, E., Ein deutscher Weg, 1997; Kohl, G., Die Anfänge der modernen Gerichtsorganisation in Niederösterreich, 2000; Landau, P., Schwurgerichte und Schöffengerichte in Deutschland im 19. Jahrhundert bis 1870, in: The Trial Jury, hg. v. Schioppa, A., 1987, 241; Laufs, A., Recht und Gericht im Werk der Paulskirche, 1978; Meier, A., Geschichte des deutschen Konkursrechts, 2003; Müller, K., Die Hüter des Rechts, 1997; Nörr, K., Wissenschaft und Schrifttum zum deutschen Zivilprozess im 19. Jahrhundert, Ius commune 10 (1983), 141; Olechowski, T., Die Einführung der Verwaltungsgerichtsbarkeit in Österreich, 1999; Picker, E., Die Drittwiderspruchsklage in ihrer geschichtlichen Entwicklung, 1981; Repertorium ungedruckter Quellen zur Rechtsprechung. Deutschland 1800-1945, hg. v. Dölemeyer, B., 1995; Roth, A., Die Entstehung eines Jugendstrafrechts, ZNR 1991; Rüfner, W., Die Entwicklung der Verwaltungsgerichtsbarkeit, in: Deutsche Verwaltungsgeschichte Bd. 3, 909ff.; Schubert, W., Die deutsche Gerichtsverfassung 1869-1877. Entstehung und Quellen, 1981; Schulte, J., Die Entwicklung der Eventualmaxime, 1980; Schulz, L., Normiertes Misstrauen, 2001; Sydow, G., Die Verwaltungsgerichtsbarkeit, 2000; Werthmann, S., Vom Ende der Patrimonialgerichtsbarkeit, 1995; Wiegand, W., Plus petitio, 1974; Wohlers, W., Entstehung und Funktion der Staatsanwaltschaft, 1994; Wollschläger, C., Zivilprozessstatistik und Wirtschaftsentwicklung in Preußen im 18. und 19. Jahrhundert, ZNR 3 (1981), 16
4. Strafe
a) Der Strafzweck wird rechtsphilosophisch erörtert. Dabei sehen die absoluten Straftheorien nicht mehr in der Nützlichkeit für die Gesellschaft sondern (wegen der Würde des Menschen) allein in der Straftat, deren Unrecht durch Vergeltung (z. B. bei Mord Todesstrafe) ausgeglichen werden muss, den Grund der Strafe (Kant [1724-1804, Strafe ist um des Strafens Willen da], so noch Karl Binding [1841-1920]). Die relativen Theorien stellen demgegenüber das Interesse der Allgemeinheit in den Vordergrund, wobei nach einer Ansicht die Strafe nur den Straftäter (Spezialprävention, v. Grolman 1775-1829), nach anderer Ansicht auch unbekannte Dritte (Generalprävention, Anselm von Feuerbach 1775-1833, Theorie vom psychologischen Zwang) abschrecken soll. Allgemein durchsetzen kann sich keine dieser Vorstellungen, so dass auch das älteren Strafgesetzen (Code pénal 1810, Strafgesetzbuch für das Königreich Bayern 1813, Strafgesetzbuch Preußens 1851) folgende Reichsstrafgesetzbuch (1871) sich nicht festlegt. Nach Franz von Liszt (1851-1919, 1882 Marburger Programm, Der Zweckgedanke im Strafrecht, Entdecker der wissenschaftlichen Kriminologie, Begründer der soziologieschen Strafrechtsschule), der den Menschen als durch äußere Umstände beeinflusst sieht, ist nicht die Tat durch Vergeltung, sondern der Täter für sein sozialschädliches Verhalten zu bestrafen, weshalb die Spezialprävention nach Tätertypen differenziert werden soll (Augenblickstäter erhalten Denkzettel für die Zukunft, verbesserliche Zustandstäter werden durch Resozialisierung wieder in die Gesellschaft eingegliedert, unverbesserliche Zustandstäter werden verwahrt) und neben die Strafe sichernde und bessernde Maßnahmen treten sollen.
b) Allgemein werden die Straftaten nach französischem Vorbild nach der Schwere in (schwere) Verbrechen, (mittlere) Vergehen und (leichte) Übertretungen gegliedert. Die strafbare Handlung muss im Rechtsstaat genau beschrieben sein, und Analogie (Ausdehnung) zu Lasten Handelnder ist ausgeschlossen (Analogieverbot, [ab etwa 1830] lat. nullum crimen, nulla poena sine lege, kein Verbrechen, keine Strafe ohne Gesetz, sachlich bereits bei Montesquieu 1748 gefordert). Die allgemeinen Figuren des Versuchs, des Irrtums und der Teilnahme (Anstiftung, Beihilfe) werden ausgebildet, Vorsatz und Fahrlässigkeit streng geschieden und die Konkurrenzlehre (Lehre vom Verhältnis mehrerer bei einem Strafverfahren miteinander konkurrierender Straftatbestände) verbessert. Am Ende des 19. Jh. wird von der Wissenschaft der klassische Tatbestandsaufbau (Handlung, Rechtswidrigkeit, Schuld) erarbeitet. Zugleich beginnt aber auch die Entstehung eines immer unübersichtlicheren Nebenstrafrechts in Nebengesetzen.
c) Bei den einzelnen Tatbeständen werden die Verbrechen gegen den Staat und gegen den Einzelnen von einander getrennt (Feuerbach 1813). Religionsdelikte und Sittlichkeitsdelikte werden allmählich zurückgedrängt. Die Körperverletzungen werden systematisiert und die Vermögensdelikte weiter durchgebildet (Diebstahl, Raub, Betrug, Erpressung, Unterschlagung). Der Rechtssicherheit soll eine ausgefeilte Kasuistik dienen.
d) Die Strafrahmen sind bei Feuerbach (1813) aus rechtsstaatlichen Gründen eng (geringer richterlicher Strafzumessungsspielraum), im Reichsstrafgesetzbuch (1871) dagegen verhältnismäßig weit. Bei den Strafen verschwinden die verstümmelnden Leibesstrafen und die qualifizierten Todesstrafen. An Bedeutung gewinnt die Freiheitsstrafe (Zuchthaus, Gefängnis, Haft) sowie (1851/1871) die Geldstrafe. Das Strafmaß soll der Schwere der Schuld entsprechen.
Lit.: Blasius, D., Bürgerliche Gesellschaft und Kriminalität, 1976; Gschwend, L., Nietzsche und die Kriminalwissenschaften, 1999; Hein, O., Vom Rohen zum Hohen, 2000; Holzhauer, H., Willensfreiheit und Strafe, 1970; Krause, T., Geschichte des Strafvollzugs, 1999; Melchers, A., Kriminalstatistik im 19. Jahrhundert, 1992 (Diss.); Schmidt-Recla, A., Theorien zur Schuldfähigkeit, 2000; Schubert, W., Der Ausbau der Rechtseinheit unter dem Norddeutschen Bund, FS Rudolf Gmür, 1983, 149
5. Kirche
Das Recht der katholischen Kirche wird neu festgelegt (Codex iuris canonici, 27. 5. 1917 verkündet, 19. 5. 1918 in Kraft gesetzt), wobei eine Gliederung in Allgemeinen Teil, Personenrecht, Sachenrecht, Verfahrensrecht und Strafrecht stattfindet. Mit dem Staat werden seit Anfang des 19. Jh. Konkordate (Kirchenverträge) geschlossen. Die evangelischen Kirchen geben sich Kirchenverfassungen (Kirchenordnungen).
III. Privater Bereich
Zu Beginn des 19. Jh. gelten in Deutschland das preußische Allgemeine Landrecht (1794), der aus wirtschaftlichen Interessen auch nach 1813 linksrheinisch beibehaltene, als Verfassungsersatz wirkende französische Code civil (Bürgerliches Gesetzbuch 1804), das österreichische Allgemeine Bürgerliche Gesetzbuch (1811/1812) sowie das gemeine Recht der restlichen Staaten (um 1900 für rund 16 von insgesamt 67 Millionen Menschen in 93 verschiedenen Gebieten) und ihre zahlreichen besonderen Gesetze, Verordnungen und Gewohnheiten als partikulare Rechte nebeneinander. Die Fortbildung des darin enthaltenen Rechts wird durch die politischen Forderungen des Liberalismus, die dogmatischen Arbeiten der Wissenschaft und die aus realen Notwendigkeiten erwachsenden aktuellen gesetzlichen Regelungen und richterlichen Klärungen geprägt.
Dabei wird die wissenschaftliche Dogmatik vor allem durch die Neubelebung der römischen Rechtsquellen beherrscht (pandektistische Nachrezeption), die allerdings unhistorisch der Systemgerechtheit und tatsächlichen Brauchbarkeit vielfach den Vorrang vor der geschichtlichen Quellentreue einräumt. Dem geschlossenen romanistischen System, das im 19. Jh. deutlich an Boden gewinnt, haben die Vertreter des parallel hierzu gesammelten gemeinen deutschen Privatrechts (nach Thomasius [1655-1728] und Beyer [1665-1714] vor allem Johannes Gottlieb Heineccius, Elementa iuris Germanici [Grundzüge des deutschen Rechts], 1735/1737, Justus Friedrich Runde, Grundsätze des gemeinen deutschen Privatrechts, 1791, Carl Josef Anton Mittermaier, Grundsätze des gemeinen deutschen Privatrechts, 1824, Carl Friedrich Gerber, System des deutschen Privatrechts, 1848/1849) nichts völlig Gleichwertiges entgegenzusetzen, so dass sie sich (in einer gewissen Art von Arbeitsteilung mit den Vertretern des römischen Rechts) bald vor allem den Randgebieten des Privatrechts (Handelsrecht, Landwirtschaftsrecht, Urheberrecht, Bergrecht und Wasserrecht) widmen. Insgesamt nimmt die Wissenschaft von den zeitgenössischen nationalen Grundfragen der Bodenbefreiung, Personenfreiheit, Industrialisierung und Bildung des Nationalstaates nur bedingt Kenntnis.
Das im 19. Jh. ausgebildete privatrechtliche System, das vom römischen personae-res-actiones-Schema (Personen-Sachen-Klagansprüche, Institutionensystem) ausgeht, bestimmte allgemeine Begriffe mit dem Personenrecht zu einem allgemeinen Teil zusammenfasst und andererseits die schlecht einzugliedernden Materien des Familienrechts und des Erbrechts verselbständigt, geht außer auf das naturrechtliche Systemdenken (Samuel Pufendorf 1632-1694) vor allem auf Gustav Hugo (Institutionen des römischen Rechts, 1799) zurück. Von ihm übernimmt es Georg Arnold Heise in seinem Grundriss eines Systems des gemeinen Zivilrechts zum Behuf von Pandektenvorlesungen (1807, Pandektensystem). Durch Savigny (1769-1861), der Heise in seiner Pandektenvorlesung folgt, erlangt es allgemeine Verbreitung.
Lit.: Bürge, A., Das französische Privatrecht im 19. Jahrhundert, 2. A. 1995; Coing, H., Europäisches Privatrecht, Bd. 2 1989; Die Entwicklung des Zivilrechts in Mitteleuropa (1848-1944), hg. v. Csizmadia, A./Kovacs, K., 1970; Goebel, J., Testierfreiheit als Persönlichkeitsrecht, 2004; Hedemann, J., Die Fortschritte des Zivilrechts im 19. Jahrhundert, Teil 1f. 1910ff.; Harke, J., Irrtum über wesentliche Eigenschaften, 2003; Historisch-kritischer Kommentar zum BGB, hg. v. Schmoeckel, M. u. a., 2003; Koch, N., Die Entwicklung des deutschen privaten Immissionsschutzrechts, 2004; Nachschlagewerk des Reichsgerichts, hg. v. Schubert, W. u. a., Bd. 1ff. 1994ff.; Hofer, S., Freiheit ohne Grenzen, 2001; Ogris, W., Der Entwicklungsgang der österreichischen Privatrechtswissenschaft im 19. Jahrhundert, 1968; Pfeiffer-Munz, S., Soziales Recht ist deutsches Recht, 1979; Repgen, T., Die soziale Aufgabe des Privatrechts, 2001; Schmidt-Radefeldt, S., Carl Friedrich von Gerber, 2003; Schwarz, A., Zur Entstehung des modernen Pandektensystems, ZRG RA 42 (1921), 578; Simshäuser, W., Zur Entwicklung des Verhältnisses von materiellem Recht und Prozessrecht seit Savigny, 1965; Wilhelm, W., Quellen und Literatur der europäischen Privatrechtsgeschichte im 19. Jahrhundert, Ius commune 4 (1973)
1. Allgemeiner Teil
a) Person
Als abstrakter Begriff für Träger von Rechten und Pflichten bildet sich nach naturrechtlichen Vorarbeiten nun der des Rechtssubjekts aus. Entsprechend den Forderungen von Aufklärung, Liberalismus und französischer Revolution wird für alle Personen - auch die Juden und anderen Fremden - Freiheit und Gleichheit angestrebt und erreicht.
In Preußen kommt dies deutlich im Steinschen Edikt vom 9. 10. 1807 zum Ausdruck (»Mit dem Martinitage 1810 gibt es nur freie Leute«). Dadurch werden die bisherige ständische Dreigliederung und die Erbuntertänigkeit der Bauern völlig beseitigt. Allerdings wird damit zugleich der bescheidene soziale Schutz, wie ihn die patriarchalische Gutsherrschaft bietet, ersatzlos aufgehoben. In den anderen Ländern bringt meist die französische Besetzung diese Neuerungen (Österreich schon 1781 und 4. 3. 1849 gegen den mehrfachen Jahresertrag).
Die Juden werden um die Mitte des Jh. nach amerikanisch-französischem Vorbild gleichgestellt (Judenemanzipation). Nach einem Gesetz von 1857 werden ausländische Sklaven mit dem Betreten preußischen Bodens frei. Die Stellung der Frau verbessert sich allmählich (Frauenarbeitsschutz, 1869 in Preußen Beseitigung von Schranken der Handlungsfähigkeit, 1877 im Reich Prozessfähigkeit, elterliche Gewalt der Mutter im Bürgerlichen Gesetzbuch 1900, Zulassung zum Studium).
Der hohe Adel erhält sich noch längere Zeit gewisse Vorrechte (Privatfürstenrecht).
Die Rechtsfähigkeit beginnt mit der Vollendung der Geburt und endet mit dem Tod. Bei Verschollenheit kann eine Todesvermutung begründet werden. Ein allgemeines Recht an der eigenen Person (Persönlichkeitsrecht) wird von Savigny als unmöglich und sinnlos abgelehnt und trotz beachtlicher Gegenstimmen (Neuner, Gareis, Kohler) nicht in das Bürgerliche Gesetzbuch aufgenommen (anders Einzelrechte wie Name, vgl. auch Urheberrecht usw.). Die beschränkte Geschäftsfähigkeit wird nach dem Bürgerlichen Gesetzbuch mit der Vollendung des 7., die volle Geschäftsfähigkeit (Volljährigkeit) mit der Vollendung des 21. Lebensjahrs erlangt.
Für die juristische Person begründet an Hand älterer, vor allem vernunftrechtlicher Ansätze Savigny, der an sich nur Menschen als Rechtssubjekt anerkennt, die Theorie, dass für die Zuordnung herrenloser Rechte die juristische Person durch Fiktion geschaffen werden müsse (Fiktionstheorie), die durch Vertreter handeln müsse. Dagegen ist nach Otto von Gierke (1841-1921) eine Genossenschaft (Begriffsbildung vor allem durch Georg Beseler [1809-1888]) ein sozialer Organismus und damit eine reale Gesamtpersönlichkeit, die durch Assoziation entstehe und durch Organe handele. Unabhängig von diesem Streit um das Wesen der juristischen Person wird das zu Beginn des 19. Jh. herrschende Konzessionssystem teilweise durch das System der Normativbestimmungen abgelöst, bei dem der Staat dem seit der Mitte des 19. Jh. so genannten Verein die Rechtsfähigkeit bei Erfüllung bestimmter Voraussetzungen zu gewähren hat. Das Bürgerliche Gesetzbuch spricht dem Verein dann Organe zu, stellt aber den nichtrechtsfähigen (nicht eingetragenen) Verein, um die Tätigkeit der Gewerkschaften zu erschweren, der Gesellschaft mit ihrer unbeschränkten Haftung der Mitglieder gleich.
In Österreich wird 1849 ein Vereinspatent gewährt (mit Anmeldepflicht für politische Vereine und Konzessionssystem für auf Gewinn berechnete Vereine), aber 1852 wieder zugunsten des Konzessionssystems für fast alle Vereinigungen beseitigt. Das Vereinsgesetz vom 15. 11. 1867 sieht vor, dass ein Verein sich erst dann bilden darf, wenn die Behörde binnen 4 Wochen nach Anzeige der beabsichtigten Vereinsbildung keinen Widerspruch erhebt.
Daneben erarbeitet die Germanistik aus historischem deutschrechtlichem Material die Figur der Gesamthand. Beseler (1809-1888) versteht darunter Gemeinschaften, die für bestimmte Beziehungen die Grenzen der Persönlichkeit ihrer Glieder aufheben und dieselbe gleichmäßig über die den Gliedern gemeinsam gewordene Rechtssphäre erweitern, ohne dass jedoch ein neues selbständiges Rechtssubjekt in der Vereinigung begründet wird. Nach dem Protest Gierkes, dass ein Gesetzbuch, das deutsch sein wolle, den deutschen, sozialen Gemeinschaftsgedanken nicht aus dem Recht weisen dürfe, wird die Gesamthand als Prinzip, als deren Kennzeichen die gemeinsame Verfügung über den Gegenstand und die Anwachsung der Berechtigung beim Wegfall eines Beteiligten (an die Berechtigungen der Verbleibenden) angesehen werden, an einzelnen Stellen in das Bürgerliche Gesetzbuch aufgenommen (Gesellschaft, Gütergemeinschaft, Erbengemeinschaft).
b) Gegenstände
Das bürgerliche Gesetzbuch unterscheidet zwischen unkörperlichen und körperlichen Gegenständen. Körperlicher Gegenstand ist die Sache, die beweglich oder unbeweglich sein kann. Die allgemeinen Grundsätze über Sachen folgen dem gemeinen Recht.
c) Recht
Der einheitliche romanistische actio-Begriff wird in den materiellen Anspruch als das Recht, von einem anderen ein Tun oder Unterlassen zu verlangen, und den dafür im Verfahren gewährten Rechtsschutz aufgeteilt.
Auf Grund naturrechtlicher Ansätze (z. B. Christian Wolff 1679-1754) wird das vom objektiven Recht (Rechtsordnung) verschiedene subjektive Recht (Einzelrecht) abstrakt erfasst. Nach Savigny (1779-1861) ist es die der einzelnen Person zustehende Macht (z. B. Eigentum). Sie wurzelt in der allgemeinen Anerkennung der Willensfreiheit der Person und ist daher der Raum der Freiheit einer Person, die mit der Freiheit einer anderen Person zusammen noch bestehen kann.
Wesentlicher Entstehungsgrund von subjektiven Rechten ist die menschliche Handlung. Sofern sie in einer auf den rechtlichen Erfolg gerichteten Willensäußerung besteht, wird sie nun als Willenserklärung erfasst und zur Grundlage der Rechtsgeschäfte gemacht. Die bei diesen Willenserklärungen möglichen Irrtümer unterscheidet Savigny in beachtlichen Inhaltsirrtum und unbeachtlichen Motivirrtum und hält jede Erklärung ohne entsprechenden Willensinhalt für nichtig (Willenstheorie). Dieser Ansicht tritt eine reine Erklärungstheorie gegenüber, die einen von der Erklärung abweichenden Willen nicht beachtet. Die Praxis verbindet die Vorzüge beider Ansichten.
Die Willenserklärung einer Person kann für eine andere wirken. Dies begründet Savigny im Streit mit Mühlenbruch, der an der herkömmlichen römischrechtlichen Beschränkung der Obligation auf die Parteien festhält, damit, dass mit dem Wegfall der Stipulation auch der römische Rechtssatz, dass niemand einem anderen stipulieren könne, nicht mehr gelte, und dass jedes Rechtssubjekt seinen Willen auch durch einen anderen als bloßen Träger dieses Willens verwirklichen könne. Daneben weist Paul Laband (1838-1919) die Notwendigkeit der Trennung von Innenverhältnis zwischen handelnder und betroffener Person (Mandat, Auftrag) und Außenverhältnis zwischen handelnder und dritter Person (Vollmacht) nach (1866). Das Bürgerliche Gesetzbuch anerkennt dementsprechend Stellvertretung und Vertrag zugunsten Dritter und trennt zwischen Vertretungsmacht (Außenverhältnis) kraft einseitigen Rechtsgeschäfts der Bevollmächtigung und und (dem Vertrag) Auftrag (Innenverhältnis).
Der Vertrag selbst entsteht durch zwei sich entsprechende Willenserklärungen. Der Anbietende ist in gewisser Weise an sein Angebot gebunden. Reste des (römischen) Realvertrags (z. B. Darlehen) werden nicht eindeutig beseitigt.
d) In den Allgemeinen Teil aufgenommen hat das Bürgerliche Gesetzbuch noch die für einzelne Sonderfälle verbleibenden Überreste der ursprünglich umfassenden Selbsthilfe.
Gestattet sind Abwehrmaßnahmen im Fall der Notwehr und des Verteidigungsnotstandes. Ein Angriff ist grundsätzlich nur bei Gefahr und nur zur vorläufigen Sicherung zulässig. (Vgl. auch EGBGB und Landesrecht.)
Lit.: Harder, M., Die historische Entwicklung der Anfechtbarkeit von Willenserklärungen, AcP 173 (1973), 289; Henkel, W., Zur Theorie der juristischen Person im 19. Jahrhundert, 1973; Holzhauer, H., Die eigenhändige Unterschrift, 1973; Hye, H., Zur Liberalisierung des Vereinsrechtes in Österreich, ZNR 1992; Köbler, G., Mittlere Fahrlässigkeit und dogmatische Einordnung der Arbeitnehmerhaftung, AcP 169 (1969), 409; Kögler, P., Arbeiterbewegung und Vereinsrecht. Ein Beitrag zur Entstehungsgeschichte des BGB, 1974; Luig, K., Savignys Irrtumslehre, Ius commune 8 (1979), 36; Luig, K., Savignys Lehre von der Stellvertretung, Ius commune 8 (1979), 60; Müller-Freienfels, W., Die Abstraktion der Vollmachtserteilung im 19. Jahrhundert, in: Wissenschaft und Kodifikation, Bd. 2 1977, 144; Pohlhauser, R., Zum Recht der allgemeinen Geschäftsbedingungen im 19. Jahrhundert, 1978; Das subjektive Recht und der Rechtsschutz der Persönlichkeit, hg. v. Coing, H. u. a., 1962; Ueberschär, E., Die Entwicklung der bürgerlichen Rechtsperson und die Pandektenlehre des Burkhard Wilhelm Leist, 1993 (Diss.); Vormbaum, T., Die Rechtsfähigkeit der Vereine im 19. Jahrhundert, 1976; Wächter, T., Die Aufnahme der Gesamthandsgemeinschaften in das Bürgerliche Gesetzbuch, 2002
2. Familie
a) Ehe
Das Eherecht wird aus der Kirche in den Staat überführt. Dabei wird die in der französischen Revolution verwirklichte und in der Frankfurter Paulskirchenversammlung (1848) von Seiten der Liberalen geforderte obligatorische Zivilehe in der Form gegenseitiger Willenserklärungen der Eheleute vor einem staatlichen Beamten (Standesbeamten) im Laufe des sog. Kulturkampfs 1874 in Preußen und 1875 im Reich eingeführt (6. 2. 1875 Personenstandsgesetz).
In Österreich folgt das Allgemeine Bürgerliche Gesetzbuch 1811/1812 dem Ehepatent von 1783 (konfessionelles Eherecht). Die für Ehestreitigkeiten zuständigen staatlichen Gerichte können aber in den meisten Fällen nur die Trennung von Tisch und Bett aussprechen. Das Konkordat von 1855 macht im Neoabsolutismus die Ehe unter Katholiken wieder ganz von der Einhaltung der kirchenrechtlichen Vorschriften abhängig und nimmt auch die Beseitigung kirchlicher Ehehindernisse zurück. 1868 wird am Ende des Neoabsolutismus das folgerichtig 1856 für Katholiken außer Kraft gesetzte Eherecht des Allgemeinen Bürgerlichen Gesetzbuchs, das dem kanonischen Eherecht samt der kirchlichen Ehegerichtsbarkeit weichen muss, durch das Eherechtsgesetz vom 25. 5. 1868 (Maigesetz) auch für Katholiken wieder in Kraft gesetzt. 1870/1874 wird das Konkordat gekündigt. Dementsprechend werden eine Notzivilehe (wegen Verweigerung der Eheschließung wegen eines nach staatlichem Recht nicht bestehenden kirchenrechtlichen Ehehindernisses) und eine Dispensehe (seit 1919 in Österreich unter der Enns/Niederösterreich vom Landeshauptmann erteilter Dispens vom Ehehindernis des bestehenden Ehebands) zulässig.
In der Schweiz wird die Zivilehe 1835 in der Waadt, 1860 in Zürich und 1863 in Schaffhausen eingeführt.
Ehehindernisse bleiben nur erhalten, soweit sie nicht religiös begründet sind.
Die Ehescheidung wird nach längeren Auseinandersetzungen durch das Personenstandsgesetz (1875) für bestimmte Fälle und durch das Bürgerliche Gesetzbuch allgemein zugelassen, wobei allerdings gewisse Gründe vorausgesetzt werden (Verschuldensprinzip z. B. Ehebruch).
In der Ehe steht nach dem Bürgerlichen Gesetzbuch dem Mann die Entscheidung in allen das gemeinschaftliche Leben betreffenden Angelegenheiten zu. Die Frau ist im Rahmen des Üblichen zu Arbeiten im Hauswesen und im Geschäft des Mannes verpflichtet. Im Ehegüterrecht bestehen bis zum Bürgerlichen Gesetzbuch die zahllosen verschiedenartigen Gestaltungsformen fort.
Durch das Bürgerliche Gesetzbuch wird die für etwa 14 Millionen Personen gültige Verwaltungsgemeinschaft mit Verwaltungsrecht des Mannes der vom Gesetz bei Fehlen einer abweichenden Vereinbarung vorgesehene Regelgüterstand. Durch in ein Güterrechtsregister einzutragende Vereinbarung kann aber auch Gütergemeinschaft (ca. 11 Millionen), Errungenschaftsgemeinschaft und Fahrnisgemeinschaft (7 Millionen) oder Gütertrennung festgelegt werden (Wahlgüterstand).
b) Verwandtschaft
Die ehelichen Kinder stehen nach dem Bürgerlichen Gesetzbuch bis zur Volljährigkeit unter elterlicher Gewalt. Sie obliegt in erster Linie dem Vater und nur daneben der Mutter. Kinder im elterlichen Haushalt sind zu Dienstleistungen verpflichtet.
Das uneheliche (nichteheliche) Kind gilt als mit seinem Vater nicht verwandt. Ihm steht aber gegen diesen ein der (meist schlechteren) Lebensstellung der Mutter entsprechender Unterhalt bis zur Vollendung des 16. Lebensjahrs zu. Die Mutter hat nur die persönliche Fürsorge, nicht die elterliche Gewalt. Sie kann aber Vormund sein.
c) Vormundschaft
Der Vormund wird auf Grund liberaler Vorstellungen gegenüber dem Vormundschaftsgericht freier gestellt. Das Bürgerliche Gesetzbuch kennt die Vormundschaft über Minderjährige und entmündigte Volljährige. Für einzelne Angelegenheiten kann eine Pflegschaft eingerichtet werden.
Lit.: Blasius, D., Ehescheidung in Deutschland 1784-1945, 1987; Buchholz, S., Eherecht zwischen Staat und Kirche, 1981; Duncker, A., Gleichheit und Ungleichheit in der Ehe, 2003; Schäfer, J., Die Entstehung der Vorschriften des BGB über das persönliche Eherecht, 1983
3. Erbe
Das Erbrecht wird nicht tiefgreifend verändert.
a) Nach dem Bürgerlichen Gesetzbuch fällt der Nachlass beim Erbfall unmittelbar an den Erben oder die gesamthänderisch gebundene Erbengemeinschaft (Universalsukzession). Der (grundsätzlich) unbeschränkt haftende Erbe kann die Haftung beschränken. Die Erbschaft wird mit Erbschaftsteuern (1906/1911) belastet.
b) Das Sondererbrecht verschwindet bis auf Familienfideikommisse, die sich trotz gegenteiliger Bestrebungen (Code civil, Preußen 1850) erhalten. Zum Schutz der Bauern vor Güterzersplitterung wird gesetzlich ein bäuerliches Anerbenrecht geschaffen (1874 Preußisches Höfegesetz für die Provinz Hannover, 1900 Tirol [Anerbenrecht, Höferecht], 1903 Kärnten [Anerbenrecht], 1908 Böhmen).
c) Die Erbfolge ist grundsätzlich Verwandtenerbfolge. Sie bestimmt sich nach dem Bürgerlichen Gesetzbuch nach Ordnungen (Parentelen, 1. Ordnung Abkömmlinge des Erblassers, 2. Ordnung Eltern und deren Abkömmlinge, 3. Ordnung Großeltern und deren Abkömmlinge usw.). Der Ehegatte erhält nach dem Bürgerlichen Gesetzbuch mindestens ein Viertel des Nachlasses.
d) Das Testament ist unbeschränkt zulässig (Testierfreiheit). Es verdrängt näherrechtliche Bindungen (Retraktrechte). Nach dem Bürgerlichen Gesetzbuch kann es in holographer Form (eigenhändig geschrieben und unterschrieben) errichtet werden. Es kann Vermächtnisse enthalten. Übergangene nahe Erben haben Anspruch auf die Hälfte des gesetzlichen Erbteils (Pflichtteil). Erbvertrag, Erbverzicht und Testamentsvollstreckung werden als deutschrechtliche Elemente in das Bürgerliche Gesetzbuch aufgenommen. Zum Nachweis des Erbrechts wird dem Erben vom Nachlassgericht ein Erbschein ausgestellt.
Lit.: Mertens, H., Die Entstehung der Vorschriften des BGB über die gesetzliche Erbfolge und das Pflichtteilsrecht, 1970; Olzen, D., Vorweggenommene Erbfolge in historischer Sicht, 1988; Schröder, R., Abschaffung oder Reform des Erbrechts, 1981
4. Sachen
Im Sachenrecht treten wichtige Veränderungen ein (Bodenverkehrsrecht, Einigung, Grundbuch).
a) Für den Besitz werden im Wesentlichen deutschrechtliche Vorstellungen in das Bürgerliche Gesetzbuch aufgenommen. Demnach beruht er auf der tatsächlichen Sachherrschaft, nicht dem Besitzwillen und ist neben dem unmittelbaren Besitz auch mittelbarer Besitz möglich. Ein Rechtsbesitz als die den Rechten an fremder Sache entsprechende tatsächliche Willensherrschaft über eine Sache in einzelnen ihrer Beziehungen wird abgelehnt.
b) Das Eigentum wird, weil es nach liberaler Ansicht die Freiheit der Person garantiert, von den Verfassungen geschützt und soweit wie möglich von Schranken befreit.
Dies beginnt in Preußen, wo sich die liberalistische Ansicht, dass das auf eigene Rechnung und Gefahr wirtschaftende Individuum produktiver wirke, durchsetzt, mit dem Edikt vom 14. 9. 1811 die Regulierung der gutsherrlichen und bäuerlichen Verhältnisse betreffend. Dieses ordnet nämlich an, dass die bisher nicht eigentümlich verliehenen bäuerlichen Besitzungen in Eigentum verwandelt werden (Allodifizierung), was allerdings erst bis Ende 1858 endgültig verwirklicht wird und zudem das Bauerntum wegen der damit verbundenen Entschädigungslasten erheblich schwächt. Daneben wird individuelles, der liberalistischen Doktrin entsprechendes Eigentum durch die Aufteilung der Allmenden (preußische Gemeinheitsteilungsordnung vom 7. 6. 1821) und durch die Beseitigung des Obereigentums der Lehnsherren, Erbzinsherren und Erbverpächter (1850) - dessen falsche dogmatische Herleitung schon Thibaut 1801 nachweist - geschaffen (Allodifizierung der Lehen usw.), womit im Übrigen zugleich die Bedeutung des Lehnrechts endet, dessen Funktionen nun teilweise mit Hilfe des Steuerrechts erfüllt werden.
In Österreich, wo vor allem in Österreich ob der Enns/Oberösterreich und Österreich unter der Enns/Niederösterreich um 1850 noch etwa 9500 Lehen bestehen, wird ihre Aufhebung am 7. 9. 1848 im Grundsatz ausgesprochen. Durch Gesetz vom 17. 12. 1862 erfolgt die Aufhebung gegen Entschädigung (endgültig 1867/1869).
Außerdem verschwinden die verwandtschaftlichen Retraktrechte.
Daneben ändert sich auch der Inhalt des Eigentums am Boden. Das Steinsche Edikt vom 9. 10. 1807 eröffnet es durch die Aufhebung aller ständischen Schranken für jedermann. Weiter beseitigt es durch die Abschaffung der Gutsuntertänigkeit für Volleigentümer das Erfordernis der herrschaftlichen Genehmigung der Veräußerung, wodurch der Boden zur Ware (Bodenmobilisierung) wird. Außerdem gestattet es die Teilung der Grundstücke, was rasch zur berüchtigten »Güterschlächterei« des 19. Jh. führt. Darüber hinaus hebt das Edikt zur Beförderung der Landeskultur vom 14. 9. 1811 auch alle Beschränkungen der Bewirtschaftungsfreiheit auf. Dagegen entsteht die Freiheit der unbegrenzten Verschuldung in Preußen erst allmählich (1843).
Die Übertragung des Eigentums wird durch Savigny neu gefasst. Er sieht zunächst als den Grund der Übergabe (lat. iusta causa traditionis) nicht mehr den titulus acquirendi, d. h. den obligatorischen Vertrag wie etwa den Kauf, an, sondern die davon zu trennende Absicht des Eigentümers, mit der Übergabe (lat. traditio) das Eigentum zu verschaffen. Später erklärt er die Tradition überhaupt als einen selbständigen dinglichen Vertrag, der aus den beiden Willenserklärungen des Veräußerers, Eigentum geben zu wollen, und des Erwerbers, Eigentum nehmen zu wollen, bestehe. Dieser Vertrag ist dem schuldrechtlichen Grundgeschäft (z. B. Kauf) gegenüber unabhängig (Abstraktionsprinzip). Neben diesem neuen dinglichen Vertrag (Einigung) ist dann bei beweglichen Sachen noch (wie bisher) die tatsächliche körperliche Übergabe bzw. ein Übergabesurrogat erforderlich.
Eine zweite Veränderung ergibt sich für Grundstücke aus dem preußischen Eigentumserwerbsgesetz vom 5. 5. 1872, das nicht nur Savignys dinglichen Vertrag (Einigung, Auflassung) übernimmt, sondern die Übergabe (lat. traditio) für Grundstücke durch die konstitutive Eintragung des Eigentumsübergangs in ein nach Personen (Personalfolium) gegliedertes Grundbuch (Publizitätsprinzip), das zuletzt nur noch in wenigen Gebieten existiert hatte, ersetzt (vgl. Sachsen 1843, Österreich Grundbuchsgesetz 1871, 1897 auf Tirol und 1900 auf Vorarlberg ausgedehnt). Damit wird zugleich das ius ad rem (Recht auf die Sache) beseitigt, dessen Funktion die Vormerkung zur Sicherung eines schuldrechtlichen Anspruchs übernimmt. All diese Neuerungen gehen in das Bürgerliche Gesetzbuch ein, das im Übrigen auch den gutgläubigen Erwerb vom Nichtberechtigten sowohl bei Grundstücken wie bei beweglichen Sachen anerkennt.
Der Entzug des Eigentums ist möglich. Grundlegende Voraussetzungen hierfür sind seit der französischen Revolution ein öffentliches Bedürfnis, ein rechtmäßiges Verfahren sowie eine ausgleichende Entschädigung (klassische Enteignung). (Für Österreich vgl. das Eisenbahnenenteignungsgesetz von 1878.)
Der Eigentümer hat gegen jeden nichtberechtigten Besitzer einen Anspruch auf Herausgabe der Sache (Herausgabeanspruch, Vindikation, evtl. Schadensersatz, Nutzungsherausgabe, Verwendungserstattung). Im Übrigen wird der Besitz gegen Eigenmacht und der bessere Besitz gegenüber dem schlechteren Besitz geschützt.
c) Bei den beschränkten dinglichen Rechten, deren Kreis im Bürgerlichen Gesetzbuch festgelegt wird (lat. numerus clausus, geschlossene Zahl), gewinnen die Grundpfandrechte wegen des bäuerlichen wie allgemeinen Kreditbedarfs an Bedeutung, wobei sich allmählich der besondere Anstaltskredit (Beleihungsgrenze, Unkündbarkeit) ausbildet. In das Bürgerliche Gesetzbuch gehen außer der (von Bayern unterstützten) Hypothek die in einigen Gebieten (Mecklenburg) besonders ausgebildeten Einrichtungen der Grundschuld und Rentenschuld ein. Wie die anderen beschränkten dinglichen Rechte an Liegenschaften entstehen sie jetzt durch Einigung und (den Berechtigten durch die Publizität sichernde) Eintragung.
Die Reallasten werden faktisch durch das grundpfandrechtlich abgesicherte Darlehen ersetzt und im Bürgerlichen Gesetzbuch knapp geregelt.
Das Pfand an beweglichen Sachen wird als Faustpfand geordnet, wenn auch schon seit der zweiten Hälfte des 19. Jh. wieder besitzlose Pfandrechte auftreten.
d) Die von der Rechtslehre des 19. Jh. ausgebildete Figur der Treuhand wird in ihrem wichtigsten Anwendungsfall (Sicherungsübereignung) nicht in das Bürgerliche Gesetzbuch aufgenommen, aber umgekehrt auch nicht verboten.
Lit.: Berger, W., Eigentumsvorbehalt und Anwartschaftsrecht, besitzloses Pfandrecht und Eigentum, 1984; Buchholz, S., Abstraktionsprinzip und Immobiliarrecht, 1978; Demelius, H., Österreichisches Grundbuchsrecht, 1948; Felgentraeger, W., Friedrich Carl von Savignys Einfluss auf die Übereignungslehre, 1927; Floßmann, U., Eigentumsbegriff und Bodenordnung im historischen Wandel, 1976; Hofmeister, H., Die Grundsätze des Liegenschaftserwerbes in der österreichischen Privatrechtsentwicklung seit dem 18. Jahrhundert, 1977; Moriya, K., Savignys Gedanke im Recht des Besitzes, 2003; Köbler, G., Die rechtliche Regelung des Eigentumserwerbs an Grundstücken in Preußen vom ALR bis zum BGB, in: Wissenschaft und Kodifikation, Bd. 3 1976, 201; Otten, G., Die Entwicklung der Treuhand im 19. Jahrhundert, 1975; Ranieri, F., Zur Lehre der abstrakten Übereignung in der deutschen Zivilrechtswisschenschaft des 19. Jahrhunderts in: Wissenschaft und Kodifikation, Bd. 2 1977, 90; Schubert, W., Die Entstehung der Vorschriften des BGB über Besitz und Eigentumsübertragung, 1966; Wiegand, W., Numerus clausus der dinglichen Rechte, in: Wege europäischer Rechtsgeschichte, hg. v. Köbler, G., 1987, 623; Wiegand, W., Zur Entwicklung der Pfandrechtstheorie im 19. Jahrhundert, ZNR 1981, 1
5. Schulden
Das Schuldrecht wird nach liberalen Grundsätzen ausgestaltet.
a) Die Pandektistik erarbeitet für das Schuldrecht, welches das Sachenrecht an Bedeutung überflügelt und ihm daher auch im Bürgerlichen Gesetzbuch vorangestellt wird, allgemeine Regeln, die als allgemeiner Teil des Schuldrechts zusammengefasst werden.
Hierzu gehört als erstes das Schuldverhältnis selbst, das nach germanistischer Lehre (Karl von Amira, Otto von Gierke) streng von der Haftung zu trennen ist und als Rechtsverhältnis zwischen mindestens zwei Personen, von denen mindestens eine der anderen etwas schuldet, zu verstehen ist. Seine Entstehungsgründe sind Rechtsgeschäft, rechtsgeschäftsähnliches Verhältnis, unerlaubte Handlung und das dieser ähnliche Verhältnis.
Dabei gilt für den Vertrag der Grundsatz der Vertragsfreiheit (Privatautonomie), dem sowohl die Zinsschranken (1867) als auch die laesio enormis (übergroße Verletzung) zum Opfer fallen und die nur durch das Wucherverbot begrenzt wird. Die Freiheit von Abschluss, Form und Inhalt des Vertrags wird im Bürgerlichen Gesetzbuch nur in seltenen Ausnahmen (für Grundstücksgeschäfte auf Betreiben Bayerns) eingeschränkt, durch Nebengesetze aber verschiedentlich stärker eingeengt (nach französischem Vorbild 1896 Gesetz zur Bekämpfung des unlauteren Wettbewerbs, 1909 Gesetz gegen den unlauteren Wettbewerb, Staatsmonopol und Abschlusszwang bei Post, Bahn und Versorgungsleistungen).
In Österreich wird der vom Wucherpatent des Jahres 1803 festgelegte Höchstzinssatz am 14. 12. 1866 außer Kraft gesetzt. Das Zinsgesetz vom 14. 6. 1868 bringt die völlige Vertragsfreiheit, die aber schon 1877 für Galizien und die Bukowina und 1881 für Zisleithanien eingeschränkt wird. 1915 wird aber wieder eine Wucherbestimmung in § 879 ABGB aufgenommen.
Das nach vernunftrechtlichen Vorläufern von Rudolf von Ihering (1818-1892) erarbeitete Institut der culpa in contrahendo (Pflichtverletzung beim Abschließen), wonach ein Partner von Vertragsverhandlungen schon bei Verletzung einer vorvertraglichen Pflicht Schadensersatz zu leisten hat, wird zwar vom Bürgerlichen Gesetzbuch nicht aufgenommen, wenig später aber von der Rechtsprechung anerkannt (1912).
Bei den Störungen des Schuldverhältnisses (Leistungsstörungen) baut Friedrich Mommsen (1853) unter unzutreffender Auslegung der römischen Quellen ein System der Unmöglichkeit auf, das über Bernhard Windscheid in das Bürgerliche Gesetzbuch eingeht. Daneben werden nur Verzug und Mangelgewährleistung ausdrücklich geregelt, was bald als ungenügend angesehen wird. Deshalb verschafft sich die von Staub (1856-1904) 1902 vorgetragene Ansicht, dass jede Pflichtverletzung des Schuldners Leistungsstörung ist (positive Vertragsverletzung, sonstige Pflichtverletzung), rasch allgemeine Anerkennung.
Einzustehen hat der Schuldner bei Pflichtverletzungen nur bei schuldhaftem Verhalten (Verschuldensprinzip). Bei der Verwendung von Erfüllungsgehilfen haftet er nach dem Bürgerlichen Gesetzbuch dagegen auch ohne eigenes Verschulden. Bei konkurrierendem Verschulden entfällt im gemeinen Recht die Ersatzpflicht völlig (Kulpakompensation), während es nach dem Bürgerlichen Gesetzbuch auf das Maß der jeweiligen Verursachung ankommt.
Dritten können Rechte begründet (Vertretung, Vertrag zugunsten Dritter) oder nachträglich abgetreten werden (Windscheid 1856 gegen Mühlenbruch 1813), wobei entsprechend Savignys Übereignungslehre auch die Abtretung der Forderung von einem bisherigen Gläubiger auf einen neuen Gläubiger bald als ein gegenüber dem schuldrechtlichen Grundgeschäft (z. B. Kauf) abstraktes Erfüllungsgeschäft angesehen wird (1856 Strempel). Die Schuldübernahme durch einen neuen Schuldner ist ebenfalls möglich. Bei Übernahme des Vermögens haftet der Übernehmer für die Schulden des übertragenden Dritten.
Das Erlöschen der Schuld wird im Bürgerlichen Gesetzbuch ausführlich geregelt (Erfüllung, Aufrechnung, Erlass, z. T. Hinterlegung). Dabei wird die römische Novation (Schuldumschaffung) nicht mehr erwähnt.
b) Die einzelnen rechtsgeschäftlichen Schuldverhältnisse sind im Wesentlichen romanistisch geprägt.
Beim Kauf ist der Verkäufer zur Verschaffung des Eigentums frei von Rechten Dritter verpflichtet. Für Sachmängel gilt, abgesehen vom Viehkauf, das ädilizische Recht der Wandlung und Minderung. Außerhalb des Bürgerlichen Gesetzbuches wird zur sofortigen Besserung der sozialen Missstände des vor allem von den finanziell schwächeren Schichten seit den 70er Jahren des 19. Jh. nach amerikanischem Vorbild häufig getätigten Ratenkaufs durch das besondere Abzahlungsgesetz (1894, Österreich 27. 4. 1896 Ratengesetz) vorgeschrieben, dass der Verkäufer bei Stocken der Ratenzahlung nicht sowohl die Ware zurückverlangen wie auch die gesamten gezahlten Raten behalten darf.
Im Mietrecht bleibt der Grundsatz »Kauf bricht nicht Miete« erhalten.
Das Dienstvertragsrecht wird im Bürgerlichen Gesetzbuch nach der römischen locatio conductio operarum geregelt, wobei man sich von dem freien Spiel der Kräfte den gerechten Ausgleich erhofft. Das Ungleichgewicht zwischen dem Arbeitgeber, der das Produktionskapital zur Verfügung hat und den teilweisen Naturallohn durchsetzen kann (Trucksystem), und dem überwiegend vermögenslosen Arbeitnehmer wird ebensowenig zur Kenntnis genommen wie der in der sozialen Wirklichkeit schon früh zwischen Arbeitnehmerverbänden und Arbeitgebern abgeschlossene Tarifvertrag (1873 Buchdruckertarif, häufiger seit 1890, in Österreich 1896, erst 1899 von den freien Gewerkschaften bejaht).
Allerdings beginnt schon vor der Mitte des 19. Jh. eine Arbeiterschutzgesetzgebung, werden 1891 Arbeiterausschüsse in den Betrieben zugelassen (Gewerbeordnung) und 1905 in Preußen sowie 1909 im Reich für den Bergbau zwingend vorgeschrieben sowie 1890 Gewerbegerichte vorgesehen (in Österreich 1869 Gesetz über besondere Gewerbegerichte nach französischem Vorbild, 1883/1885 Arbeiterschutz durch das Gesetz über die Gewerbeinspektoren und die zweite Novelle zur Gewerbeordnung, 1870 Beseitigung der Strafbarkeit von Koalition und Streik, in der Schweiz Fabrikgesetze von 1877 und 1914). Erste Darstellungen des Arbeitsrechts erscheinen zu Beginn des 20. Jh. (Philipp Lotmar 1902/1928, Hugo Sinzheimer 1907/1916).
c) Bei den Kondiktionen spricht man seit Savigny von Bereicherungsklagen. Vermutlich auf Grund von Arbeiten Christian Friedrich Glücks (1755-1831) setzt sich die Ansicht durch, dass grundsätzlich bei Kondiktionen nur die noch vorhandene Bereicherung herauszugeben ist. Gierke bewirkt, dass im Bürgerlichen Gesetzbuch die Grundlosigkeit des Habens als Leitgedanke der Bereicherungsansprüche vorangestellt wird. Das Reichsgericht bekennt sich bald zur Berechnung des Herausgabeanspruchs als Saldo zweier herauszugebender Leistungen (Saldotheorie).
d) Für die unerlaubten Handlungen fordert Glück eine Rückkehr zu den römischen Grundlagen (lex Aquilia). Deshalb wird der Grundsatz des ersten Entwurfs des Bürgerlichen Gesetzbuches, dass jeder Schaden, dessen Entstehung der Schuldner mindestens voraussehen musste, zu Ersatz verpflichte, als zu weit angesehen. Das vom Grundsatz der Handlungsfreiheit des Einzelnen bestimmte Bürgerliche Gesetzbuch geht daher wie die römische lex Aquilia von der schuldhaften Verletzung (nur) ganz bestimmter Rechtsgüter und Rechte aus, fügt aber immerhin drei generalklauselartige Tatbestände (§ 823 I »sonstiges Recht«, § 823 II »Schutzgesetzverletzung«, § 826 »vorsätzlich sittenwidrige Schädigung«) an, von denen § 826 der römischrechtlichen actio de dolo entspricht. Unter das allgemeine Merkmal »sonstiges Recht« des § 823 I subsumiert die Rechtsprechung bald den eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetrieb. Dagegen wird der Schutz der Ehre dem Strafrecht überlassen.
Dass die culpa (»Schuld«) allgemeine Voraussetzungen des Schadensersatzes sei, hat zuerst Egid von Löhr (1806/1808) ohne Angabe einer Begründung behauptet. Hasse (1815) teilt unter Missachtung der Quellen diese culpa in die Widerrechtlichkeit und ein subjektives Element (culpa i. e. S., Schuld). Ihering (1867) formt daraus die ethisch qualifizierte Forderung, dass kein Übel ohne Schuld verhängt werden dürfe. Dies kommt dem Liberalismus entgegen, der dem wirtschaftenden Subjekt einen Raum ungehemmter Entfaltung seiner Freiheit sichern möchte, in dem er nicht für die schädlichen Folgen einzustehen hat. Im Ergebnis wird daher die Pflicht den Schaden eines anderen zu ersetzen, grundsätzlich davon abhängig gemacht, dass das ursächliche Verhalten des Inanspruchgenommenen ein Verschulden darstellt. Selbst für Verrichtungsgehilfen haftet der Geschäftsherr nur bei eigener Schuld hinsichtlich der Auswahl und Überwachung (Verschuldensprinzip).
Dass auf Sondergebieten (z. B. Betreiben eines allgemein gefährlichen Unternehmens) sowohl der Gesetzgeber (§ 25 des preußischen Eisenbahngesetzes von 1838) wie auch die Rechtsprechung eine Haftung ohne Verschulden bejahen (Gefährdungshaftung), wird dabei kaum berücksichtigt. Mit der sozialversicherungsrechtlichen Lösung des hierbei brennendsten Problems (Arbeitsunfall, Haftung des Arbeitgebers ohne Verschulden in Form pauschaler Versicherungsbeiträge) in den Reichsversicherungsgesetzen schwindet auch das Bedürfnis nach der Haftung ohne Verschulden allgemein. Diese bleibt mit ethischer wie wirtschaftlicher Begründung auf Einzelgesetze beschränkt (1871 Reichshaftpflichtgesetz, 1909 Automobilgesetz) und wird nur für Ausnahmefälle in das Bürgerliche Gesetzbuch aufgenommen (Wildschadenshaftung, Tierhalterhaftung [auf Intervention der Landwirtschaft teilweise auch dort beseitigt, 30. 5. 1908]).
In Österreich führt 1869 das Gesetz über die Haftpflicht der Eisenbahnunternehmungen eine Verschuldensvermutung zu Lasten der Unternehmungen ein, die 1902 ausgedehnt wird. 1908 wird ein Automobilhaftpflichtgesetz erlassen. In der Schweiz wird 1872 ein Eisenbahngesetz verabschiedet.
Die Haftung von (beamtenrechtlichen) Beamten regelt das Bürgerliche Gesetzbuch für alle Schadensfälle zunächst in einem Sondertatbestand der unerlaubten Handlung (§ 839). Weil durch die dort bestimmte Ersatzpflicht die Einsatzbereitschaft der Beamten gehemmt werde bzw. weil die Standesvertretungen der Beamten diese Haftung nicht wünschen, führen Sondergesetze (Preußen 1909, Reich 1910) die Haftung des Staates für Amtspflichtverletzungen der (haftungsrechtlichen) Beamten ein.
Der entstandene Schaden ist nach dem Bürgerlichen Gesetzbuch grundsätzlich im Wege der Naturalrestitution (Wiederherstellung in Natur, z. B. Ausbesserung) und nur in einzelnen Fällen durch Zahlung von Geld zu ersetzen. Sein Umfang ist aus Gründen der Klarheit vom Maß des Verschuldens unabhängig (Alles-oder-Nichts-Prinzip). Schmerzensgeld kann nur in genau festgelegten Fällen begehrt werden.
Lit.: Bayer, W., Der Vertrag zugunsten Dritter, 1995; Benöhr, H., Konsumentenschutz vor 80 Jahren, ZHR 138 (1974), 492; Benöhr, H., Die Entscheidung des BGB für das Verschuldensprinzip, TRG 46 (1978), 1; Bernert, G., Arbeitsverhältnisse im 19. Jahrhundert, 1972; Choe, B., Culpa in contrahendo bei Rudolf von Ihering, 1988; Diestelkamp, B., Die Lehre von Schuld und Haftung, in: Wissenschaft und Kodifikation, Bd. 6 1982, 21; Dorn, U., Arbeitslosigkeit im System der öffentlichen Armenpflege des 19. Jahrhundert, ZNR 1993; Ebel, F., Berichtung, transactio und Vergleich, 1978; Kiefner, H., Geld und Geldschuld in der Privatrechtsdogmatik des 19. Jahrhunderts, in: Wissenschaft und Kodifikation, Bd. 5 1980, 27; Klippel, D., Der zivilrechtliche Schutz des Namens, 1985; Ogorek, R., Untersuchungen zur Entwicklung der Gefährdungshaftung im 19. Jahrhundert, 1975; Ramm, T., Die deutsche Arbeitsverfassung im »Vormärz« (1815-1848), in: geschichtliche Rechtswissenschaft, hg. v. Köbler, G., 1990, 423; Ramm, T., Die Arbeitsverfassung des Kaiserreichs, FS Walther Mallmann, 1978, 191; Reichard, I., Die Frage des Drittschadensersatzes, 1993; Schroeter, H., Die Drittschadensliquidation, 1995; Schubert, W., Das Abzahlungsgesetz von 1894, ZRG GA 102 (1985), 131; Schubert, W., Windscheid und das Bereicherungsrecht des ersten Entwurfs des BGB, ZRG RA 92 (1975) 186; Söllner, A., Der industrielle Arbeitsvertrag in der deutschen Rechtswissenschaft des 19. Jahrhunderts, in: Studien zur europäischen Rechtsgeschichte, hg. v. Wilhelm, W., 1972, 288; Streik, hg. v. Tenfelde, K./Volkmann, H., 1981; Walter, U., Geschichte des Schmerzensgeldanspruchs, 2004; Weiß, T., Die Entwicklung des Arbeitsvertragsrechts und das BGB, 1991; Wege zur Arbeitsrechtsgeschichte, hg. v. Steindl, H., 1984; Wollschläger, C., Die Geschäftsführung ohne Auftrag, 1976; Wolter, U., Mietrechtlicher Bestandsschutz, 1984; Wollschläger, C., Die Entstehung der Unmöglichkeitslehre, 1970; Würthwein, S., Zur Schadensersatzpflicht wegen Vertragsverletzungen im gemeinen Recht des 19. Jahrhunderts, 1990
6. Handel und Wirtschaft
Während das Allgemeine Deutsche Handelsgesetzbuch (1861) an Handelsgeschäfte allgemein anknüpft und im Interesse der an Rechtsvereinheitlichung interessierten kaufmännischen Kreise Teile des Schuldrechts einbezieht, gibt das bei Schaffung des Bürgerlichen Gesetzbuches revidierte Handelsgesetzbuch (1897) diesen Stoff ab und zieht sich völlig auf ein subjektives Bezugssystem (Kaufmann [Vollkaufmann, Minderkaufmann, Musskaufmann, Sollkaufmann]), im Gegensatz zum Unternehmen) zurück. Es regelt die offene Handelsgesellschaft, Kommanditgesellschaft, stille Gesellschaft und Aktiengesellschaft - 1906 mehr als 5000 Aktiengesellschaften -, wobei man nach dem Wandel des Oktroisystems zum Konzessionssystem (A. 19. Jh.) später zum System der Normativbestimmungen übergeht (1870 [Ersatz des Konzessionszwangs durch das Prinzip der freien Körperschaftsbildung], für Österreich vgl. das Aktienregulativ von 20. 9. 1899). Auf Grund wirtschaftlicher Bedürfnisse wird 1892 nach dem Vorbild der Aktiengesellschaft die (kleinere und einfachere) Gesellschaft mit beschränkter Haftung (GmbH, Österreich 6. 3. 1906) und geringem Geschäftskapital geschaffen (1911 20000 Gesellschaften mit beschränkter Haftung), nachdem schon 1867/1868 ein Gesetz Preußens bzw. des Norddeutschen Bundes die zur Selbsthilfe gegründeten Genossenschaften geordnet hatte (Österreich [1869 844 Genossenschaften] 9. 4. 1873). Das Reichsgericht lässt 1897 Kartelle zu (RGZ 38, 155).
Im Wertpapierrecht findet das Wechselrecht 1848 eine einheitliche Regelung (ADWO) innerhalb des Deutschen Bundes, während das Bürgerliche Gesetzbuch nur wenige Grundfiguren des auch wegen der Zunahme des bargeldlosen Zahlungsverkehrs immer bedeutsameren Rechtsgebiets (z. B. Anweisung) aufnimmt (vgl. weiter 1908 Scheckgesetz). Im Versicherungsrecht führen die aus der Zunahme des Geschäftsbetriebs resultierenden Missstände zu gesetzlichen Eingriffen (1901 Versicherungsaufsichtsgesetz, 1908 Versicherungsvertragsgesetz). Im Urheberrecht und Erfinderrecht setzt sich im 19. Jh. nach englisch-französischem Vorbild (Patentgesetz Frankreichs 1791) vorübergehend die Vorstellung vom »geistigen Eigentum« durch und wird der Hersteller gesetzlich geschützt (1837 Bundestagsbeschluss gegen den Büchernachdruck) (unter Savignys Einfluss Preußen 11. 6. 1837, Norddeutscher Bund 1870, Reichsgesetz 1871, Literatururhebergesetz 1901, Kunsturhebergesetz 1907, vgl. weiter Patentgesetz (Preußen 1815, Österreich 1820, Württemberg 1818, Sachsen 1853) 1877, Gebrauchsmustergesetz 1891, Geschmacksmustergesetz 1876, Markenschutzgesetz 1874, Österreich 1840 Hofkanzleidekret, das die Vervielfältigung literarischer Erzeugnisse untersagt, 1846 Gesetz zum Schutz des literarischen und artistischen Eigentums, 1895 Urheberrechtsgesetz, 1897 Patentgesetz, 1848 Gesetz zum Schutz der Muster und Modelle für Industrieerzeugnisse, Gesetze zum Schutz von Marken 1858, 1890). International bedeutsam wird hier die Berner Übereinkunft (1866), nach der die beteiligten Staaten das jeweilige inländische Recht auch auf die Angehörigen aller Teilnehmerstaaten erstrecken. 1896 wird ein erstes Gesetz zur Bekämpfung des unlauteren Wettbewerbs erlassen, das 1909 neu gefasst wird.
Das Bergrecht, das sich allmählich der großindustriellen Betriebsweise des Bergbaus gegenübersieht, wird nach liberalem französischem Vorbild gesetzlich geordnet (Allgemeines Berggesetz für die preußischen Staaten 1865, Allgemeines Berggesetz [Österreichs] 1854). Dabei wird das ältere Bergregal durch die staatliche Berghoheit und die allgemeine Bergbaufreiheit, die später teilweise wieder verlorengeht (Ruhrgebiet), ersetzt. Sonderrecht gilt im Bereich des durch Verleihung zu erlangenden Berwerkseigentums, der bergrechtlichen Gesellschaft (Gewerkschaft) und des bergmännischen Arbeitsrechts und Sozialrechts (Knappschaften).
Lit.: Bergfeld, C., Einzelkaufmann und Unternehmen, in: Wissenschaft und Kodifikation des Privatrechts im 19. Jahrhunderts, hg. v. Coing, H./Wilhelm, W., Bd. 6 1982, 126; Bappert, W., Wege zum Urheberrecht, 1962; Bühler, D., Die Entstehung der allgemeinen Vertragsschluss-Vorschriften im Allgemeinen Deutschen Handelsgesetzbuch (ADHGB) von 1861, 1991; Conradi, J., Das Unternehmen im Handelsrecht, 1993; Ebel, F., Die Anfänge der rechtswissenschaftlichen Behandlung der Versicherung, Zs. f. d. ges. Versicherungswissenschaft 1980, 7; Gieseke, L., Die geschichtliche Entwicklung des deutschen Urheberrechts, 1957; Historische Studien zum Urheberrecht, hg. v. Wadle, E., 1993; Kartelle und Kartellgesetzgebung, hg. v. Pohl, H., 1985; Köbler, G., Die Wissenschaft des gemeinen deutschen Handelsrechts, in: Wissenschaft und Kodifikation des Privatrechts im 19. Jahrhundert, hg. v. Coing, H./Wilhelm, W., Bd. 1 1974, 277; Kurz, P., Weltgeschichte des Erfindungsschutzes, 2000; Landwehr, G., Die Verfassung der Aktiengesellschaften, ZRG 99 (1982), 1; Modernisierung des Handelsrechts im 19. Jahrhundert, hg. v. Scherner, K., 1993; Neugebauer, R., Versicherungsrecht vor dem Versicherungsvertragsgesetz, 1990; Quellennachweis und Bibliographie zur Geschichte des Versicherungsrechts in Deutschland, hg. v. Ebel, F., 1993; Raisch, P., Die Abgrenzung des Handelsrechts vom Bürgerlichen Recht als Kodifikationsproblem im 19. Jahrhundert, 1962; Recht und Entwicklung der Großunternehmen im 19. und frühen 20. Jahrhundert, hg. v. Horn, N./Kocka, J., 1979; Reich, N., Die Entwicklung des deutschen Aktienrechtes im 19. Jahrhundert, Ius commune 2 (1969), 239; Scherner, K., Anfänge einer deutschen Handelsrechtswissenschaft im 18. Jahrhundert, ZHR 136 (1972), 465; Schröder, R., Die Entwicklung des Kartellrechts und des kollektiven Arbeitsrechts durch die Rechtsprechung des Reichsgerichts vor 1914, 1988; Schubert, W., Die Gesellschaft mit beschränkter Haftung, in: Quaderni Fiorentini 11/12 (1982/3), 589; Wadle, E., Fabrikzeichenschutz und Markenrecht, 1983; Wadle, E., Geistiges Eigentum, 2003; Wadle, W., Savignys Beitrag zum Urheberrecht, in: Grundfragen des Privatrechts, 1990, 95
§ 8 Republikanisches zweites Reich und totalitäres Drittes Reich
A) Grundlagen
I. Politische Verhältnisse
Nach dem Verzicht Kaiser Wilhems II. auf den deutschen Thron (formelle Abdankung am 28. 11. 1918), dem sich die übrigen deutschen Fürsten für ihr Amt anschließen, werden die Geschäfte des Reichskanzlers vom bisherigen Reichskanzler Prinz Max von Baden am 9. 11. 1918 staatsstreichartig an den Vorsitzenden der Sozialdemokraten (Mehrheitssozialisten) (1913) Friedrich Ebert (1871-1925) übertragen. Darüber hinausgehend ruft der sozialdemokratische Staatssekretär (Minister) Philipp Scheidemann (1865-1939) vor dem Reichstagsgebäude in Berlin für das Deutsche Reich die Republik aus (9. 11. 1918 14 Uhr[, nach der wenig später in Weimar erarbeiteten Verfassung sog. Weimarer Republik]), Karl Liebknecht (USPD) eine freie sozialistische Republik. Am 10. 11. 1918 bildet sich eine neue Regierung aus je drei Mitgliedern der Mehrheitssozialdemokraten (MSPD) und der von ihnen 1916/1917 anlässlich der Frage der Kriegskredite abgespaltenen Unabhängigen Sozialdemokraten (USPD). Dieser unter dem Vorsitz Friedrich Eberts stehende, (zwecks hilfsweiser Legitimation) von den Berliner Arbeiter- und Soldatenräten im Zirkus Busch bereits am gleichen Tag bestätigte Rat der Volksbeauftragten erlässt nach dem Abschluss eines Waffenstillstands mit den Alliierten (11. 11. 1918) einen Aufruf an das deutsche Volk (12. 11. 1918), in dem er die Grundzüge seines politischen sozialistischen Programmes verkündet (u. a. Aufhebung der Gesindeordnung). Der Rat der Volksbeauftragten überträgt am 15. 11. 1918 Hugo Preuß als Staatssekretär das Reichsamt des Inneren mit dem Auftrag zur Erstellung eines Verfassungsentwurfs. Ein Antrag auf Errichtung einer Räterepublik wird am 19. 12. 1918 vom Kongress der Arbeiter- und Soldatenräte abgelehnt.
In Österreich, unter dem ab 1915 die nichtungarischen Länder Habsburgs verstanden werden, bildet sich angesichts der drohenden militärischen Niederlage am 6. 10. 1918 ein serbisch-kroatisch-slowenischer Nationalausschuss und zur gleichen Zeit eine polnische Nationalversammlung. Am 16. 10. 1918 erlässt der als Nachfolger Kaiser Franz Josephs I. 1916 auf den Thron gelangte Kaiser Karl I. ein Manifest, das die westliche Reichshälfte (Zisleithanien) in national einheitliche Einzelstaaten gliedern will. Dementsprechend versammeln sich am 21. 10. 1918 im niederösterreichischen Landhaus in Wien die deutschsprachigen Abgeordneten des Reichsrats als provisorische Nationalversammlung für Deutsch-Österreich und setzen einen Ausschuss zur Ausarbeitung einer Verfassung ein. Am 28. 10. 1918 tritt in Prag eine tschechische Nationalversammlung zusammen. Am 30. 10. 1918 fasst die provisorische Nationalversammlung für Deutsch-Österreich bzw. den selbständigen deutschösterreichischen Staat einen Beschluss über die grundlegenden Einrichtungen der Staatsgewalt, mit dem sie den neuen, mit der Rechtsordnung Zisleithaniens ausgestatteten Staat Deutschösterreich herstellt. Am gleichen Tag ruft Ungarn seine Unabhängigkeit aus. Am 11. 11. 1918 verzichtet der Kaiser auf jeden Anteil an den Staatsgeschäften und erklärt sich bereit, eine Entscheidung Deutschösterreichs über seine Verfassung anzunehmen. Während sich Tschechoslowakei, Ungarn und Jugoslawien verselbständigen, wird unter Erlass eines Gesetzes über die Staats- und Regierungsform die am 12. 11. 1918 aus den meisten deutschsprachigen Gebieten (mit 23 Prozent der Vorkriegsbevölkerung) gebildete Republik Deutsch-Österreich (ohne Deutsch-Böhmen, Sudetenland, Südtirol, Teile Kärntens und Deutsch-Westungarns) feierlich proklamiert. Sie wird zu einem Bestandteil der deutschen Republik erklärt, muss aber wenig später auf Druck der nichtdeutschen Mächte (im Friedensvertrag) den Namen Österreich annehmen und auf eine geplante Verbindung mit Deutschland (§ 2 Republikgesetz) verzichten. Ein Gesetz vom 18. 12. 1918 sieht eine konstituierende Nationalversammlung vor, die in allgemeinen und gleichen Wahlen (mit Frauenwahlrecht) bestimmt werden soll. Sie tritt nach den am 16. 2. 1919 durchgeführten Wahlen am 4. 3. 1919 erstmals zusammen. Die Habsburger werden nach einem Restaurationsversuch durch das mit Verfassungsrang ausgestattete Habsburgergesetz vom 3. 4. 1919 ihrer Herrscherrechte und sonstigen Vorrechte entsetzt und teils unbedingt, teils bedingt des Landes verwiesen. Ihr Vermögen wird von der Republik übernommen. Mit den Alliierten wird in Saint Germain am 10. 9. 1919 ein Friedensvertrag abgeschlossen. Unter einer bürgerlichen Mehrheit wird am 1. 10. 1920 ein von Hans Kelsen (1881-1973) erarbeitetes Staatsgrundgesetz (Bundesverfassungsgesetz) angenommen (mit Gewaltentrennung, föderalem Staatsaufbau [Burgenland, Kärnten, Niederösterreich, Oberösterreich, Salzburg, Steiermark, Tirol, am 3. 11. 1918 von Tirol verselbständigtes Vorarlberg, Wien], Zweikammersystem [Nationalrat, Bundesrat] und demokratischer Willensbildung sowie aus der Dezemberverfassung von 1867 übernommenen Grundrechten), das am 10. 11. 1920 in Kraft gesetzt wird. Geliebt wird die darauf gegründete erste Republik von ihrem Volk nicht.
Nach heftigen politischen Auseinandersetzungen, in deren Verlauf die Unabhängigen Sozialdemokraten aus dem Rat der Volksbeauftragten ausscheiden (27. 12. 1918) und nach dem Spartakusaufstand die Führer der Kommunistischen Partei Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg getötet werden (15. 1. 1919), findet nach dem Verhältniswahlrecht die am 16. 12. 1918 vom allgemeinen deutschen Rätekongress beschlossene Wahl zur verfassunggebenden Nationalversammlung statt (19. 1. 1919), die den bürgerlichen Parteien (Zentrum 90 Sitze, 19 Prozent, Deutsche Demokratische Partei 75 Sitze, 18 Prozent, Deutsche Volkspartei 22 Sitze, Deutschnationale Volkspartei 42 Sitze) eine Mehrheit verschafft (Sozialdemokraten 163 Sitze, 40 Prozent, USPD 22 Sitze, 7 Prozent). Die Versammlung tagt wegen des in Berlin erfolgenden Spartakusaufstands im Nationaltheater in Weimar (6. 2. 1919) und wählt nach Auflösung des Rates der Volksbeauftragten und Aufstellung einer Notverfassung (10. 2. 1919) und eines Gesetzes über die vorläufige Reichsgewalt (10. 2. 1919) am 11. 2. 1919 zunächst Friedrich Ebert († 28. 2. 1925) zum Reichspräsidenten sowie Philipp Scheidemann zum Ministerpräsidenten einer aus Mehrheitssozialisten, Zentrum und Deutscher Demokratischer Partei gebildeten Regierung. Nach Verabschiedung eines Übergangsgesetzes (4. 3. 1919) sowie nach Unterzeichnung des Friedensvertrags von Versailles (28. 6. 1919, aam 9. 7. 1918 von der Nationalversammlung ratifiziert) wird der förderalistisch gestaltete Entwurf der Verfassung am 31. 7. 1919 mit 282 gegen 75 Stimmen der Deutschnationalen Volkspartei und der Deutschen Volkspartei verabschiedet. Die Verfassung tritt am 14. 8. 1919 in Kraft.
Als Folge des Friedensschlusses verliert Deutschland weite Gebiete (Elsass-Lothringen an Frankreich, Westpreußen an (das wiederhergestellte) Polen, Nordschleswig an Dänemark, Saargebiet (bis 1935) an Frankreich, Kolonien an den Völkerbund u. a., insgesamt etwa ein Siebentel seines Gebiets und ein Zehntel seiner Bevölkerung), muss abrüsten (Reichswehr) und wird als Urheber des Krieges (wegen der »Kriegsschuld«) zu hohen Reparationsleistungen verpflichtet. Im Inneren begünstigt das einfache Verhältniswahlrecht die Zersplitterung der Parteien, die nur sehr instabile Regierungen bilden (14 Regierungen bis 1930, 20 Regierungen in 14 Jahren) und deren Abgeordnete vorrangig ihr eigenes Wohl (Wiederwahl) und das Wohl ihrer jeweiligen Wähler im Auge haben. Große Gruppen, darunter auch viele Juristen, identifizieren sich nicht mit dem Staat und finden sich nur mit ihm ab oder bekämpfen ihn (Attentat auf Matthias Erzberger 26. 8. 1921, Attentat auf Außenminister Walter Rathenau 4. 6. 1922, Kapp-Putsch 13. 3. 1920, Putsch der Schwarzen Reichswehr 1923, Hitler-Putsch München 8./9. 11. 1923). Am 11. 1. 1923 rückt Frankreich wegen vorsätzlicher Vernachlässigung der Reparationsleistungen militärisch im Ruhrgebiet ein. Die wirtschaftlichen Krisen verunsichern die Bevölkerung und treiben sie auf der Grundlage der immer weiter um sich greifenden Überzeugung, dass eine radikale Umkehr unvermeidlich und eine neue Ordnung unentbehrlich sei, den extremen Parteien zu, von denen schließlich 1932 die National-Sozialistische Deutsche Arbeiterpartei (NSDAP) stärkste Partei des Reichstags wird.
Sie wird im Januar 1919 von dem Eisenbahnschlosser Anton Drexler als Deutsche Arbeiterpartei gegründet. Im September 1919 tritt der in Braunau in Oberösterreich als Sohn eines Zollamtsoffizials (Alois Hitler † 1903) geborene, nach sehr guten Volksschulnoten, mühsamem Realschulabschluss und dem Tod seiner Mutter (Klara Hitler † 1907) 1908 nach Wien und nach nicht vollendeter Ausbildung zum Kunstmaler und Architekten wegen Ablehnung des örtlichen Völkergemischs und der Habsburger als dessen Kaiser 1913 nach München gelangte, dort 1914 als Kriegsfreiwilliger in ein bayerisches Regiment eingetretene und vier Jahre als Meldegänger und Gefreiter tapfer dienende Adolf Hitler (1889-1945) im Anschluss an einen Beobachtungsauftrag als 55. Parteimitglied in sie ein, der aus verschiedensten Quellen die gegen das internationale, nach den wahrscheinlich gefälschten, in Russland veröffentlichten Zionistischen Protokollen (1905) die Weltherrschaft anstrebende Weltjudentum und den von dem Juden Karl Marx (1818-1883) begründeten Marxismus sowie auf Ausdehnung Deutschlands nach Osten gerichtete, die Überlegenheit der Arier (besonders der Germanen) über andere menschliche Rassen vertretende, auf die Arbeiterschaft zu gründende nationalsozialistische Ideologie begründet. Unter seinem Einfluss wird die Partei 1920 in NSDAP umbenannt und später nach dem Führerprinzip hierarchisch gegliedert (Gaue, Kreise, Ortsgruppen usw.). Ihr durchaus auch sozialrevolutionäres Gedankengut enthaltendes, im Wesentlichen von ihrem Gründer Anton Drexler formuliertes, aber bezüglich des Rechtes auf Gedanken des Gründers der Deutsch-Sozialistischen Partei (Alfred Brunner) sowie des Bochumer Amtsgerichtsrats und Gründers des »Bundes für deutsches Recht« Arnold Wagemann und über ihn letztlich auf den Germanisten des ausgehenden 19. Jahrhunderts (z. B. Otto von Gierke) beruhendes Programm wird am 24. 2. 1920 in 25 meist sehr volkstümlichen, später nur teilweise verwirklichten Punkten niedergelegt (Gemeinnutz geht vor Eigennutz, Aufhebung des Versailler Diktats, Selbstbestimmung aller Deutschen, Abschaffung des arbeits- und mühelosen Einkommens, Erwerb von Kolonien) und in Hitlers nach dem niedergeschlagenen Putsch in München vom 8. 11. 1923 (mit Ludendorff, 16 Tote) in der wegen Hochverrats auf fünf Jahre festgelegten Haft verfassten Buch »Mein Kampf« ausführlich entwickelt. Es trägt der am 23. 11. 1923 (wie die KPD) verbotenen und zunächst aufgelösten, nach Hitlers vorzeitiger Haftentlassung (20. 12. 1924) am 27. 2. 1925 aber wiederbegründeten Partei, welche – bei Zusage der Beschränkung auf verfassungsmäßige Mittel (1930) - die grundlegende Änderung der bestehenden Verhältnisse verlangt und die Aufhebung des Gegensatzes von Kapital und Arbeit verspricht, bei den Wahlen zum 4. Reichstag (1928) zunächst 2,6 % der Stimmen und 12 Reichstagsmandate, bei den Wahlen zum 5. Reichstag (1932) 107 Mandate und bei den Wahlen zum 6. Reichstag (1932) 230 Mandate und 37,4 % aller Stimmen (13,7 Millionen) aus allen Bevölkerungsschichten (Volkspartei des Protestes, überdurchschnittliche Unterstützung durch den Mittelstand der Selbständigen) ein.
Daraufhin ernennt der konservative, am 10. 4. 1932 von der Mehrheit der Wähler Adolf Hitler vorgezogene, seit Friedrich Eberts Tod amtierende Reichspräsident von Hindenburg im Rahmen seiner inzwischen entstandenen Präsidialdiktatur nach Scheitern der Deflationspolitik des Reichskanzlers Brüning und der Reichskanzler von Papen und von Schleicher nach längerem Zögern am 30. 1. 1933 Hitler – der eine nationale, den Bruch der bisherigen Verfassung notwendig einschließende Revolution als Ziel proklamiert - zum - durch überwiegend (8) bürgerliche Minister »eingerahmten« - Reichskanzler. Auf Hitlers Verlangen löst er durch Notverordnung den Reichstag auf (1. 2. 1933), beruft am 6. 2. 1933 einen Staatskommissar für Preußen und setzt nach dem wohl von einem Einzelnen verursachten Brand des Reichtagsgebäudes (27. 2. 1933) zahlreiche Grundrechte außer Kraft (Verordnung zm Schutz von Volk und Staat 28. 2. 1933, Ausnahmezustand). Die folgende Wahl vom 5. 3. 1933 endet mit der absoluten Mehrheit für die Koalitionsparteien Hitlers (340 bzw. 347 von 647 Mandaten, 120 SPD, 81 KPD), die Wahl im Spätherbst 1933 verschafft der NSDAP 92 % aller Sitze im Reichstag. In Kürze wird die demokratische Verfassung in wesentlichen Zügen beseitigt.
Mit grausamer Brachialgewalt werden im durch ständige Verdichtung der Herrschaft allmählich möglichen totalen Staat die wegen ihrer wirtschaftlichen Erfolge verhassten Juden (rund 2000 antijüdische Gesetze, Verordnungen, Erlasse usw.) und anderen Fremdvölkischen bekämpft, wobei die anfangs geförderte Auswanderung seit 23. 10. 1941 verboten wird. Dabei sieht das Reichsbürgergesetz vom 15. 9. 1935 als Reichsbürger nur noch die Staatsangehörigen deutschen oder artverwandten Blutes an. Am 1. 9. 1939 ordnet der Reichsführer SS Himmler ein Ausgehverbot für Juden nach 20.00 Uhr an. Im Oktober 1939 bestimmt er, dass alle Juden, die ein staatsabträgliches Verhalten zeigen, in die seit 1933/1934 nach ausländischen Vorbildern errichteten etwa 60 Konzentrationslager (1935 3500, Herbst 1938 60000 Insassen) verbracht werden. Am 31. 7. 1941 beauftragt der Bevollmächtigte für den Vierjahresplan Göring den SS-Gruppenführer Heydrich unter Berufung auf einen Erlass des Führers vom 24. 1. 1941, alle erforderlichen Vorbereitungen für eine Gesamtlösung der Judenfrage im deutschen Einflussgebiet zu treffen. Die 11. Verordnung zum Reichsbürgergesetz vom 25. 11. 1941 entzieht den Deportierten die deutsche Staatsangehörigkeit und ordnet den Anfall ihres Vermögens an den Staat an. Am 18. 12. 1942 vereinbaren Reichsjustizminister und Reichsführer SS und Chef der Deutschen Polizei, dass Juden, Zigeuner, Russen und Ukrainer aus dem Strafvollzug an die SS überstellt werden. Die 13. Verordnung zum Reichsbürgergesetz vom 1. 7. 1943 sieht schließlich vor, dass strafbare Handlungen überhaupt von der Polizei geahndet werden. Die sog. Endlösung in den Vernichtungslagern erfolgt dementsprechend gänzlich im rechtsfreien Raum.
Zum Zweck der Vereinigung der Deutschen veranlasst Hitler, dem bereits 1935 die Rückkehr des Saargebiets aus der Einverleibung durch Frankreich und 1936 die Besetzung des entmilitarisierten Rheinlands gelungen war und der auf Grund seiner die objektive wirtschaftliche Lage der meisten Deutschen verbessernden Politik die Zustimmung fast aller Deutschen (90 %) besaß, 1938 den Anschluss Österreichs.
In Österreich, wo 1925 auf Druck europäischer Staaten die Kompetenzabgrenzung zwischen Bund und Ländern umgesetzt und die überkommene Doppelgleisigkeit der Verwaltung in den Bundesländern beseitigt und 1929 die ausführende Gewalt gegenüber dem Parlament gestärkt und die Volkswahl des Bundespräsidenten eingeführt wird, wird 1932 der Christlichsoziale Engelbert Dollfuss Bundeskanzler. Anlässlich einer Abstimmung bezüglich eines Streikes der Bundesbahnbediensteten gegen die ratenweise Zahlung ihrer Gehälter legen die Parlamentspräsidenten (Renner, Ramek, Straffner) am 4. März 1933 nacheinander ihr Präsidium zurück, um an Abstimmungen teilnehmen zu können. Diese sog. Selbstausschaltung des Parlaments nutzt die Regierung zur Machtübernahme und erlässt Verordnungen mit Gesetzeskraft. Um Druck auf die weitere Entwicklung Österreichs auszuüben, beschließt das Deutsche Reich am 27. 5. 1933 eine 1000 Mark-Sperre, nach der die Reise nach Österreich 1000 Mark kostet. Am 16. 2. 1934 wird nach Schüssen des Regimes Dollfuss auf Schutzbündler die Sozialdemokratische Partei Österreichs, welche zwischen dem 12. und 15. 2. 1934 die verfassungsmäßige Ordnung gewaltsam wiederherstellen will (Bürgerkrieg), verboten. Am 24. 4/1. 5. 1934 erlässt das Kabinett Dollfuss durch Verordnung eine neue ständestaatliche Verfassung. Die Parteien werden in einer vaterländischen Front zusammengefasst, die NSDAP wird verboten. Am 25. 7. 1934 wird Dollfuss im Zuge eines nationalsozialistischen Putschversuchs getötet. Seinen Nachfolger Kurt von Schuschnigg setzt Hitler unter verstärkten Druck und zwingt ihn am 12. 2. 1938 den nationalsozialistischen Sympathisanten Arthur Seyss-Inquart als Sicherheitsminister zu bestellen. Für den 12. 3. 1938 setzt Schuschnigg am 9. 3. 1938 eine gegen die Verbindung mit dem Deutschen Reich gerichtete Volksabstimmung für ein »freies und deutsches, unabhängiges und soziales, christliches und einiges Österreich« an. Unter dem Druck Hitlers muss er am 11. 3. 1938 zurücktreten. Die Volksabstimmung wird abgesagt. Bundespräsident Miklas bestellt Seyss-Inquart zum Bundeskanzler. Dieser richtet eine Bitte um Hilfe an Hitler, welcher der Einzug deutscher Truppen am 12. 3. 1938 um 5.30 Uhr folgt. Gegen Mittag beginnt Hitler seinen Triumphzug in sein Heimatland, wo er um 16 Uhr in seiner Geburtsstadt Braunau und am Abend in Linz jubelnd empfangen wird. Danach beschließt die Bundesregierung Österreichs am 13. 3. 1934 durch Verordnung ein Bundesverfassungsgesetz über die Wiedervereinigung Österreichs mit dem Deutschen Reich (Anschlussgesetz). Eine vom Sozialdemokraten Renner wie von Bischöfen unterstützte Volksabstimmung vom 10. 4. 1938 erbringt 99, 73 Prozent Ja-Stimmen für den Anschluss Österreichs an das Deutsche Reich (1938 Ostmark, 1942 Alpen- und Donaureichsgaue), der zunächst als Annexion (mit der Rechtsfolge des Untergangs), später überwiegend als Okkupation (mit der Rechtsfolge der bloßen Handlungsunfähigkeit) verstanden wird. Für die 1919 an Italien gelangten (246036 optionsberechtigten) Südtiroler ergibt sich durch ein von Hitler mit dem italienischen Faschistenführer Benito Mussolini geschlossenes Abkommen vom 21. 10. 1939 die von 86 Prozent (211799 Optanten gegenüber 34237 Dableibern) bejahte Option der Auswanderung in das Deutsche Reich, die von 76000 Südtirolern bis 1943 tatsächlich wahrgenommen wird.
Um nach den durch den Versailler Friedensvertrag herbeigeführten territorialen Verlusten des Reiches wieder mehr Lebensraum für das deutsche Volk zu gewinnen, gliedert Hitler im Herbst 1938 das Sudentenland an (durch Frankreich und Großbritannien im Münchener Abkommen anerkannt) und marschiert im März 1939 in die 1918 von Österreich verselbständigte Tschechoslowakei ein (Reichsprotektorat Böhmen und Mähren). Die Slowakei unterstellt sich der Schutzherrschaft Hitlers, das Memelland wird auf Grund eines Abkommens mit Litauen mit dem Reich vereinigt. Am 1. 9. 1939 greift Hitler, weil Polen seine territorialen Forderungen nicht erfüllt, verbündet mit Italien und Japan (Achsenmächte) und abgeschirmt durch einen Nichtangriffspakt mit der Sowjetunion, das durch Beistandszusagen Englands und Frankreichs gesicherte Polen an und löst damit den zweiten Weltkrieg aus.
Nach anfänglichen Erfolgen (Blitzkriege) in Polen, Dänemark, Norwegen, den Niederlanden, Belgien, Frankreich, Jugoslawien und Griechenland überfällt Hitler unter Bruch des Nichtangriffspakts die Sowjetunion (22. 6. 1941) und erklärt zusammen mit Japan und Italien den Vereinigten Staaten von Amerika den Krieg. Allerdings bringen die Kämpfe in Nordafrika und vor allem bei Stalingrad im Winter 1942/1943 die Wende zugunsten der durch die Vereinigten Staaten von Amerika verstärkten Alliierten. Die schweren Niederlagen des militärisch nur wenig leistungsfähigen Italien gegen die Alliierten führen im Juli 1943 zum Sturz Mussolinis und zur Gefangennahme der italienischen Truppen durch deutsche Streitkräfte. Zugleich verstärkt sich in Deutschland der innere Widerstand (Studentengruppe Weiße Rose 1942/1943, Attentat Claus Graf Schenk von Stauffenbergs 20. 7. 1944). Im Sommer 1944 erfolgt die Invasion der westlichen Alliierten in Nordfrankreich und Südfrankreich. Am 30. 4. 1945 nimmt sich Hitler, nach eigener Einschätzung der größte Führer aller Zeiten, das Leben. Am 7./8. 5. 1945 endet der Krieg mit der bedingungslosen Kapitulation der deutschen Streitkräfte und der völligen Niederlage Deutschlands und seiner Verbündeter. In Asien bewirkt der Abwurf von Atombomben auf die japanischen Städte Hiroshima (6. 8. 1945) und Nagasaki durch die Vereinigten Staaten von Amerika das Ende der Kämpfe.
Lit.: Benz, W., Geschichte des Dritten Reiches, 2000; Bracher, K., Die deutsche Diktatur, 6. A. 1979; Bracher, K., Die Auflösung der Weimarer Republik, 5. A. 1971; Brauneder, W., Deutsch-Österreich 1918, 2000; Goldhagen, D., Hitlers willige Vollstrecker, 1996; Kogon, E., Der SS-Staat, 1946; Langbein, H., Der Auschwitz-Prozess, 1996; Obst, D., »Reichskristallnacht«, 1991; Stürmer, M., Koalition und Opposition in der Weimarer Republik 1924-1928, 1967; Tuchel, J., Konzentrationslager, 1991; Die Weimarer Republik 1918-1933, hg. v. Bracher, K., 1987; Brauneder, W., Deutsch-Österreich 1918, 2000
II. Wirtschaft
Die Wirtschaft ist auf Grund der internationalen Verflechtungen fest in die gesamte Weltwirtschaft eingebunden. Sie hängt daher in erheblichem Maße von deren immer schnelleren Entwicklung ab. Dementsprechend umfassend und flexibel muss die staatliche Wirtschaftspolitik werden.
Dabei folgt zunächst der Kriegsperiode mit ihrer Konzentration auf Kriegsgüter und der Verknappung der Rohstoffe, Arbeitskräfte und Geldmittel nach Kriegsende ein Überangebot an Arbeitskräften und als Folge der Kriegsverschuldung wie der (1932 schließlich gestrichenen) Reparationsforderungen, die der Staat durch Reichsbankdarlehen finanziert, und der Finanzierung des passiven Widerstands gegen die französische Besetzung des Ruhrgebiets durch Druck neuer Geldscheine eine Aufblähung der Geldmenge. Dementsprechend verfällt die Währung (Inflation). Im November 1923 ist ein Dollar 4 200 000 000 000 Mark wert. Der nach der Abwertung im Verhältnis von 1 Billion Mark zu 1 Reichsmark folgende Aufschwung wird durch die Weltwirtschaftskrise, die 1929 infolge der übermäßigen Kapazitätserweiterungen und ungesicherten Expansion der Bankenpolitik erwächst, jäh unterbrochen. Zahlreiche Beschäftigte werden arbeitslos (Anfang 1933 6 Millionen). Ihre Wiedereingliederung ist das vorrangige Ziel der nationalsozialistischen Wirtschaftspolitik, die durch Aufhebung der Kraftfahrzeugsteuer (10. 4. 1933) die Nachfrage nach Automobilen belebt (bis 1934 4 Millionen geplant) und durch das Gesetz über die Errichtung eines Unternehmens Reichsautobahn (27. 6. 1933) Arbeitsplätze im Straßenbau schafft. Zusammen mit der Wiedereinführung der allgemeinen Wehrpflicht (16. 3. 1935) verringern diese durch eine der zeitgemäßen Wirtschaftstheorie folgende Neuverschuldung finanzierten Maßnahmen die Arbeitslosigkeit erheblich. Die wirtschaftliche Lage bessert sich dadurch deutlich. Zugleich wird aber die Kontrolle des Staates über die Wirtschaft verstärkt und das Führerprinzip verwirklicht (u. a. 1933 Möglichkeit von Zwangskartellen).
Österreich ersetzt 1925 die Krone durch den Schilling.
1. Landwirtschaft
Während zwischen 1918 und 1933 keine gewichtigen Veränderungen eintreten, strebt das Dritte Reich die Förderung der Landwirtschaft zur Erreichung der Autarkie an. Der Sicherung des einzelnen Hofes dient das Reichserbhofgesetz (22. 9. 1933), das etwa 1 Million Höfe mit 54 % der landwirtschaftlichen Gesamtfläche erfasst.
2. Gewerbe
Infolge der vom Versailler Friedensvertrag bewirkten Gebietsabtretungen verschlechtert sich die Rohstoffversorgung. Das Dritte Reich fördert insbesondere das Metallgewerbe und das Baugewerbe. Hauptausbaugebiet der Industrie wird Mitteldeutschland (Leuna, Wolfsburg, Salzgitter).
3. Handel und Dienstleistungen
Das Verkehrswesen wird im Dritten Reich bis 1939 durch den Bau von 2100 Kilometern Autobahn und die Erhöhung des Kraftwagenbestands auf 1,8 Millionen Fahrzeuge verbessert. Im Handel wird vor allem die Unabhängigkeit vom Ausland angestrebt. Insgesamt nimmt der Anteil der in der öffentlichen Verwaltung Beschäftigten zu.
4. Öffentliches Finanzwesen
Die bei Fehlen eigener wirtschaftlicher Nachteile naheliegende Neigung der wählbaren Entscheidungsträger zur Finanzierung des Staatshaushaltes durch Neuverschuldung wächst.
Lit.: Bergier, J., Wirtschaftsgeschichte der Schweiz, 1990; Genschel, H., Die Verdrängung der Juden aus der Wirtschaft im Dritten Reich, 1966; Grundmann, F., Agrarpolitik im Dritten Reich, 1979
III. Gesellschaft
Der erste Weltkrieg bringt durch die von ihm verursachten wirtschaftlichen Schwierigkeiten und die Notwendigkeit ihrer gemeinsamen Bewältigung eine gewisse Einebnung bestehender gesellschaftlicher Unterschiede. Außerdem verschwinden mit der durch ihn eingeleiteten Inflation alle reinen Geldvermögen. Nach dem Krieg verliert der Adel seine Vorrechte und werden die unteren Schichten durch die Sozialgesetzgebung bessergestellt. Im übrigen hält die Wanderung der Bevölkerung vom Land zur Stadt und von der Landwirtschaft zur Industrie an. Die Zahl der Selbständigen nimmt ab, die Gliederung der Unselbständigen in Beamte, Angestellte und Arbeiter gewinnt an Gewicht. Die Stellung der Frau bessert sich (Wahlrecht).
Im Dritten Reich erleichtern die Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen kurzfristig die Lage vieler Arbeitnehmer. Aus ideologischen Gründen werden die großen Familien und das Bauerntum, in welchem sich die Verbindung von Blut und Boden verwirklicht, gefördert. Sozialen Aufstieg in verhältnismäßig großem Umfang ermöglicht in erster Linie die Partei samt ihren Nebenorganisationen. Die Juden in Deutschland (1810 rund 200000 oder 0,97 % der Bevölkerung, 1880 437000, 1910 615000, 1925 568000 oder 0,90 % der Bevölkerung) und im besetzten Ausland werden nahezu vollständig getötet oder vertrieben (etwa 6 Millionen, Holocaust). Etwa 100000 Menschen werden Opfer des Programms der Euthanasie. Der zweite Weltkrieg verringert die Gesamtbevölkerung Deutschlands um etwa 8 Millionen, meist Männer im wehrfähigen Alter (von 18,2 Millionen deutschen Soldaten fallen 5,3 Millionen). 14 Millionen Deutsche werden aus ihrer Heimat vertrieben.
Lit.: Mason, T., Sozialpolitik im Dritten Reich, 2. A. 1978; Schönbaum, D., Die braune Revolution. Eine Sozialgeschichte des Dritten Reiches, 1980
IV. Geistesleben
In der Zeit zwischen 1918 und 1933 werden die philosophischen Grundhaltungen des 19. Jh. teils neu belebt (Neukantianismus, Neuhegelianismus), teils grundlegend in Frage gestellt. Die im 19. Jh. schon sichtbare Abwendung von den christlichen Kirchen, wie sie vor allem der Materialismus und der Positivismus gefordert haben, setzt sich fort und wird im Dritten Reich von Staats wegen angestrebt. Einen Ersatz hierfür versuchen wissenschaftliche Erkenntnis und irrationale Ideologie zu bieten.
Den Naturwissenschaften gelingen zahlreiche neue Entdeckungen und Erfindungen (1913 Röhrensender, 1919 Tonfilm, 1925 Quantenmechanik, 1929 Fernsehen, 1936 Buna-Kautschuk, 1938 Nylon-Kunststoff, 1938 Kernspaltung). Mit ihrer Hilfe scheint der Grund gelegt zur vollständigen Beherrschung der Erde, deren letzte unbekannte Gebiete durchdrungen werden, und des Menschen, der durch Erblehre und Massenkommunikation manipulierbar wird und zur Sicherung seiner Existenz zu Verbänden Zuflucht nehmen muss.
Die nationalsozialistische Ideologie betont die Bedeutung gerade der Gemeinschaft in ihrer besonderen Form der Nation. Sie verbindet dadurch die im 19. Jh. an vielen Stellen gepflegten Vorstellungen von Sozialismus und Nationalismus zu einer neuen Einheit (Nationalsozialismus). An deren Spitze sieht sie den heilsbegabten Führer. Sie versteht den Menschen nur als Glied eines größeren Ganzen. Wesentliche Kernsätze sind daher »Du bist nichts, dein Volk ist alles« und »Führer befiehl, wir folgen dir«. Dazu kommt eine in ihren parteipolitisch organisierten Anfängen schon in das dritte Drittel des 19. Jh.s (Berliner Hofprediger Adolf Stoecker [1835-1909], Marburger Publizist Otto Böckel [1859-1923]) gehörende rassistische, antisemitische Komponente, welche die Befreiung des unterdrückten germanischen Herrenvolks und die Vernichtung des wirtschaftlich verknechtenden Weltjudentums fordert. Auch der Bolschewismus wird als Gegner angesehen.
Lit.: Heiber, H., Universität unterm Hakenkreuz, Bd. 1 1991
B) Recht
I. Allgemeines
1. In der Zeit zwischen 1918 und 1933 des (zweiten) Deutschen Reiches setzt sich die Vereinheitlichung des Rechtes durch neue Reichsgesetze und Reichsverordnungen fort, doch schaffen auch die Länder neues Recht. Mit deren Beseitigung im Dritten Reich entsteht im wesentlichen nur noch Reichsrecht.
2. Unter den Rechtsquellen stehen die Gesetze und Verordnungen an der Spitze.
a) Besonders zu nennen sind außer der Verfassung (der Weimarer Nationalversammlung), die auf einen Entwurf des Innenministers Hugo Preuß zurückgeht, vor allem Gesetze und Verordnungen des Arbeitsrechts und Mietrechts.
Im Dritten Reich ist eine grundsätzliche gesetzliche Neuordnung geplant, die aber hauptsächlich nur im Bereich der Verfassung (durch Einzelgesetze) verwirklicht wird, während es im Strafrecht lediglich zu einem Entwurf kommt. Völlig verändert wird außerdem das Privatrecht der Juden. In Österreich gilt seit dem Anschluss die deutsche Gesetzgebung (EheG, ReichserbhofG, HGB, AktG, ScheckO, WechselO, Gesetz zur Ordnung der nationalen Arbeit, Gemeindeordnung, Gesetz zur Sicherung der Einheit der Partei und Staat, Reichsbürgergesetz, Blutschutzgesetz [Nürnberger Gesetze 15. 9. 1935] u. a. m.), doch bleiben die älteren Kodifikationen (z. B. ABGB) im Wesentlichen erhalten.
b) Gewohnheitsrecht
Das Gewohnheitsrecht tritt auf Grund der zahlreichen Gesetze weiter zurück.
c) Richterrecht
Grundsätzlich stellt sich die Frage des Richterrechts anlässlich des Aufwertungsstreits.
Der Gesetzgeber hält an der Gleichwertigkeit der Münzeinheit Mark fest, obgleich infolge der Inflation etwa die gesamten Kriegsschulden von 154 Mrd. Mark am 15. 11. 1923 nur noch einen Wert von ca. 15 Pfennigen einer Mark von 1914 haben. Deshalb vertritt das Reichsgericht am 28. 11. 1923 den dem Gesetzespositivismus widersprechenden Standpunkt, dass aus Treu und Glauben (§ 242 BGB) der Grundsatz folge, Mark sei nicht gleich Mark und der Gläubiger eine Aufwertung seiner Forderung verlangen bzw. vom Vertrag zurücktreten könne (RGZ 107, 78, RGZ 108, 380). Andernfalls würden alle Gläubiger unbillig benachteiligt und alle Schuldner ungerecht bevorzugt. Ein gegen diese Rechtsprechung gerichtetes geplantes Gesetz will der Richterverein (entgegen dem Gesetzespositivismus) nicht anwenden (Beschluss vom 8. 1. 1924), da ein Gesetzgeber ein Ergebnis, das von Treu und Glauben gebieterisch gefordert werde, nicht durch sein Machtwort vereiteln dürfe. Dementsprechend erfolgt schließlich durch Verordnung eine 15-25 %ige Aufwertung.
Problematisch wird das Richterrecht über die hieraus ersichtliche unmittelbare Gegenüberstellung zum Gesetz, die dem Gewaltenteilungsprinzip offensichtlich widerspricht, hinaus dadurch, dass nunmehr deutlich(er als zuvor) wird, dass die richterliche Entscheidung von einer politisch-ideologischen Grundhaltung beeinflusst sein kann, die anders als im Gesetzgebungsverfahren sich nicht zu legitimieren braucht. Dieser unkontrollierte Einfluss führt schon in der Zeit zwischen 1918 und 1933 zu dem Ergebnis, dass Straftaten der Angehörigen verschiedener politischer Lager nach dem Republikschutzgesetz verschieden hart bestraft werden. Darüber hinaus wird im Dritten Reich - eigentlich im Gegensatz zum Gesetzespositivismus - von einem Teil der Richter auf allen Gebieten des positiven Rechts nationalsozialistische Ideologie aufgenommen.
Seit einer einstweiligen Anordnung des Reichskommissars für die preußische Justiz vom 31. 3. 1933 werden jüdische Richter und Staatsanwälte zwangsweise beurlaubt und wird die (überdurchschnittlich hohe) Zahl der zugelassenen jüdischen Rechtsanwälte stark verringert.
d) Die Rechtswissenschaft entwickelt zwischen 1918 und 1933 weitere dogmatische Figuren (z. B. Geschäft mit dem, den es angeht) und bearbeitet neue Rechtsgebiete (z. B. Arbeitsrecht, Rechtssoziologie). Im Dritten Reich macht sie sich in nicht geringem Umfang der nationalsozialistischen Ideologie dienstbar.
Dabei werden die nichtarischen juristischen Professoren, die rund 35 % oder rund 150 rechtswissenschaftliche Professoren an den etwa 30 Fakultäten stellen, bis 1938 aus dem Dienst entfernt und wandern zu etwa 70 % in die neue Welt aus, wo es der Hälfte von ihnen gelingt, an amerikanischen Universitäten (Berkeley) zumindest äußerlich Fuß zu fassen. Von den verbleibenden (rund 300 arischen) Professoren wirkt ein erheblicher Teil aus Überzeugung oder aus Opportunismus an der Umgestaltung des Rechtes mit, wobei das Regime seinerseits führende Anhänger (wie den ursprünglichen Anhänger des Zentrums C. Schmitt, O. Koellreuther oder E. Forsthoff) zwar zunächst lobt, dann aber doch eher beiseiteschiebt. 1936 beschließen 100 juristische Hochschullehrer jeden zitierten jüdischen Autor durch die Angabe »Jude« besonders zu kennzeichnen.
3. Der unvermindert vorherrschende Rechtspositivismus (vgl. Hans Kelsen [1881-1973], Reine Rechtslehre) bzw. Gesetzespositivismus wird durch die Interessenjurisprudenz angegriffen und durch die Rechtssoziologie relativiert, vom Nationalsozialismus dagegen zur Verwirklichung seiner Ziele eher ausgenutzt.
Die der Freirechtsschule verwandte Interessenjurisprudenz geht auf den Tübinger Rechtshistoriker und Privatrechtler Philipp Heck zurück (1914 Gesetzesauslegung und Jurisprudenz). Er stellt fest, dass wegen der unbestreitbaren Lückenhaftigkeit der Rechtsordnung der Richter sein Urteil entgegen der begriffsjuristischen Doktrin nicht logisch ableiten kann, sondern den sozialen Konflikt der in einzelnen Fällen beteiligten Interessen wertend entscheiden muss. Dabei habe er sich der vom Gesetzgeber in den gesetzlichen Regeln abstrakt gefassten Konfliktentscheidungen und der dabei getroffenen Wertungen der beteiligten Interessen oder Begehrensdispositionen zu bedienen. Erst dann, wenn er keine (analog) anwendbare abstrakte Interessenbewertung auffinde, dürfe er selbst so entscheiden, wie der Gesetzgeber vermutlich entscheiden würde.
Die Rechtssoziologie führt die Sozialwissenschaften in die Rechtswissenschaft ein. Sie gründet sich, abgesehen von den für das Strafrecht besonders wichtigen kriminologischen Ansätzen, auf die Arbeiten Eugen Ehrlichs (1862-1922) und Max Webers (1864-1920). Ihr geht es um die Erforschung der rechtlichen Wirklichkeit und damit um einen juristischen Naturalismus. Sie wird im Dritten Reich rasch verdrängt.
Der statt der Freiheit des Einzelnen das Interesse der Gemeinschaft betonende Nationalsozialismus schließlich trifft auf Recht und Positivismus ohne eigentliche rechtstheoretische Grundhaltung. Er geht lediglich von der Vorstellung aus, dass er die richtige Weltanschauung sei, die mit allen Mitteln darunter selbverständlich auch dem Recht - verwirklicht werden müsse. Das an vorgegebenen konkreten Lebensordnungen des völkischen Gemeinschaftswillens auszurichtende Recht ist ihm nur ein Kampfinstrument zur Durchsetzung der vom Führer ohne Kontrolle aus seinem Charisma heraus geschaffenen Weltanschauung (»die Gemeinschaft ist die Idee des Rechts«) in der gesellschaftlichen Wirklichkeit (bzw. zur Vernichtung des Feindes), wobei etwa schon beim Abschluss des sog. Leipziger Juristentags von 1933 mehr als 10000 Juristen schwören, dem Führer bis ans Ende ihrer Tage folgen zu wollen. Da der Positivismus außerjuristische Gehalte aussondert, sind die während seiner Vorherrschaft entstandenen Gesetze (z. B. Bürgerliches Gesetzbuch) dem Nationalsozialismus nicht grundsätzlich abträglich. Er braucht lediglich die bestimmten, ursprünglich als selbverständlich mitgedachten Voraussetzungen, dass der Staat sittlichen Prinzipien folgt und die Macht nicht rechtswidrig anwendet, aufzugeben und die ausgeschiedenen außerjuristischen Inhalte durch sein Gedankengut zu ersetzen. Das Gesetz kann bei dieser »unbegrenzten Auslegung«, für welche die Rechtswissenschaftler Dahm, Eckhardt, Höhn, Ritterbusch und Siebert eigene, am 14. 1. 1936 verkündete Leitsätze über die Stellung und Aufgaben des Richters erarbeiten, und deren Einfallstore nicht zuletzt die abstrakt und weit gefassten Generalklauseln sind, formal völlig unverändert bleiben. Im äußersten Fall gerät es, weil es »dem gesunden Volksempfinden ins Gesicht schlägt«, außer Anwendung. Daneben entwickeln sich Führerwille, gesundes Volksempfinden und nationalsozialistische Weltanschauung (Geist des Nationalsozialismus) überhaupt zu neuen Rechtsquellen, die dazu führen, dass der vom Führer gewollte Mord von Rechtswissenschaftlern zur höchsten Justiz erklärt werden kann (Gesetz über Maßnahmen der Staatsnotwehr vom 3. 7. 1934 nach der Ermordung Ernst Röhms und mindestens 77 seiner SA-Freunde).
4. In der Schweiz wird 1937 ein einheitliches Strafgesetzbuch geschaffen, das 1942 in Kraft tritt und vom Grundsatz nulla poena sine lege (keine Strafe ohne Gesetz) beherrscht wird. 1936 werden innerhalb des Obligationenrechts das Handelsrecht und das Wertpapierrecht geregelt sowie 1941 das Bürgschaftsrecht und 1932 die Kraftfahrzeughaftung.
Lit.: Anderbrügge, K., Völkisches Rechtsdenken, 1978; Biographisches Lexikon zur Weimarer Republik, hg. v. Benz, R./Graml, H., 1988; Broszat, M., Der Staat Hitlers, 11. A. 1986; Buschmann, A., Nationalsozialistische Weltanschauung und Gesetzgebung 1933-1945, Bd. 2 2000; Das Sonderrecht für die Juden im NS-Staat, hg. v. Walk, J., 2. A. 1996; Die deutsche Rechtsgeschichte in der NS-Zeit hg. v. Rückert, J./Willoweit, D., 1995; Die Juristen der Universität Bonn im Dritten Reich, hg. v. Schmoeckel, M., 2004; Dreier, H., Rechtslehre, Staatssoziologie und Demokratietheorie bei Hans Kelsen, 2. A. 1991; Frehse, M., Ermächtigungsgesetzgebung im Deutschen Reich 1914-1933, 1985; Göppinger, H., Die Verfolgung der Juristen jüdischer Abstammung durch den Nationalsozialismus, 1963; Göppinger, H., Juristen jüdischer Abstammung im »Dritten Reich«, 2. A. 1990; Hartmann, F., Das methodologische Denken bei Karl Larenz, 2001, Hattenhauer, H., Das Volksgesetzbuch, FS Rudolf Gmür 1983, 255; Hedemann, J., Die Flucht in die Generalklauseln, 1933; Hirsch, M. u. a., Recht, Verwaltung und Justiz im Nationalsozialismus, 1984; Interessenjurisprudenz, hg. v. Ellscheid, G./Hassemer, W., 1974; Kallfass, W., Die Tübinger Schule der Interessenjurisprudenz, 1972; Klee, E., Das Personenlexikon zum Dritten Reich, 2003; Klug, U., Prinzip der Reinen Rechtslehre, 1974; Köbler, G., Wege deutscher Rechtsgeschichte, in: Wege europäischer Rechtsgeschichte, hg. v. Köbler G., 1987, 182; Landau, P., Die deutschen Juristen und der nationalsozialistische Deutsche Juristentag in Leipzig 1933, ZNR 16 (1994), 373; Lichtmannnegger, S., Die Rechts- und Staatswissenschaftliche Fakultät der Universität Innsbruck, 1999, Majer, D., Grundlagen des nationalsozialistischen Rechtssystems, 1987; Meinck, J., Weimarer Staatslehre und Nationalsozialismus, 1978; Müller, I., Furchtbare Juristen, 1987; Münchener rechtshistorische Studien zum Nationalsozialismus, hg. v. Nehlsen, H./Brun, G., 1996; Nationalsozialistisches Recht in historischer Perspektive, hg. v. Hattenhauer, H., 1981; Polaschek, M., Die Rechtsentwicklung in der ersten Republik, 1992; Rechtsgeschichte und Nationalsozialismus, hg. v. Stolleis, M./Simon, D., 1989; Recht und Justiz im »Dritten Reich«, hg. v. Dreier, R./Sellert, W., 1989; Recht und Rechtslehre im Nationalsozialismus, hg. v. Säcker, F., 1992; Recht, Rechtsphilosophie und Nationalsozialismus, hg. v. Rottleuthner, H., 1983; Recht und Unrecht im Nationalsozialismus, hg. v. Salje, P., 1985; Rethmeier, A., Nürnberger Rassegesetze und Entrechtung der Juden im Zivilrecht, 1995; Rüthers, B., Entartetes Recht, 2. A. 1989; Rüthers, B., Die unbegrenzte Auslegung, 4. A. 1991; Schlegelberger, F., Abschied vom BGB, 1937; Schmitt, C., Die drei Arten des rechtswissenschaftlichen Denkens, 1934; Schröder, J., Gesetzesauslegung und Gesetzesumgehung, 1985; Stolleis, M., Gemeinwohlformeln im nationalsozialistischen Recht, 1974; Stolleis, M., Recht im Unrecht, 1994; Stolleis, M., Die Rechtsordnung des NS-Staates, JuS 1982, 645; Verlag C. H. Beck, Bibliographie 1913-1988, 1988; Wegerich, C., Die Flucht in die Grenzenlosigkeit, 2004; Wistrich, R., Wer war wer im Dritten Reich?, 1983; Zischka, J., Die NS-Rassendideologie, 1986; Zitelmann, R., Hitler. Selbstverständnis eines Revolutionärs, 1987
II. Öffentlicher Bereich
1. Verfassung
a) Die von dem linksliberalen Berliner Staatsrechtler Hugo Preuß als Leiter des Reichsamts des Inneren seit einem Auftrag des Rats der Volksbeauftragten vom 15. 11. 1918 entworfene Weimarer Reichsverfassung (14. 8. 1919) will nach ihrer Präambel das Reich erneuern. Ihre in der hergebrachten Verfassungstradition stehenden grundlegenden Ziele sind Freiheit, Gleichheit, Gerechtigkeit, Dienst am Frieden sowie Förderung des gesellschaftlichen Fortschritts. Ihre 181 Artikel gliedern sich in einen Organisationsteil und einen Grundrechtsteil.
Danach ist das Reich ein (nationaler und wegen seiner Steuerhoheit unitarischer) Bundesstaat mit zuletzt 17 Ländern (Preußen, Bayern, Sachsen, Württemberg, Baden, Hessen, Thüringen [1920 aus sechs Kleinstaaten gebildet], Oldenburg, Braunschweig, Mecklenburg-Schwerin, Mecklenburg-Strelitz, Anhalt, Bremen, Hamburg, Lübeck, Lippe, Schaumburg-Lippe[, Pyrmont 1922, Waldeck 1929 zu Preußen]) sowie eine Republik, in der alle Staatsgewalt vom Volk ausgeht (Volkssouveränität, nach Art. 17 WRV unaufhebbar parlamentarische Demokratie). Das Volk hat die Möglichkeit zu Volksentscheiden und Volksbegehren. Es wählt den Reichspräsidenten und den Reichstag in allgemeiner, direkter, gleicher und geheimer Wahl, wobei alle Männer und Frauen ab 20 Jahren wahlberechtigt sind. Bei der Reichstagswahl gilt das einfache Verhältniswahlrecht (pro 60000 Stimmen ein Abgeordneter).
Der als Vertretung des Volkes nunmehr der Vertretung der Länder (Reichsrat) vorgeordnete Reichstag, in dem Abgeordnete nur ihrem Gewissen unterworfen sind, ist zuständig für die Gesetzgebung. Der Reichsrat, in dem jedes Land mindestens eine und (Preußen) höchstens zwei Drittel aller Stimmen hat, kann gegen Gesetze einen Einspruch erheben, der aber vom Reichstag überstimmt werden kann. Durch Ermächtigungsgesetze, von denen wegen der schwierigen politischen und wirtschaftlichen Lage zwischen 1919 und 1923 bereits 7 verabschiedet werden, kann der Regierung eine umfassende Handlungsbefugnis übertragen und damit die Kontrollfunktion des Parlaments ausgeschaltet werden.
Der Reichspräsident ist Staatsoberhaupt und regiert durch den Reichskanzler, der die Richtlinien der Politik bestimmt, sowie die Reichsminister, die er ernennt und entlässt, die aber zugleich des Vertrauens des Reichstages bedürfen (parlamentarisches System, so schon das ausgehende Kaiserreich seit dem 28. 10. 1918 [Umwandlung der konstitutionellen Monarchie zur parlamentarischen Monarchie]). Der Reichspräsident kann unter bestimmten Umständen den Reichstag auflösen (, was insgesamt sechsmal erfolgt,) und hat nach Art. 48 II der Verfassung das Recht, im Falle der Störung der öffentlichen Ordnung und Sicherheit die erforderlichen Maßnahmen zu treffen (® Notverordnungsrecht mit Gegenzeichnung des verantwortlichen Ministers), wobei nach Art. 48 III der Reichstag - den allerdings der Reichspräsident auflösen kann - die Außerkraftsetzung der Maßnahmen verlangen kann. Von diesen Notverordnungen erlässt der Reichspräsident im Jahre 1931 41 (gegenüber 34 Gesetzen des Reichstags) und im Jahre 1932 60 (gegenüber 5 Gesetzen des Reichstags). Der Reichspräsident kann den Reichstag auflösen.
Oberstes Gericht ist das Reichsgericht, dem gegenüber der von der Verfassung (Art. 108 ERV) vorgesehene, für Streitigkeiten zwischen Reich und Ländern sowie zwischen einzelnen Ländern zuständige Staatsgerichtshof (21. 7. 1921 bei dem Reichsgericht in Leipzig eingerichtet, daneben Staatsgerichtshöfe einzelner Länder) keine Bedeutung erlangt, so dass verschiedene verfassungsgerichtliche Belange vom Reichsgericht, Reichsfinanzhof unde Reichsschiedsgericht und inzidenter von anderen Gerichten (vgl. RGZ 111, 320) wahrgenommen werden.
Das Verhältnis zwischen Reich und Ländern ist für verschiedene Bereiche unterschiedlich geordnet. Die Gesetzgebung steht dem Reich vor allem teils ausschließlich, teils konkurrierend mit den Ländern zu, wobei Reichsrecht Landesrecht bricht. Die Ausführung der Gesetze ist grundsätzlich den Ländern überlassen, doch entsteht daneben allmählich auch eine beachtliche Reichsverwaltung. Die Rechtsprechung wird mit Ausnahme des Reichsgerichts von Landesbehörden ausgeübt. Bezüglich der Finanzen werden die Länder nun Kostgänger des Reiches. Insgesamt findet so eine Gewichtsverlagerung auf das Reich statt.
Die Grundrechte werden in den Artikeln 109 bis 165 sehr ausführlich geregelt. An der Spitze stehen die Rechte auf Gleichheit und Freiheit. Viele Sätze enthalten eher ein politisches Kompromissprogramm aus konservativen, liberalen und sozialistischen Ideen als tatsächliche einklagbare Rechte. Andererseits wird mit den Grundrechten nun auch eine Garantie einzelner Rechtsinstitute (Eigentum) oder Institutionen (Berufsbeamtentum) verknüpft.
Das österreichische Bundesverfassungsgesetz des Jahres 1920 verteilt die Kompetenzen zwischen Bund und Ländern in Art. 10ff. Dementsprechend hat der Bund Zuständigkeiten in Gesetzgebung und Vollziehung überhaupt, in der Gesetzgebung über Grundsätze und in der Gesetzgebung allein. Die Bundesgesetzgebung erfolgt durch die beiden Kammern Nationalrat und Bundesrat, die (ursprünglich) in der Bundesversammlung (gemeinsam) den Bundespräsidenten wählen, dessen Zuständigkeiten in bewusster Abkehr vom Kaiserreich bescheiden sind. Die obersten Verwaltungsgeschäfte des Bundes führt die vom Nationalrat gewählte Bundesregierung aus. Art. 149 nimmt eine Reihe älterer Gesetze (z. B. Staatsgrundgesetz von 1867, Habsburgergesetze von 1919) in die Verfassung auf.
b) Der Machtergreifung Hitlers folgen unter dem deutschnationalen Justizminister Gürtner (1932-1941) zahlreiche Maßnahmen, welche die bestehende Verfassung im Wege gezielter Verfassungsumbrüche grundlegend umgestalten, ohne sie als Ganzes förmlich aufzuheben.
Als erstes werden durch Verordnungen des Reichspräsidenten zum Schutz des deutschen Volkes (4. 2. 1933) und zum Schutz von Volk und Reich (28. 2. 1933) die wichtigsten Grundrechte außer Kraft gesetzt. Durch das nach einhelliger Ansicht die bestehende Verfassung wesentlich ändernde Gesetz zur Behebung der Not von Volk und Reich (24. 3. 1933 sog. Ermächtigungsgesetz) überträgt der Reichstag, der zudem seine Geschäftsordnung so ändert, dass Abwesende als Ja-Stimmen gezählt werden, mit den Stimmen der Koalition und der bürgerlichen Parteien (444 von 538 anwesenden Abgeordneten) und gegen die (94) Stimmen der Sozialdemokraten sowie ohne Einspruch des nicht mehr voll funktionsfähigen Reichsrats mit der verfassungsmäßig erforderlichen Zweidrittelmehrheit seine Gesetzgebungsgewalt (grundsätzlich und zunächst auf vier Jahre beschränkt) auf die Reichsregierung und verabschiedet danach selbst insgesamt nur noch sieben Gesetze. Das vorläufige Gesetz zur Gleichschaltung der Länderparlamente mit dem Reich (31. 3. 1933) überträgt den Landesregierungen Gesetzgebungszuständigkeit und setzt die Länderparlamente entsprechend der Sitzverteilung des Reichstags zusammen, nachdem die Nationalsozialisten schon vorher in den meisten von ihnen die Macht übernommen oder auf Grund der Notverordnung vom 28. 2. 1933 Reichskommissare eingesetzt hatten. Das unmittelbar anschließende Gesetz zur Gleichschaltung der Länder mit dem Reich (7. 4. 1933) stellt an die Spitze der nichtpreußischen Länder einen Reichsstatthalter, der die Landesregierung ernennt. Seit Mai 1933 werden verschiedene Parteien verboten (SPD, KPD) oder aufgelöst (Zentrum, Bayerische Volkspartei u. a.). Am 14. 7. 1933 wird die NSDAP als einzige politische Partei Deutschlands bezeichnet und am 1. 12. 1933 durch das Gesetz zur Sicherung der Einheit von Partei und Staat überhaupt zur alleinigen Staatspartei gemacht. Das Gesetz über den Neuaufbau des Reiches vom 30. 1. 1934 beseitigt die Länder als Träger eigener Staatsgewalt, indem es die Landesparlamente aufhebt und die Landesregierungen der Reichsregierung unterstellt. Am 14. 2. 1934 wird der Reichsrat aufgelöst. Nach dem Tod des Reichspräsidenten von Hindenburg (12. 8. 1934) schließlich übernimmt Hitler das Amt als Reichskanzler. Sein Wille tritt im Ergebnis an die Stelle des Gesetzes, ohne dass allerdings eine einheitliche Herrschaftsausübung Platz zu greifen vermag. In den letzten Kriegsjahren verliert im daraus entstehenden Zuständigkeitschaos das Recht überhaupt vielfach seinen hergebrachten Platz.
Lit.: Achtzig Jahre Weimarer Reichsverfassung, hg. v. Eichenhofer, E., 1999; Anschütz, G., Die Verfassung des Deutschen Reichs vom 11. August 1919, 14. A. 1933; Bachnik, U., Die Verfassungsreformvorstellungen im nationalsozialistischen Deutschen Reich, 1995; Echterhölter, R., Das öffentliche Recht im nationalsozialistischen Staat, 1970; Huber, E., Verfassungsrecht des Großdeutschen Reiches, 2. A. 1937; Hubert, P., Uniformierter Reichstag, 1992; Hueck, I., Der Staatsgerichtshof, 1996; Kelsen, H., Allgemeine Staatslehre, 1925; Rüthers, B., Carl Schmitt im Dritten Reich, 2. A. 1990; Schmitt, C., Verfassungslehre, 1928; Staatsrecht und Staatsrechtslehre im Dritten Reich, hg. v. Böckenförde, E., 1985
2. Verwaltung
a) In der Zeit zwischen 1918 und 1933 stehen nach der Reichsverfassung an der Spitze der Reichsverwaltung die für die einzelnen Sachbereiche (Auswärtiges, Inneres, Finanzen, Reichswehr, Justiz, Wirtschaft, Arbeit, Post und Verkehr) zuständigen Minister. Sie beaufsichtigen den Vollzug der Reichsgesetze, der überwiegend durch Landesbehörden erfolgt. In den Ländern stehen den Landesressorts entsprechend Landesminister vor.
Zuständig ist das Reich für die Pflege der auswärtigen Beziehungen, für Verteidigung, Zölle, Verbrauchsteuern, Post, Eisenbahn und Wasserstraßen. Dabei bestehen eigene Mittelbehörden und Unterbehörden für die Reichswehr, die Reichsbahn, die Reichswasserstraßen, die Zölle und Reichssteuern u. a., seit 1927 auch für die Arbeitsverwaltung. Im Übrigen sind, soweit nicht ein Reichtsgesetz eine andere Regelung trifft, die Länder zuständig. Der Umfang ihrer Aufgaben wächst infolge der steigenden Anforderungen an den Staat weiter. Den Gemeinden ist die Selbstverwaltung durch die Verfassung garantiert. Dementsprechend erledigen sie die Aufgaben der örtlichen Gemeinschaft eigenverantwortlich.
Durchgeführt werden die öffentlichen Aufgaben im wesentlichen durch Beamte, deren wohlerworbene Rechte die Verfassung absichert.
In Österreich wird unter dem Druck der eine Aufbauanleihe gewährenden europäischen Staaten zwecks Verwaltungsvereinfachung auf Grund von Artikel 18 I des Bundesverfassungsgesetzes das Verwaltungsrecht 1925 in einem Allgemeinen Verwaltungsverfahrensgesetz, einem Verwaltungsstrafgesetz und einem Verwaltungsvollstreckungsgesetz einheitlich geregelt. Danach bedarf der Bescheid (Verwaltungsakt) einer Begründung und Rechtsmittelbelehrung. In Thüringen kommt es 1926 zu einer vergleichbaren Landesverwaltungsordnung, in Württemberg 1931 zu einem Entwurf und in Bremen 1943 zu einem Verwaltungsgesetz.
Polizei ist weiterhin jegliche Gefahrenabwehr (z. B. Baupolizei, Feuerpolizei, Gesundheitspolizei, Gewerbepolizei, Sittenpolizei). In Preußen wird dieser materielle Polizeibegriff in § 14 des Polizeiverwaltungsgesetzes aufgenommen, wonach die Polizeibehörden im Rahmen der geltenden Gesetze die nach pflichtmäßigem Ermessen notwendigen Maßnahmen zu treffen haben, um von der Allgemeinheit oder dem Einzelnen Gefahren abzuwehren, durch welche die öffentliche Sicherheit oder Ordnung bedroht wird.
Für Bauten finden sich erste Ansätze für eine Städtebauplanungsrecht. Umfassende Neuregelungsversuche scheitern jedoch.
Für das Finanzwesen führt die Reichsabgabenordnung (23. 12. 1919) allgemeine Verwaltungsregeln und Verfahrensregeln ein. Dem Reich, dessen Haushalt einen durchschnittlichen Umfang von etwa acht Milliarden Reichmark jährlich hat, stehen nun vor allem auch die direkten Steuern vom Einkommen und Vermögen zu (Erzbergersche Finanzreform), während die Länder nur gewisse Anteile erhalten. Die Einziehung erfolgt durch die Reichsfinanzverwaltung (Landessteuergesetz v. 30. 3. 1920). 1925 wird eine Neuregelung der Einkommensteuer (1920), Körperschaftsteuer, Vermögensteuer (1922) und Erbschaftsteuer sowie der Bewertung getroffen, 1926 der Umsatzsteuer.
Im Sozialbereich werden die bisherigen Regelungen erweitert. Die Fürsorgepflichtverordnung und die Reichsgrundsätze über Voraussetzung, Art und Maß der öffentlichen Fürsorge von 1924 legen Reichsgrundsätze für die öffentliche Fürsorge fest. 1922 wird die Arbeitsvermittlung und 1927 die (nur in Köln 1896 in der Stadtkölnischen Versicherungskasse gegen Arbeitslosigkeit einen Vorläufer aufweisende) Arbeitslosenversicherung eingeführt.
b) Im Dritten Reich wird die gesamte Verwaltung der nationalsozialistischen Ideologie unterworfen. Organisatorisch wird sie durch die Ausschaltung der Länder und Gemeinden, für die 1935 eine Deutsche Gemeindeordnung geschaffen wird, vollkommen zentralisiert und über von der Partei eingesetzte Bürgermeister und Gemeinderäte auf den Führer ausgerichtet. Lediglich territorial treten keine grundsätzlichen Veränderungen ein.
Im öffentlichen Dienst werden durch das Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums (7. 4. 1933) alle politisch unzuverlässigen Personen und Juden entfernt. Später kann Beamter nur werden, wer für den nationalsozialistischen Staat eintritt. Das Deutsche Beamtengesetz vom 26. 1. 1937 will die Beamten im nationalsozialistischen Sinn politisieren. Wesentliche Voraussetzung wird die Parteigenossenschaft (Parteimitgliedschaft).
Die Polizei, die auf das Reich überführt wird, bildet ein wesentliches Instrument zur Durchsetzung der Ideologie. Für die Verwirklichung der politischen Ordnungsvorstellungen wird sie von verschiedenen rechtsstaatlichen Bindungen befreit. Insbesondere gegen Maßnahmen der politischen geheimen Staatspolizei (Gestapo) gibt es keine Rechtsmittel.
Die Steuereinnahmen des Reiches, dessen umfassende Steuerreformpläne misslingen, steigen bis 1938 auf etwa 18 Milliarden Reichsmark. Im Krieg werden hohe Zuschläge zu den bestehenden Steuern erhoben (Einkommensteuer bis 67%).
Im Sozialwesen werden die bisherigen Regeln erweitert. Ab Juni 1942 werden Sozialbeiträge vom Lohn abgezogen.
Lit.: Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung in der neueren deutschen Rechtsgeschichte, hg. v. Benöhr, H., 1991; Führer, C., Arbeitslosigkeit und die Entstehung der Arbeitslosenversicherung, 1990; Unruh, G., Kodifiziertes Verwaltungsrecht, NVwZ 1988, 690
3. Verfahren
a) Organisation
Zwischen 1918 und 1933 werden verschiedene Einzelheiten verändert.
So wird in bürgerlichen Rechtsstreitigkeiten der Einzelrichter zur Vorbereitung der Verhandlung des Kollegialgerichts zuständig, wird die Herrschaft der Partei über das Zivilverfahren zu Gunsten der Leitungsbefugnis des Richters eingeschränkt und wird die Möglichkeit der Entscheidung nach Lage der Akten eingeführt (13. 2. 1924). Die sachlich wenig wirksame Verordnung gegen den Missbrauch wirtschaftlicher Machtstellungen (2. 11. 1923) schafft ein Kartellgericht (Antrag auf Nichtigerklärung einer Vereinbarung nur bei Gefährdung der Gesamtwirtschaft oder des Gemeinwohls). Durch das Arbeitsgerichtsgesetz (23. 12. 1926) werden an die ordentliche Gerichte angegliederte Arbeitsgerichte für Arbeitsstreitigkeiten eingeführt. In der Strafgerichtsbarkeit wird durch die sog. Emmingersche Justizreform (4. 1. 1924, Reichsjustizminister Erich Emminger [1880-1951]) aus finanziellen Erwägungen das mit drei Berufsrichtern und zwölf Geschworenen besetzte Schwurgericht ohne Namensänderung inhaltlich in ein großes Schöffengericht (große Strafkammer) mit drei Berufsrichtern und sechs Laien umgewandelt und im übrigen die sachliche Zuständigkeit allgemein nach unten verschoben. Das Jugendgerichtsgesetz (16. 2. 1923) begründet ein besonderes Jugendgericht für Jugendsachen. Allgemein werden 1927 die Bezeichnungen Gerichtsschreiber und Gerichtsdiener durch Urkundsbeamter und Gerichtswachtmeister ersetzt.
Durch Gesetze vom 25. 4. 1922 und 11. 7. 1922 werden Frauen zum Schöffenamt bzw. Geschworenenamt und zum Richteramt als Berufsrichter zugelassen.
Im Dritten Reich wird nach der Besetzung der Justizministerien mit nationalsozialistischen Parteigängern und der gewaltsamen „Säuberung“ der Gerichte von Juden („Marxisten- und Judenauskehr“ ab 11. 3. 1933) zunächst die Justizhoheit der Länder beseitigt (30. 1. 1934) und dann die Justiz überhaupt vom Reich übernommen (24. 1. 1935). Daneben wird die Verwaltungsgerichtsbarkeit eingeschränkt. Durch das Reichserbhofgesetz werden für erbhofrechtliche Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit Bauerngerichte geschaffen. Von besonderer Bedeutung wird vor allem die Einrichtung von Sondergerichten (in jedem Oberlandesgerichtsbezirk) seit 23. 3. 1933, insbesondere des 1936 verfestigten Volksgerichtshofs (24. 4. 1934), der die erstinstanzliche und zugleich letztinstanzliche Zuständigkeit für Hochverrat und Landesverrat erhält. Er wird zum rigorosen, durch Willkür wie Formalität und Rationalität gekennzeichneten Terrorinstrument zur Sicherung der nationalsozialistischen Herrschaft (5243 Todesurteile bei 16342 Angeklagten), wobei sich sein Aufgabenbereich laufend erweitert.
(Mit der Begründung, dass der Volksgerichtshof kein Gericht im rechtsstaatlichen Sinne gewesen sei, sondern ein Terrorinstrument zur Durchsetzung nationalsozialistischer Willkürherrschaft, erklärt am 25. 1. 1985 der Bundestag alle Entscheidungen des Volksgerichtshofs als nichtig.)
Im Februar 1945 schließlich werden Standgerichte geschaffen, die als Strafe nur die Todesstrafe verhängen können.
Unsichtbar verändert wird die Gerichtsverfassung durch die Mitwirkung der Partei bei Auswahl und Beförderung der Richter und Staatsanwälte (1938 sind mehr als 50% der Richter Mitglied einer nationalsozialistischen Parteiorganisation) sowie durch Besprechungen mit den Vorgesetzten vor und nach den Urteilen und durch sog. Richterbriefe.
b) Ablauf
aa) Zivilverfahren
Das Zivilverfahren wird dadurch verändert, dass die schriftliche Entscheidung zugelassen wird, der Richter gegenüber den Parteien eine stärkere Stellung erhält, die Parteivernehmung den Parteieid ablöst und der Staatsanwalt am Verfahren vereinzelt beteiligt wird.
Von den Zivilurteilen (des Oberlandesgerichts Celle) der nationalsozialistischen Zeit betreffen vielleicht etwa 5 % nationalsozialistisch relevante Tatbestände (des Familienrechts). Diese Entscheidungen folgen teils dem ideologischen Gedankengut, teils widersprechen sie ihm aber auch. Obwohl eine Vielzahl von Urteilen auch nach nachträglicher kritischer Ansicht bestehen kann und statistisch sog. normale Rechtsstreitigkeiten überwiegen, gilt auch die Zivilrechtsprechung als insgesamt rechtswidrig.
bb) Strafverfahren
In der Zeit zwischen 1918 und 1933 werden durch verschiedene Verordnungen Formerfordernisse beseitigt, Fristen beschränkt und Rechtsmittel ausgeschlossen.
Im Dritten Reich büßt das Strafverfahren wesentliche rechtsstaatliche Sicherungen ein. Richter und Staatsanwalt erhalten gegenüber dem Angeklagten eine freiere Stellung. Die Rechtsmittel werden eingeschränkt, indem ab 1939 nur Berufung oder Revision eröffnet werden und diese seit 1942 von einer besonderen Zulassung abhängig sind. Das Verbot der Verschärfung der Rechtsfolge bei Einlegung eines Rechtsmittels (lat. reformatio in peius) entfällt (28. 6. 1935). Die Entscheidung kann trotz Rechtskraft vom Oberreichsanwalt mit einem außerordentlichen Einspruch (1939) oder der Nichtigkeitsbeschwerde angegriffen werden. Das Reichsgericht wird von der ungeschriebenen, der Rechtssicherheit dienenden Bindung an frühere Urteile befreit. Außerdem gelten für Sondergerichte strengere Verfahrensregeln. Vielfach wird überhaupt statt eines Strafverfahrens ein willkürliches Polizeiverfahren mit politischer Schutzhaft (z. B. der Juden wegen ihnen drohender Gefahren) und Konzentrationslager durchgeführt. Obwohl die insgesamt 300000 jährlichen Strafurteile in überwiegendem Umfang auch durch Normalität und Streben nach Gerechtigkeit gekennzeichnet sind, prägen die durch all diese Maßnahmen ermöglichten Unrechtsurteile insgesamt das Wesen des nationalsozialistischen Strafverfahrens als aus heutiger Sicht rechtswidrig.
Lit.: Buchheit, G., Richter in roter Robe, 1968; Dannreuther, D., Der Zivilprozess als Gegenstand der Rechtspolitik im Deutschen Reich 1871-1945, 1987; Das sächsische Oberverwaltungsgericht, 1994; Gruchmann, L., Justiz im Dritten Reich 1933-1940, 3. A. 2001; Hannover, H./Hannover, E., Politische Justiz 1918-1933, 2. A. 1977, Neudruck 1987; Jahntz, B./Kähne, V., Der Volksgerichtshof, 1986; Justizalltag im Dritten Reich, hg. v. Diestelkamp, B./Stolleis, M., 1988; Justiz im Dritten Reich, hg. v. Staff, F., 1979; Justiz im Dritten Reich, 1995; Kimminich, O., Die Verwaltungsgerichtsbarkeit in der Weimarer Republik, VwBll. f. Baden-Württemberg, 1988, 371; Koch, H., Volksgerichtshof, 1988; Kohl, W., Das Reichsverwaltungsgericht, 1991; Lengemann, R., Höchstrichterliche Strafgerichtsbarkeit unter der Herrschaft des Nationalsozialismus, 1974 (Diss.); Marxen, K., Das Volk und sein Gerichtshof, 1994; Messerschmidt, M., Was damals Recht war, 1996; Neusel, W., Höchstrichterliche Strafgerichtsbarkeit in der Republik von Weimar, 1973; Pflüger, A., Die Prozessflut bei deutschen Zivilgerichten, Diss. jur. Berlin 1992; Ramm, J., Eugen Schiffer und die Reform der deutschen Justiz, 1987; Recht und Justiz im »Dritten Reich«, hg. v. Dreier, R./Sellert, W., 1988; Rückert, A., NS-Verbrechen vor Gericht, 1982; Schröder, R., »... ..aber im Zivilrecht sind die Richter standhaft geblieben!«, 1988; Schumacher, U., Staatsanwaltschaft und Gericht im Dritten Reich, 1985; Tieberg, G., Justiz im nationalsozialistischen Deutschland, 1984; Vormbaum, T., Die Lex Emminger vom 24. Januar 1924, 1988; Wagner, W., Der Volksgerichtshof im nationalsozialistischen Staat, 1977
4. Strafe
In der Zeit zwischen 1918 und 1933 wird das Strafrecht trotz des Vordringens der Reformideen (z. B. Franz von Liszts) nicht wesentlich verändert (erfolgloser Strafgesetzbuchentwurf Gustav Radbruchs [1878-1949] 1922). Neuerungen betreffen eine Reihe einzelner Tatbestände (Glücksspiel, Abtreibung, Zweikampf, Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten).
Außerdem wird zur Einschränkung der kurzfristigen Freiheitsstrafe die Geldstrafe neu geordnet (9. 4. 1923) und der Strafvollzug in einzelnen Hinsichten liberalisiert. Ein allgemeines Strafvollzugsgesetz, das den Vollzug zur Besserung des Täters einsetzen will, bleibt Entwurf (1927). Das Jugendgerichtsgesetz vom 16. 2. 1923, das die Strafmündigkeit von 12 auf 14 Jahre erhöht, führt auch die Strafaussetzung zur Bewährung ein. Teilweise wird aber auch ein »autoritäres« Strafrecht gefordert.
In Österreich wird 1919 die Todesstrafe abgeschafft (bis 1933), 1919 ein Jugendgerichtsgesetz geschaffen und 1920 die bedingte Verurteilung eingeführt.
Das Dritte Reich, in dem das Strafrecht von einigen schon früh als zu liberal angesehen wird, nimmt eine Reihe einschneidender Eingriffe vor. Zulässig werden Analogie und Wahlfeststellung (28. 6. 1935). Weiter werden Gesetze mit rückwirkenden Strafen (1936/1938) erlassen und dann die Rückwirkung von Strafnormen überhaupt anerkannt (1939/1941). Zur Sicherung des Nationalsozialismus und seiner Kriegsziele werden zahlreiche neue Straftatbestände geschaffen (Ehe und Geschlechtsverkehr mit Juden 1935, Volksschädlingsverordnung). In weiteren Fällen werden die Strafen verschärft und wird vor allem die Todesstrafe, die in insgesamt etwa 16500 Fällen verhängt und in drei Vierteln dieser Fälle auch vollstreckt wird (zusätzlich etwa 25000 Todesurteile von Kriegsgerichten), immer häufiger vorgesehen (1933 3 Tatbestände, 1943/1944 46 Tatbestände). Seit 1941 kommt es bei der Bestrafung von Juden und Polen in den Ostgebieten nur noch darauf an, ob ihre Tat nach den Staatsnotwendigkeiten Strafe verdient.
Neben der Strafe führt das Gewohnheitsverbrechergesetz (24. 11. 1933), das Gedanken der von Franz von Liszt angestoßenen Reformbewegung verwirklicht, die sichernden und bessernden Maßnahmen (Unterbringung in Heil- und Pflegeanstalt, Trinkerheilanstalt, Arbeitshaus, Sicherungsverwahrung, Entmannung, Untersagung der Berufsausübung, Reichsverweisung) ein, die es in die Hand des Richters legt.
Lit.: Jelowik, L, Zur Geschichte der Strafrechtsreform in der Weimarer Republik, 1983; Marxen, K., Der Kampf gegen das liberale Strafrecht, 1975; NS-Recht in historischer Perspektive, 1981; Rüping, H., Bibliographie zum Strafrecht im Nationalsozialismus, 1985; Werle, G., Justiz-Strafrecht und polizeiliche Verbrechensbekämpfung im Dritten Reich, 1989; Werle, G., Zur Reform des Strafrechts in der NS-Zeit, NJW 1988, 2865
III. Privater Bereich
Das Privatrecht wird in der Zeit zwischen 1918 und 1933 nicht grundlegend verändert, sondern nur in besonders kritischen Bereichen (Arbeit, Miete) sozialer gestaltet. Das Dritte Reich strebt dann zwar eine vollständige Erneuerung an, doch ist das geplante deutsche Volksgesetzbuch über den Entwurf zu einem ersten Buch (1941) und zahlreiche Kommissionsarbeiten nicht hinausgelangt. Im übrigen wird auf der Grundlage älterer Vorarbeiten das Privatrecht durch eine ganze Reihe einzelner Gesetze abgeändert (z. B. Wechselgesetz, Scheckgesetz, Aktiengesetz, Ehegesetz, Testamentsgesetz). Allgemeine Ziele sind dabei bürokratische Ordnung, Bekämpfung von Missbräuchen, Schutz des Schwächeren, Abbau von Formalismen, sozialistische Einschränkung individueller Freiheiten und Erweiterung staatsanwaltschaftlicher Befugnisse. Viele dieser Züge sind dabei schon in der Zeit zwischen 1918 und 1933 sichtbar und erscheinen auch noch in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, erweisen sich aber durch ihre Verdichtung in der nationalsozialistischen Zeit als fragwürdig.
Lit.: Depping, A., Das BGB als Durchgangspunkt, 2002; Hofer, S., Zwischen Gesetzestreue und Juristenrecht, 1993; Nörr, K., Zwischen den Mühlsteinen. Eine Privatrechtsgeschichte der Weimarer Republik, 1988; Otte, G., Die zivilrechtliche Gesetzgebung im »Dritten Reich«, NJW 1988, 2836; Wolf, W., Vom alten zum neuen Privatrecht, 1998;
1. Allgemeiner Teil
a) In das Personenrecht greift das Dritte Reich außer durch das Gesetz über die Verschollenheit, Todeserklärung und Feststellung der Todeszeit (4. 7. 1939) nicht unmittelbar ein. Es verändert aber die Stellung des Menschen insofern, als es sich von seiner Ideologie her gegen den liberalistischen Individualismus wendet und den Einzelnen in erster Linie als Glied der Volksgemeinschaft sieht. Darüber hinaus beseitigt es für die Juden die Rechtsgleichheit, teilweise sogar die Rechtsfähigkeit. Ihnen verbietet es etwa Ehe und Geschlechtsverkehr mit Deutschen, ordnet ihnen von Amts wegen Vornamen zu (Israel, Sara) und enthält ihnen Mieterschutz vor. Nach der von Reichsminister Goebbels während eines Kameradschaftsabends der Parteiführer im alten Münchener Ratshaussaal durch mündliche Weisung eingeleiteten sog. Kristallnacht, in der als Rache für die Tötung eines deutschen Legationssekretärs in Paris durch einen 17jährigen Juden etwa 200 Synagogen zerstört, 7500 jüdische Geschäfte demoliert und 91 Juden getötet werden, bestimmt die Verordnung zur Wiederherstellung des Straßenbildes bei jüdischen Gewerbebetrieben (12. 11. 1938), dass alle Schäden, die durch die Empörung des Volkes über die Hetze des internationalen Judentums gegen das nationalsozialistische Deutschland am 8./9. und 10. 11. 1938 an jüdischen Gewerbebetrieben und Wohnungen entstanden sind, von den jüdischen Inhabern oder jüdischen Gewerbetreibenden sofort auf eigene Kosten und unter Verlust eines Versicherungsanspruchs zu beseitigen sind und außerdem eine Sühneleistung von 1 Milliarde Reichsmark zu entrichten ist. Nach einer Verordnung vom 1. 9. 1941 müssen Juden einen gelben Judenstern als Kennzeichen tragen.
Bei den Personenverbänden wird von der Rechtswissenschaft die rechtspolitisch begründete Verweisung des nichtrechtsfähigen Vereins auf das Gesellschaftsrecht als verfehlt erkannt und bekämpft.
b) Das subjektive Recht wird im Dritten Reich angegriffen. Da der Einzelne nichts und das Volk alles sein soll, erscheinen ausschließliche Rechte des Einzelnen als überflüssig.
Bei den Rechtsgeschäften wird allmählich das Geschäft mit dem bzw. für den, den es angeht, anerkannt, was eine Durchbrechung des Offenkundigkeitsprinzipes des Vertretungsrechts für die Bargeschäfte des täglichen Lebens bedeutet. Außerdem entstehen Ansätze zur Anerkennung der Duldungsvollmacht und Anscheinsvollmacht. Seit 1919 treten allgemeine Geschäftsbedingungen hervor (z. B. Spediteurbedingungen in Berlin), durch die Unternehmer einseitig Vertragsinhalte zu ihren Gunsten festzulegen versuchen.
Lit.: Bär, F., Die Schranken der inneren Vereinsautonomie, 1996; Das Sonderrecht für die Juden im NS-Staat, hg. v. Walk, J., 1981; Majer, D., Fremdvölkische im Dritten Reich, 1981; Oertmann, P., Die Geschäftsgrundlage, 1921; Raiser, L., Das Recht der allgemeinen Geschäftsbedingungen, 1935
2. Familie
Die Weimarer Reichsverfassung (1919) fordert die Gleichberechtigung der Geschlechter in der Ehe und die Gleichstellung der nichtehelichen Kinder, ohne dass dies verwirklicht wird (aber 1919 Zulassung der Frau zum juristischen Vorbereitungsdienst und zur zweiten juristischen Staatsprüfung, 1922 z. B. Zulassung der Frau zum Erwerb der Richteramtsbefähigung und zum Schöffenamt bzw. Geschworenenamt). Das Dritte Reich begünstigt allgemein die patriarchalische Ordnung der Familie. Konkrete Einzelregelungen trifft es im auch in Österreich geltenden und dort die im Konkordat von 1934 vereinbarte, das (die Vorschriften des Allgemeinen Bürgerlichen Gesetzbuchs entgegen dem Konkordat von 1855 wiederherstellende) Maigesetz des Jahres 1868 verdrängende, die kirchlich geschlossenen Ehen der kirchlichen Gerichtsbarkeit unterstellende Gestaltung (kirchliches Eherecht) sowie die §§ 97ff. ABGB ablösenden (Ziviltrauung, Ehescheidung [auch bei Zerrüttung, Zerrüttungsprinzip]) Gesetz zur Vereinheitlichung des Rechts der Eheschließung und Ehescheidung (6. 7. 1938, Ehegesetz), das diesen Bereich aus dem Bürgerlichen Gesetzbuch herausbricht. Einzelne Bestimmungen verwirklichen dabei unmittelbar nationalsozialistisches Gedankengut (z. B. Eheverbot zwischen Menschen artfremden Blutes [1933 bestehen rund 200000 Mischehen im Deutschen Reich], Scheidungsgrund bei Fortpflanzungsverweigerung), während andere nur die Liberalisierung der Ehe fortführen (§ 55 EheG, begrenzte Zulassung der Scheidung wegen bloßer Zerrüttung). Im Kindschaftsverfahren wird dem Staatsanwalt eine Eingriffsbefugnis von Amts wegen verliehen.
Lit.: Das Familien- und Erbrecht unter dem Nationalsozialismus, hg. v. Schubert, W., 1993; Gruchmann, L., Das Ehegesetz vom 6. Juli 1938, ZNR 11 (1989), 63; Harmat, U., Ehe auf Widerruf, 1999; Ramm, T., Eherecht und Nationalsozialismus, FS E. Fraenkel 1973, 151; Ramm, T., Das nationalsozialistische Familien- und Jugendrecht, 1984; Die Projekte der Weimarer Republik zur Reformation des Nichtehelichen-, des Adoptions- und des Ehescheidungsrechts, hg. v. Schubert, W., 1986
3. Erbe
Die Weimarer Reichsverfassung (1919) gewährleistet das Erbrecht. Spätere Gesetze regeln die Erbschaftsteuer neu.
Das Dritte Reich sieht grundsätzlich den Erblasser als bloßen Treuhänder des Familiengutes an und schränkt dementsprechend im Reichserbhofgesetz vom 1. 10. 1933 die Testierfreiheit des Erbhofeigentümers ein. Das Gesetz über die Errichtung von Testamenten und Erbverträgen (31. 7. 1938, Testamentsgesetz) löst diesen Rechtsbereich aus dem Bürgerlichen Gesetzbuch heraus und mildert seine Formvorschriften. Ein auch in Österreich geltendes Gesetz vom 6. 7. 1938 beschleunigt die von Art. 155 WRV festgelegte Auflösung der Familienfideikommisse.
Lit.: Eckert, J., Der Kampf um die Familienfideikommisse in Deutschland, 1992; Gruchmann, L., Die Entstehung des Testamentsgesetzes vom 31. Juli 1938, ZNR 7 (1985), 53; Schliepkorte, J., Entwicklungen des Erbrechts zwischen 1933 und 1953, 1989; Weitzel, J., Sonderprivatrecht aus konkretem Ordnungsdenken: Reichserbhofrecht und allgemeines Privatrecht 1933-1945, ZNR 14 (1992), 55
4. Sachen
Die Weimarer Reichsverfassung (1919) gewährleistet das Eigentum, worunter Rechtswissenschaft und Rechtsprechung bald jedes private Vermögensrecht verstehen (vom sachenrechtlichen Eigentumsbegriff verschiedener enteignungsrechtlicher Eigentumsbegriff). Im gewissen Gegensatz hierzu entstehen neue Schranken für den Inhalt des Eigentums. So macht schon die Grundstücksverkehrsbekanntmachung vom 15. 3. 1918 alle rechtsgeschäftlichen Veräußerungen landwirtschaftlicher und forstwirtschaftlicher Grundstücke genehmigungspflichtig. (Für Österreich vgl. die Grundverkehrsnotverordnung vom 9. 8. 1915, 1919 Grundverkehrsgesetz.) Das Reichserbhofgesetz schreibt für die Veräußerung, Belastung und Verpachtung des Erbhofs die Genehmigung des Bauerngerichts vor und beschränkt im Übrigen die Zwangsvollstreckung in den Erbhof, womit die negativen Wirkungen der Bodenkommerzialisierung teilweise korrigiert werden. Im Übrigen dringt auch sonst die Vorstellung vor, dass das Eigentum kein schrankenloses individuelles Recht ist, sondern Bindungen unterliegt, die aus der Gemeinschaft erwachsen.
Andererseits vermittelt schon Gesetze zwischen 1918 und 1933 erleichterten Zugang zu Grund und Boden (Erbbaurechtsverordnung 15. 1. 1919, Reichssiedlungsgesetz 11. 8. 1919, nach amerikanischem Vorbild Reichsheimstättengesetz 10. 5. 1920 mit »Obereigentum« des Staates).
Im Widerspruch zum Bürgerlichen Gesetzbuch brechen sich Sicherungsübereignung und Sicherungsgrundschuld Bahn. Die Sicherungsübereignung, die dem Schuldner und Sicherungsgeber Besitz und Nutzungsmöglichkeit der Sache belässt, verdrängt das Pfandrecht. Die Sicherungsgrundschuld übernimmt die Funktion der nach dem Gesetz vom Bestand der Forderung abhängigen Hypothek.
5. Schuld
a) Schon kurz nach Erlass des Bürgerlichen Gesetzbuches beginnt der Ausbau des § 242 BGB (Der Schuldner ist verpflichtet, die Leistung so zu bewirken, wie Treu und Glauben mit Rücksicht auf die Verkehrssitte es erfordern) zu einem allgemeinen Rechtsgrundsatz, der weit über die Bestimmung der Art und Weise der Leistung hinausreicht. Als eine seiner Ausstrahlungen wird bald etwa die Verwirkung von längere Zeit nicht geltend gemachten Ansprüchen oder Gestaltungsrechten anerkannt.
Der Grundsatz der Vertragsfreiheit wird schon seit den Krisenzeiten des ersten Weltkriegs eingeschränkt. Insbesondere hinsichtlich der Preise besteht bald vielfach keine Inhaltsfreiheit mehr (Landwirtschaft, Wohnraum, Verkehr, Versicherung, freie Berufe). Die Abschlussfreiheit geht verloren, sobald jemand eine Monopolstellung erreicht. Im Dritten Reich widerspricht die liberalistische Vertragsfreiheit dann dem ideologischen Grundsatz der Unterordnung des Einzelnen unter die Gemeinschaft. Darüber hinaus wird aus dogmatischen Überlegungen heraus von Günter Haupt (*1904, 1941) die Lehre vom faktischen Vertrag entwickelt, der ohne jede Willenserklärung durch bloßes tatsächliches Verhalten (z. B. Einsteigen in eine Straßenbahn, Abstellen eines Kraftfahrzeugs auf einem bewachten Parkplatz) zustandekommen soll.
b) Bei den einzelnen rechtsgeschäftlichen Schuldverhältnissen werden vor allem Mietvertrag und Dienstvertrag tiefgreifend verändert.
Zunächst führt das Wohnungsmangelgesetz (11. 5. 1920, 26. 7. 1923) aus sozialen Gründen die Zwangsbewirtschaftung von Wohnräumen ein. Dann schreibt das Reichsmietengesetz (1922) eine gesetzliche Miete vor, von der nur durch besondere Vereinbarung abgewichen werden kann. Schließlich wird durch das Mieterschutzgesetz (1923) der Mieter davor geschützt, dass das Mietverhältnis durch den Vermieter ohne weiteres beendet wird. Gefördert wird im Übrigen der Wohnungsbau durch gemeinnützige Wohnungsbauunternehmen sowie Bausparkassen, bei denen die Sparer sich gegenseitig zu zinsgünstigen Darlehen verhelfen.
In Österreich wird 1917 eine Verordnung zur Wohnraumbewirtschaftung erlassen, die den Mietzins festlegt und die Kündigungsmöglichkeiten einschränkt. Sie wird 1922 in ein Mietengesetz überführt.
Im Dritten Reich entzieht das Gesetz über Mietverhältnisse mit Juden diesen den Mieterschutz gegenüber Ariern.
Im Dienstvertragsrecht bildet sich nun das besondere, teils individuelle, teils kollektive Arbeitsrecht aus, wobei schon die Weimarer Reichsverfassung ein allerdings programmatisches Recht auf Arbeit gewährt, die Arbeitskraft unter den besonderen Schutz des Reiches stellt, ein umfassendes Versicherungswesen zum Schutz von Gesundheit und Arbeitsfähigkeit verspricht und schließlich auch Koalitionsfreiheit (Freiheit sich zusammenzuschließen oder einem Zusammenschluss fern zu bleiben) gewährleistet. In der Rechtswirklichkeit erkennen zunächst die Arbeitgeber die in sozialistische, liberale und christliche Gruppierungen gegliederten Gewerkschaften grundsätzlich als Vertreter der Arbeitnehmer an (15. 11. 1918, sog. Stinnes-Legien-Pakt). Am 12. 11. 1918/23. 11. 1918 wird der Achtstundenarbeitstag ab 1. 1. 1919 angeordnet und am 21. 12. 1923 die Arbeitszeit durch die Arbeitszeitverordnung generell geregelt. Weiter wird ein Schwerbeschädigtengesetz geschaffen (1923), der Mutterschutz ausgebaut (1927), ein Kündigungsgesetz für die Angestellten verabschiedet (1926) und der 25%-Überstundenzuschlag festgelegt (23. 12. 1918). Im kollektiven Bereich ist nach der am 23. 12. 1918 erlassenen Tarifvertragsordnung der einem Tarifvertrag widersprechende Einzelvertrag unwirksam, wird ein Schlichtungsverfahren vorgesehen und kann der Reichsarbeitsminister eine Tarifvereinbarung für allgemein verbindlich erklären. Die Schlichtungsverordnung vom 30. 10. 1923 ermöglicht eine staatliche Vermittlung bei Arbeitsstreitigkeiten. Nach dem Betriebsrätegesetz (4. 2. 1920) ist nach einzelnen Vorläufern des späten 19. Jahrhunderts (1905 Bergbau, 1916 Kriegswirtschaft) in Betrieben mit 20 und mehr Beschäftigten ein Betriebsrat zu errichten, der bei der Abfassung von Betriebsvereinbarungen sowie bei Kündigungen mitwirkt. Weiter erhalten die Arbeitsämter für die Arbeitsvermittlung ein Monopol (Arbeitsnachweisgesetz) und werden eine Reichsanstalt für Arbeitsvermittlung und (die als Zwangsversicherung ausgestaltete) Arbeitslosenversicherung eingerichtet (16. 7. 1927). Die Selbständigkeit des Arbeitsrechts wird schließlich unterstrichen durch die besondere in der Eingangsinstanz der Arbeitsgerichte selbständige, im übrigen weiterhin der ordentlichen Gerichtsbarkeit eingegliederte Arbeitsgerichtsbarkeit (23. 12. 1926, 1927 Reichsarbeitsgericht) und die sich ausbildende Arbeitsrechtswissenschaft.
In Österreich werden 1919 Betriebsrat und Kollektivvertrag gesetzlich geregelt.
Das Dritte Reich greift in das Arbeitsrecht ebenfalls tief ein (Gesetz zur Ordnung der nationalen Arbeit 20. 1. 1934, Gesetz zur Ordnung der Arbeit in öffentlichen Verwaltungen und Betrieben 23. 3. 1934). Es verbietet die Gewerkschaften zugunsten der der Partei angeschlossenen Deutschen Arbeitsfront von Unternehmern und Lohnabhängigen, ersetzt die Betriebsräte durch nach dem Führerprinzip organisierte Vertrauensräte, löst die Tarifverträge durch Tarifordnungen des Reichstreuhänders der Arbeit ab, beseitigt die Arbeit betreffende Grundrechte und macht viele für die Arbeitnehmer vorteilhafte Fortschritte rückgängig.
Das Arbeitsvertragsrecht bleibt äußerlich im Wesentlichen unberührt. Es wird aber innerlich das Arbeitsverhältnis in ein personenrechtliches Gemeinschaftsverhältnis bzw. in ein Treueverhältnis zwischen Betriebsführer und Gefolgschaft umgeformt. Die Freizügigkeit der Arbeitnehmer wird weitgehend aufgehoben und außerdem ein Reichsarbeitsdienst eingeführt. 1939 wird der Arbeitswechsel verboten, und es werden Mindestlöhne und Höchstlöhne festgesetzt. 1944 wird die 60-Stunden-Woche eingeführt. Andererseits werden Mutterschutz und Jugendschutzgesetz verbessert.
In der Schweiz werden mehrere Einzelgesetze erlassen (1931 über die wöchentliche Ruhezeit, 1922 über die Beschäftigung von jugendlichen und weiblichen Personen in Gewerben, 1940 über Heimarbeit).
Aus dem deliktischen Bereich ist als Veränderung durch Rechtswissenschaft und Rechtsprechung die vorbeugende deliktische Unterlassungsklage zu nennen. Außerdem wird durch Einzelgesetze die Gefährdungshaftung für Luftfahrzeuge (1. 8. 1922), Energieanlagen (15. 8. 1943) sowie Sachschäden durch Eisenbahn und Straßenbahn (29. 4. 1940) eingeführt.
Lit.: Benöhr, H., Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung in der neueren Rechtsgeschichte, 1990; Brauchitsch, I. v., Staatliche Zwangsschlichtung: die Aushöhlung der Tarifautonomie in der Weimarer Republik, 1990 (Diss.); Emmert, J., Auf der Suche nach den Grenzen vertraglicher Leistungspflichten, 2001; Finkenauer, T., Eigentum und Zeitablauf, 2000; Kranig, A., Das Gesetz zur Ordnung der nationalen Arbeit (AOG), 1984; Mayer-Maly, T., Nationalsozialismus und Arbeitsrecht, RdA 1989, 233; Petersen, J., Die Vorgeschichte und die Entstehung des Mieterschutzgesetzes von 1923, 1991; Ramm, T., Die Arbeitsverfassung der Weimarer Republik, in: In memorian Sir Otto Kahn-Freund, 1980, 225; Rückert, J., Unmöglichkeit und Annahmeverzug im Dienst- und Arbeitsvertrag, Zs. f. Arbeitsrecht 1983; Rückert, J./Friedrich, W., Betriebliche Arbeiterausschüsse, 1979; Schubert, W., Die Diskussion über die Schaffung eines sozialen Dauermietrechts am Ende der Weimarer Republik, ZRG GA 106 (1989), 143; Schubert, W., Zur Entwicklung und Reform des Landpachtrechts, ZRG GA 108 (1991), 237; Söllner, A., Entwicklungslinien im Recht der Arbeitsverhältnisse, in: NS-Recht in historischer Perspektive, 1981
6. Handel und Wirtschaft
Im Handelsrecht ist lediglich die Aktienrechtsform vom 30. 1. 1937 bzw. 1. 10. 1937 von Bedeutung, welche die Aktiengesellschaft hauptsächlich aus technischen Gründen außerhalb des Handelsgesetzbuchs in einem besonderen Gesetz (Aktiengesetz) regelt. Dabei wird die Aktiengesellschaft (bzw. Kapitalgesellschaft) trotz der Bedenken des Nationalsozialismus gegen das anonyme Kapital grundsätzlich als notwendig anerkannt, das Mindestkapital aber auf 50000 Reichsmark erhöht, die Stellung des Vorstands nach dem Führerprinzip gestärkt, der Aktionär durch Einschränkung des Mehrstimmrechts der Verwaltungsaktien und des Bankenstimmrechts stärker geschützt und es werden auch die Interessen der Allgemeinheit (Publizität) vermehrt berücksichtigt. Konzernrechtliche Regelungen erscheinen in einer aktienrechtlichen Notverordnung vom 19. 9. 1931. Das Wechselrecht wird auf der Grundlage der Übereinkunft der Genfer Wechselrechtskonferenz von 1930 neu gefasst (Wechselgesetz 1. 1. 1934). Im Versicherungsrecht kommt es durch die Verordnung zur Vereinheitlichung des Rechts der Vertragsversicherung vom 19. 12. 1939 zu einer Verschmelzung des deutschen Versicherungsvertragsgesetzes von 1908 und des österreichischen Versicherungsvertragsgesetzes von 1917. Für einzelne Versicherungszweige wird die Haftpflichtversicherung eingeführt (Kraftfahrzeuge 1939, Jagd). Zugabewesen und Rabattwesen werden in den Jahren 1932 und 1933 geregelt. Ein Missbrauchsverbot für die überhandnehmenden Kartelle (2. 11. 1923) bleibt praktisch bedeutungslos.
In Österreich erfolgt 1936 eine Neuregelung des Urheberrechts und werden Handelsgesetzbuch (unter Ersetzung des älteren AHGB), Aktiengesetz, Scheckordnung und Wechselordnung des Deutschen Reiches 1938 eingeführt.
Nationalsozialistisch ist die Aktion der »Entjudung« der Wirtschaft.
Lit.: Dreschers, M., Die Entwicklung des Rechts des Tarifvertrags in Deutschland, 1994; Huber, E., Wirtschaftsverwaltungsrecht, 1932; Krause, O., Die Entwicklung des Firmenrechts im 19. Jahrhundert, 1995; Lammel, S., Die GmbH im Spannungsfeld von Politik, Wirtschaft und Recht während der NS-Zeit, ZNR 11 (1989), 148; Nörr, K., Die Leiden des Privatrechts. Kartelle in Deutschland, 1994; Pupper, R., Die wirtschaftsrechtliche Gesetzgebung des Dritten Reiches, 1988; Stroth, R. i. d., Das Recht der GmbH bis 1933, 1991 (Diss.); Zacher, C., Die Entstehung des Wirtschaftsrechts, 2002
§ 9 Die deutschen Staaten auf dem Weg nach Europa
A) Grundlagen
Die Bevölkerung nimmt zunächst weiter zu (im Gebiet der Bundesrepublik Deutschland [248546 qkm] von 43 Millionen 1946 auf 62 Millionen 1973, wobei etwa 80% in Orten über 2000 und 50% in Orten über 20000 Einwohner leben, in der Deutschen Demokratischen Republik [108178 qkm] verbleibt sie wegen der hohen Abwanderung bei 17 Millionen, von denen 7% in Orten mit mehr als 2000 Einwohnern wohnen. Seit etwa 1970 gehen die Geburtenraten in allen Industriestaaten als Folge der durch die Erfindung der Antibabypille ermöglichten individualistischeren Lebensführung (der Frauen) zurück, so dass mit einem deutlichen Rückgang der Zahl der Deutschen zu rechnen ist, dem aber noch ein Zuzug deutschstämmiger Rückwanderer aus den osteuropäischen Staaten und eine tatsächliche Einwanderung ausländischer Arbeiter und ihrer Familien (Italiener, Spanier, Griechen, Türken) sowie von Asylanten (z. B. Kurden, Afghanen, Iraner, Vietnamesen, Schwarzafrikaner, Bosnier, Albaner) und Wirtschaftsflüchtlingen gegenübersteht. Am Ende des Jahres 1990 beträgt die Einwohnerzahl der (erweiterten) Bundesrepublik Deutschland etwa 78,1 Millionen Menschen. (Die Weltbevölkerung beträgt zum Vergleich 1950 2,516 Mrd., 1960 3,02 Mrd., 1970 3,69 Mrd., 1980 4,448 Mrd.,1990 5,292 Mrd. Menschen, 2003 6,27 Mrd., steigt aber vor allem in den Entwicklungsländern noch stark an. Von ihr wohnen im Jahre 1900 2,5 % in Städten gegenüber etwa 50 % im Jahre 2000).
In der zu 75% deutschsprachigen Schweiz (41293 qkm) leben 6,3 Millionen Einwohner, in Österreich (83850 qkm) 7,46 Millionen.
I. Politische Verhältnisse
Nach dem zweiten Weltkrieg mit seinen insgesamt etwa 55 Millionen Toten und 30 Millionen Flüchtlingen (1945-1961 rund 12 Millionen Deutsche aus dem Osten in die Bundesrepublik, 1961-1988 knapp 2 Millionen) sowie zahllosen, der Zermürbung der Bevölkerung und der Vernichtung der Rüstungsbetriebe dienenden Verwüstungen (Zerstörung etwa 20% aller deutschen Gebäude) wird Deutschland auf Grund der vom 1.-12. 2. 1945 in Jalta von der Sowjetunion, den Vereinigten Staaten von Amerika und Großbritannien beschlossenen Einteilung in vier Besatzungszonen der alliierten, von Anfang an unterschiedliche eigenständige Ziele verfolgenden Siegermächte besetzt (Vereinigte Staaten von Amerika, Sowjetunion, Großbritannien, Frankreich, das bereits im Juli 1945 das Saargebiet [1947 Saarland] zu einer eigenen Verwaltungseinheit und später zu einem eigenen Kleinstaat ohne Demokratie macht). Die Verwaltungen und Gerichte werden vorläufig geschlossen, Nationalsozialisten entlassen (u. a. als Professoren Carl Schmitt, Karl Larenz, Siebert, Ernst Rudolf Huber, Karl August Eckhardt, Lange). Am 5. 6. 1945 unterzeichnen die alliierten Oberbefehlshaber eine Deklaration über die Ausübung (bzw. Übernahme) der obersten Gewalt (supreme authority) in Deutschland und errichten den Alliierten Kontrollrat. Am 9. 7. 1945 werden zunächst im sowjetisch besetzten Osten durch Anordnung der sowjetischen Militäradministration in Deutschland fünf Länder (Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen, Sachsen-Anhalt, Thüringen) gebildet (1952 durch 14 Verwaltungsbezirke ersetzt), in denen seit September 1945 Grundeigentum von mehr als 100 Hektar enteignet wird. Am 30. 7. 1945 tritt der Alliierte Kontrollrat erstmals zusammen. Durch das in London am 14. 11. 1944 (Abkommen über die Kontrollorganisation in Deutschland zwischen den Vereinigten Staaten von Amerika, der Sowjetunion und Großbritannien) vorbereitete, auf der Potsamer Konferenz (17. 7. 1945-2. 8. 1945) erzielte Potsdamer Abkommen der alliierten Siegermächte (Vereinigte Staaten von Amerika, Sowjetunion, Großbritannien) vom 2. 8. 1945 wird Deutschland nicht, wie zeitweise geplant, zerstückelt (dismemberment), sondern nur bis zu einer Friedensregelung in vier Besatzungszonen, zwei Gebiete unter sowjetischer und polnischer Verwaltung (tatsächliche Verminderung des deutschen Herrschaftsgebiets um 24 Prozent gegenüber 1937) sowie das innerhalb der sowjetischen Besatzungszone geviertelt einem Sonderstatus unterliegende Berlin geteilt. Am 8. 8. 1945 einigen sich die Teilnehmer einer Viermächtekonferenz in London auf die Verfolgung von Kriegsverbrechen (z. B. Verbrechen gegen den Frieden, Verschwörung gegen den Frieden) durch einen internationalen Strafgerichtshof. In Strafverfahren (u. a. 13 Nürnberger Prozesse 20. 11. 1945-30. 9. 1946) gegen 106178 Beschuldigte erfolgen 6494 rechtskräftige Verurteilungen mit mehr als 800 Todesurteilen mit 486 Hinrichtungen. In 3,6 Millionen Entnazifizierungsfällen werden (im Gebiet der späteren Bundesrepublik Deutschland) 1667 Hauptschuldige, 23060 Belastete, 150425 Minderbelastete, etwa 400000 Fälle des (vorübergehenden) Ausschlusses aus dem öffentlichen Dienst, 1500874 Mitläufer und 1213873 Entlastete ermittelt (, während eine Entschädigung ehemaliger Zwangsarbeiter erst am Ende des 20. Jh. von internationalen Interessenverbänden durchgesetzt werden kann, Stiftung Erinnerung, Verantwortung und Zukunft). Am 19. 9. 1945 werden im amerikanisch besetzten Gebiet drei teils der geschichtlichen Entwicklung, teils den Vorstellungen der Besatzungsmächte entsprechende Länder (Bayern, Großhessen, Württemberg-Baden) geschaffen. Am 1. 10 1945 legt Frankreich ein Veto gegen die Errichtung einer Zentralverwaltung ein. Als deutsche Parteien sammeln sich seit Oktober 1945 vor allem die Sozialdemokratische Partei Deutschlands, die Christlich Soziale Union (Bayerns), die Christlich Demokratische Union und die Freie Demokratische Partei. Am 21. 4. 1946 werden in der sowjetischen Besatzungszone Sozialdemokratische Partei und Kommunistische Partei zur Sozialistischen Einheitspartei (SED) zusammengeschlossen, die mehr und mehr den Besitz der Wahrheit für sich reklamiert. Der mit dem Aufstieg der Sowjetunion zur Weltmacht unter Stalin folgende Ost-West-Konflikt (Kalter Krieg) führt in Deutschland zur getrennten Entwicklung der Besatzungszonen, die insbesondere von Frankreich und der Sowjetunion als Gegenstand der Ausbeutung betrachtet werden. Im Sommer 1946 werden im britisch besetzten Teil und im französisch besetzten Teil ebenfalls je drei Länder (Nordrhein-Westfalen, Niedersachsen, Schleswig-Holstein bzw. Südbaden, Südwürttemberg-Hohenzollern und Rheinland-Pfalz) gebildet. Am 1. 1. 1947 werden die amerikanische Zone und britische Zone zur Bizone zusammengeschlossen und nach dem Scheitern einer gesamtdeutschen Ministerpräsidentenkonferenz am 7. 5. 1947 in München am 8. 4. 1949 um die französische Zone erweitert (Trizone) und dann wirtschaftlich an Westeuropa angeschlossen. Preußen wird durch Gesetz Nr. 46 des Alliierten Kontrollrats vom 25. 2. 1947 wegen seiner Gefährlichkeit beseitigt. Am 20. 3. 1948 stellt die Sowjetunion im Alliierten Kontrollrat ihre Mitarbeit ein (Vertagung auf unbestimmte Zeit) und blockiert wegen der Nichtanerkennung ihrer Währungsreform in den westlichen Sektoren Berlins diese danach nur über eine Luftbrücke versorgbaren Gebiete während dreizehner Monate.
Trotzdem wird von den Westmächten auf Grund der Londoner Sechsmächtekonferenz vom 6. 3. 1948 (Vereinigte Staaten von Amerika, Großbritannien, Frankreich, Niederlande, Belgien, Luxemburg) die Einberufung einer verfassunggebenden Versammlung für die Westzonen angeregt und 1949 das Besatzungsstatut für Westdeutschland geschaffen. Am 25. 5. 1949 wird das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland verkündet. Bald darauf entsteht durch Annahme einer Verfassung am 7. 10. 1949 aus der sowjetisch besetzten Ostzone die Deutsche Demokratische Republik als Volksrepublik nach sowjetischem Muster (Walter Ulbricht: Es muss demokratisch aussehen, aber wir müssen alles in der Hand behalten).
Frankreich will die vor allem durch die Entstehung der Bundesrepublik Deutschland gefährdeten Formen unmittelbarer alliierter Kontrolle über Deutschland durch Formen mittelbarer Kontrolle mittels gemeinsamer Institutionen ersetzen (in diesem Sinne bereits im April 1949 ein internationales Abkommen über die Ruhrbehörde). Zu diesem Zweck legt der französische Außenminister Robert Schuman am 9. 5. 1950 den nach ihm benannten Schuman-Plan vor. Unter der Koalitionsregierung Konrad Adenauers (Christlich-Demokratische Union bzw. [in Bayern] Christlich-Soziale Union, Freie Demokratische Partei, Deutsche Partei) schließt daraufhin die Bundesrepublik Deutschland mit Frankreich, Italien, den Niederlanden, Belgien und Luxemburg den der Kontrolle über die Rüstungsindustrie vornehmlich Deutschlands dienenden Vertrag über die Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl (14. 4. 1951 mit einer Laufzeit von 50 Jahren) ab.
Danach tritt sie der Europäischen Verteidigungsgemeinschaft (1952), der Westeuropäischen Union (WEU) sowie der am 4. 4. 1949 gegründeten Nordatlantischen Verteidigungsorganisation (NATO) (1954) bei. Am 5. 5. 1955 erklären die Westmächte die Bundesrepublik Deutschland für souverän, am 25. 3. 1954/20. 9. 1955 die Sowjetunion die Deutsche Demokratische Republik. 1956 wird in der Bundesrepublik die Bundeswehr und in der Deutschen Demokratischen Republik die Nationale Volksarmee aufgebaut. 1957 kehrt das zunächst von Frankreich beanspruchte Saarland nach einer Volksabstimmung (1955) zu Deutschland zurück und schließt die Bundesrepublik Verträge über die Nutzung der Atomenergie (Euratom) und über die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) mit Frankreich, Italien, Niederlande, Belgien und Luxemburg ab (römische Verträge vom 25. 3./27. 7. 1957 mit Niederlassungsfreiheit [auch für Gastarbeiter]), die 1965/1967 in dem sachlich erweiterten Zusammenschluss der Europäischen Gemeinschaften aufgehen, dem sich zum 1. 1. 1973 Großbritannien, Dänemark und Irland sowie später Griechenland (1. 1. 1981), Spanien und Portugal (1. 1. 1986) anschließen und in dem ab 1985 mit der Aufhebung von Grenzkontrollen infolge des sog. Schengener Abkommens vom 14. 6. 1985 (anfangs nur zwischen Deutschland, Frankreich, Belgien, den Niederlanden und Luxemburg) begonnen wird. Um sich vor der zunehmenden Abwanderung zu schützen, beginnt die Deutsche Demokratische Republik, in der es am 17. 6. 1953 zu einem mit sowjetischer Waffengewalt niedergeschlagenen Aufstand (gegen erhöhte Leistungsanforderungen) kommt, am 13. 8. 1961 mit dem Bau einer Mauer an ihrer Westgrenze (mit Schießbefehl auf jeden Flüchtling bis 5. 7. 1989) »zur Abwehr der revanchistischen Bedrohung aus dem Westen«.
Innenpolitisch gibt im Jahre 1959 die Sozialdemokratische Partei Deutschlands im Godesberger Programm ihre marxistische Ideologie auf. Nach ihrem durch wirtschaftliche Schwierigkeiten begünstigten Wahlsieg in Nordrhein-Westfalen und dem Bruch der bisherigen Koalition im Bundestag tritt sie in der Form der großen Koalition mit CDU/CSU Ende 1966 in die Regierung ein. Nach den Wahlen von 1969 erhalten Sozialdemokraten und Freie Demokraten gemeinsam eine knappe Mehrheit, die sich sozialliberale Reformen auf allen Gebieten vornimmt. Insbesondere strebt sie die Aussöhnung mit dem Osten (Ostverträge, 12. 8. 1970/23. 5. 1972 Moskauer Vertrag mit der Sowjetunion, 7. 12. 1970 Warschauer Vertrag mit Polen, 21. 12. 1972/6. 6. 1973 Grundlagenvertrag mit der DDR, 1974 Vertrag mit der Tschechoslowakei, 9. 10. 1975/12. 3. 1976 Rentenvereinbarung mit Polen) und die Verbesserung der Lebensqualität im Inneren an. 1973 werden die Bundesrepublik und die Deutsche Demokratische Republik Mitglieder der am 26. 6. 1945 als Nachfolgerin des Völkerbundes gegründeten Vereinten Nationen, deren Ziele Sicherung des Weltfriedens, Schutz der Menschenrechte, Gleichberechtigung aller Völker und Besserung des allgemeinen Lebensstandards sind.
Da die Politik der Reformen angesichts der von den Lieferanten auf dem Weltmarkt verlangten Preise für Erdöl immer schwerer zu finanzieren ist (50 % Staatsquote), gerät die sozialliberale Koalition 1982 in eine Krise. Die Freie Demokratische Partei verlässt die Koalition und bildet mit den Christlich-Demokratischen Union bzw. der Christlich-Sozialen Union unter Helmut Kohl eine neue, Konsolidierung der Finanzen anstrebende Koalition. Ihr kommt die zunehmende Entspannung zwischen den Vereinigten Staaten von Amerika und der Sowjetunion (unter Michael Gorbatschow, 1987 »Perestroika« [Umgestaltung], »Glasnost«) zugute, die im Ostblock zu augenfälligen Liberalisierungen führt (Ungarn, Polen, Litauen, Lettland, Estland, Georgien). Allerdings zeigen sich bald trotz wirtschaftlicher Blüte auch politische Zerfallserscheinungen (Abwanderung der Wähler von der Mitte nach links zur ökologisch ausgerichteten Partei der Grünen und vorübergehend auch nach rechts zur nationalistischen Partei der Republikaner).
Im August 1989 flüchten als Folge der Liberalisierung des Ostblocks Tausende von Bewohnern der durch das Wahrscheinlichmachen bzw. den Nachweis von Wahlfälschung angreifbaren Deutschen Demokratischen Republik in die bundesdeutschen Botschaften in Budapest, Prag und Warschau sowie in die ständige Vertretung der Bundesrepublik in Ostberlin. Am 10. 9. 1989 öffnen daraufhin die Außenminister Ungarns (Horn) und Österreichs (Mock) mit einer Drahtschere den Stacheldrahtzaun zwischen ihren Ländern. Kurz nach den Feiern zum 40. Jahrestag der Gründung der Deutschen Demokratischen Republik (6./7. 10. 1989) kommt es nach zahlreichen, unter dem Motto »wir sind das Volk« abgehaltenen Massendemonstrationen vor allem in Berlin und Leipzig am 9. 11. 1989 zur Ankündigung des SED-Zentralkomitees, dass unverzüglich Ausreisegenehmigungen ohne Voraussetzungen erteilt werden. Daraufhin überschreiten Zehntausende in Berlin die Grenzsperren (Öffnung der Mauer) und beginnen mit deren Beseitigung. In Wahrnehmung einer geschichtlichen Gelegenheit setzt sich Helmut Kohl für eine deutsche Einheit ein und einigt sich am 19./20. 12. 1989 mit dem Vorsitzenden des Ministerrats der Deutschen Demokratischen Republik auf eine Vertragsgemeinschaft zur Wiederherstellung der staatlichen Einheit Deutschlands. Hastige Veränderungen der Verfassung der Deutschen Demokratischen Republik bleiben wirkungslos. Am 30. 1. 1990 stellt Michael Gorbatschow die Vereinigung der Deutschen außer Zweifel. Am 18. 3. 1990 finden in der Deutschen Demokratischen Republik freie Wahlen statt, die zu einer bürgerlichen Mehrheit führen (41% CDU). Die von ihr gebildete Regierung vereinbart am 18. 5. 1990 mit der Regierung der Bundesrepublik Deutschland einen Staatsvertrag über die Schaffung einer Währungsunion auf der Grundlage der westlichen Deutschen Mark zum 1. 7. 1990. Am 22. 7. 1990 wird das Gesetz zur Neubildung der Länder (Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen, Sachsen-Anhalt, Thüringen aus den 1952 geschaffenen 14 Verwaltungsbezirken) erlassen. Am 23. 8. 1990 beschließt die Volkskammer der Deutschen Demokratischen Republik den Betritt zum Geltungsbereich des Grundgesetzes zum 3. 10. 1990. Am 31. 8. 1990 wird ein Einigungsvertrag abgeschlossen. Am 3. 10. 1990 wird unter Billigung der alliierten Siegermächte (12. 9. 1990 Vertrag über die abschließende Regelung in Bezug auf Deutschland, 1. 10. 1990 Deutschlanderklärung der Allierten bezüglich der Aufgabe ihrer Rechte hinsichtlich Berlins) der Beitritt (gemäß Art. 23 S. 2 GG) wirksam, wodurch sich das Gebiet der Bundesrepublik Deutschland von 248678 qkm um 108181 qkmauf 356859 qkm und die Zahl der Einwohner von 61,7 Millionen um 16,4 Millionen auf 78,1 Millionen vermehrt. Die Volkskammer entsendet 144 Abgeordnete in den Bundestag. Am 2. 12. 1990 finden Neuwahlen statt (Bundestag mit 656 Abgeordneten). Mit Polen wird am 17. 10. 1991 ein Grenzvertrag und Nachbarschaftsvertrag abgeschlossen, der die tatsächlichen Grenzen rechtlich festlegt, mit der Tschechoslowakei am 27. 2. 1992 ein Freundschaftsvertrag unterzeichnet. Durch Hinterlegung der Ratifizierungsurkunde des sog. Zwei-plus-Vier-Vertrags durch die Sowjetunion bei der Bundesregierung wird die Bundesrepublik Deutschland auch förmlich (wieder) souverän. Zum 1. 1. 1995 erweitert sie ihre Hoheitsgewässer von 3 auf 12 Seemeilen.
Innerhalb der 12 Staaten der Europäischen Gemeinschaft gelingt nach dem Betritt Großbritanniens zum Europäischen Währungssystem (8. 10. 1990) die in der Mitte der achtziger Jahre vereinbarte Schaffung eines gemeinsamen Binnenmarkts 1992. Dadurch wird zwar in erster Linie ein wirtschaftliches Ziel angestrebt, doch wirkt sich dessen Erreichen auch allgemeinpolitisch und rechtspolitisch aus. In der Folge wird die Europäische Gemeinschaft durch den Vertrag von Maastricht vom 7. 2. 1992 in Europäische Union umbenannt, die zum 1. 1. 1995 um Österreich, Schweden und Finnland und zum 1. Mai 2004 um Tschechien, Slowakei, Slowenien, Ungarn, Polen, Litauen, Lettland, Estland, Malta und (den griechischen Teil) Zypern(s) erweitert wird, und in der zunächst 11 Mitgliedstaaten zum 1. 1. 2002 die gemeinsame Währung Euro und Cent einführen. Am 16. 12. 2004 wird nach weit gediehenen Aufnahmeverhandlungen mit Bulgarien und Rumänien auch mehrheitlich die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen mit der Türkei beschlossen.
Österreich, dessen verschiedenen Zielsetzungen dienende Wiederherstellung bereits am 30. 10. 1943/1. 1. 1943 auf einer Konferenz der alliierten Außenminister beschlossen wird (Moskauer Deklaration), wird nach der im April 1945 erfolgten Besetzung durch die Sowjetunion ebenfalls in Besatzungszonen der Alliierten aufgeteilt (Tirol und Vorarlberg französisch, Kärnten, Osttirol und Steiermark britisch, Salzburg und Oberösterreich amerikanisch). Im sowjetisch besetzten Teil bildet sich unter dem ehemaligen Parlamentspräsidenten Karl Renner eine provisorische Staatsregierung aus Österreichischer Volkspartei, Sozialistischer Partei und Kommunistischer Partei. Sie proklamiert am 27. 4. 1945 die Unabhängigkeit, derzufolge die Republik wieder in ihren Grenzen von 1938 hergestellt wird, der Anschluss an Deutschland nichtig ist und die Verfassung des Jahres 1920 wieder Gültigkeit hat. Das Verfassungsüberleitungsgesetz der provisorischen Staatsregierung vom 1. 5. 1945 bestimmt das Wiederinkrafttreten der Bundesverfassung des Jahres 1920 in der Fassung des Jahres 1929. Mit dem Zusammentreten eines neu gewählten Nationalrats am 19. 12. 1945 endet das Verfassungsprovisorium vom 1. 5. 1945 und ist das Verfassungssystem des Bundesverfassungsgesetzes wieder uneingeschränkt in Geltung. Danach ist Österreich wieder eine demokratische Republik (zweite Republik) mit Volkssouveränität und ein Bundesstaat. Die obersten Organe der Vollziehung sind der direkt gewählte, weitgehend auf Repräsentation beschränkte Bundespräsident, der Bundeskanzler, die Bundesminister und Staatssekretäre sowie die Mitglieder der Landesregierungen. Die Gesetzgebung des Bundes übt der Nationalrat gemeinsam mit dem Bundesrat aus. Art. 149 I der Verfassung verleiht noch immer einer Reihe weiterer Gesetze (u. a. dem Staatsgrundgesetz vom 21. 12. 1867 über die allgemeinen Rechte der Staatsbürger für die im Reichsrate vertretenen Königreiche und Länder, das einen Grundrechtskatalog enthält,) Verfassungsrang. Insgesamt ist somit Verfassungsrecht in sehr verschiedenen Rechtsquellen enthalten. Das gleichzeitige Rechtsüberleitungsgesetz vom 1. 5. 1945 hebt alle nach dem 13. 3. 1938 erlassenen Gesetze und Verordnungen, die Gedankengut des Nationalsozialismus enthalten, auf.
Am 15. 5. 1955 wird unter Verpflichtung zur Neutralität in einem Staatsvertrag mit den Alliierten Österreich als souveräner, unabhängiger und demokratischer Staat in den Grenzen vom 1. 1. 1938 anerkannt. Am 26. 10. 1955 beschließt der Nationalrat die immerwährende Neutralität Österreichs. Am 14. 12. 1955 wird Österreich in die Vereinten Nationen aufgenommen, am 16. 4. 1956 tritt es dem Europarat bei. Im Juli 1989 wird die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen zur Europäischen Gemeinschaft beschlossen, der zum 1. 1. 1995 erfolgt und in einer Volksabstimmung mit 66,34 % der Stimmen gutgeheißen wird Dadurch werden weitere Regeln des Staatsvertrags von 1955 überholt. 1999 beschließen die 14 anderen Mitgliedstaaten der Europäischen Union wegen der Teilnahme der Freiheitlichen Partei Jörg Haiders an der Regierung bilaterale Sanktionen gegen Österreich, die aber ohne größere Auswirkungen bleiben.
In der Schweiz können sich Befürworter eines Beitritts zur Europäischen Union nicht durchsetzen, doch findet über verschiedene bilaterale Abkommen eine deutliche Annäherung an die Europäische Union statt.
Lit.: Akten zur Vorgeschichte der Bundesrepublik Deutschland 1945-1949, Bd. 1ff. 1976ff.; Bacque, J., Verschwiegene Schuld, 1995; Benz, W., Die Gründung der Bundesrepublik, 1984; Braas, G., Die Entstehung der Länderverfassungen in der sowjetischen Besatzungzone Deutschlands 1946/7, 1987; BRD und DDR. Die beiden deutschen Staaten im Vergleich, hg. v. Jesse, E., 1981; Deutschland unter alliierter Besatzung, hg. v. Benz, W., 1999; Feldkamp, M., Der Parlamentarische Rat, 1998; Fromme, F., Von der Weimarer Verfassung zum Bonner Grundgesetz, 2. A. 1962; Furstenau, Entnazifizierung, 1969; Hansen, R., Das Ende des Dritten Reiches, 1966; Hauschild, I., Von der Sowjetzone zur DDR, 1996; Mai, G., Der Alliierte Kontrollrat, 1995; Überwindung der Folgen der SED-Diktatur im Prozess der deutschen Einheit, hg. v. Deutschen Bundestag, Bd. 1ff. 1999; Vogel, W., Westdeutschland 1945-1950, Bd. 1ff. 1956f.; Weber, H., Die DDR 1945-1986, 1988
Nach dem Krieg werden die nationalsozialistischen Planungswirtschaftsmaßnahmen aufgehoben, wird der IG-Farben-Konzern zerschlagen (BASF, Bayer, Hoechst) und werden die Westzonen Deutschlands beim Wiederaufbau und der Eingliederung der Flüchtlinge durch das amerikanische Europäische Wiederaufbauprogramm (Marshall-Plan) unterstützt. Unter dem Wirtschaftsminister Ludwig Erhard setzt sich im Westen die grundsätzlich freie Marktwirtschaft durch, die nur ausnahmsweise aus sozialen Gründen vom Staat gesteuert wird. Dagegen wird in der Ostzone die zentrale Planwirtschaft unter Beseitigung des privaten Produktionskapitals eingeführt. Die von den starken Wirtschaftsverbänden (Deutscher Gewerkschaftsbund, Bundesverband der deutschen Industrie usw.) beeinflusste Marktwirtschaft der Bundesrepublik schafft schon bald nach der Währungsreform (20./21. 6. 1948, Bankguthaben auf 6,5 Prozent des Wertes verringert, Verbindlichkeiten auf 10 Prozent, Handgeld von 40 DM pro Person) das sog. Wirtschaftswunder in der Form der sehr starken Steigerung des jährlichen Volkseinkommens. Durch die europäischen Verträge (1957) wird die wirtschaftliche Vereinigung mit anderen westeuropäischen Staaten begonnen. Sie wie die beträchtliche Exportquote führen zu immer stärkerer Abhängigkeit von der Weltwirtschaftsentwicklung. Daraus folgt in wirtschaftlich guten Zeiten eine große Nachfrage nach Arbeitskräften, die nur durch Erhöhung der Löhne und durch Anwerbung ausländischer Arbeitskräfte (1974 4 Millionen Gastarbeiter) gestillt werden kann, in wirtschaftlich schlechten Zeiten dagegen erhebliche Arbeitslosigkeit unter den 1972 rund 27 Millionen Beschäftigten (1982 bis 1989 durchschnittlich 2 Millionen Arbeitslose, 1990 bis 1995 mehr als 3 Millionen Arbeitslose, 1994 in den alten Bundesländern 2,556 Millionen, 2004 rund 4,5 Millionen), die angesichts des anhaltenden Zustroms (auch der von der Familie zum Beruf wechselnden Frauen) auf den Arbeitsmarkt (1994 rund 30 Millionen Beschäftigte in den alten Bundesländern) weder durch Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen noch durch umstrittene Arbeitszeitverkürzung (bei vollem Lohnausgleich) beseitigt werden kann. Als besonders belastend erweisen sich auch die sprunghaft gestiegenen Energiekosten, die erheblich zu dem am Ende der 70er Jahre eintretenden Leistungsbilanzdefizit beitragen. Um die durch sie trotz des zeitweisen Gleichbleibens oder Sinkens der Erdölpreise auftretende Belastung eindämmen zu können, sucht man allgemein nach neuen Wegen der Arbeitskosten einsparenden und damit gleichzeitig Arbeitsplätze vernichtenden Rationalisierung. Als hilfreich erweist sich dabei besonders die Steuerung von Produktionsvorgängen durch die automatisierte (elektronische) Datenverarbeitung. Neue Schwierigkeiten erwachsen aus der immer deutlicher erkennbaren Schädigung der Umwelt durch den Menschen (Luftverschmutzung, Gewässerverunreinigung, Bodenbelastung).
Die Wiedereinführung der Privatwirtschaft im Gebiet der Deutschen Demokratischen Republik erfolgt zwischen 1990 und 1995 durch eine Treuhandanstalt, ohne dass das deutliche wirtschaftliche Gefälle zwischen Ost und West wirklich beseitigt werden kann.
1. Landwirtschaft
Infolge des technischen Fortschritts, der vor allem die gesamte tierische Energie und einen Großteil der menschlichen Arbeitskraft durch Maschinen (Traktoren, Mähdrescher, Melkmaschinen) ersetzt, ändert sich die Struktur der Betriebe erheblich. In kurzer Zeit sinkt, weil nur größere Betriebe mit Maschinen ertragreich wirtschaften können, die Zahl der Betriebe von 2 Millionen (1950) über rund 1 Million (1975) auf rund 0,5 Millionen (1997) und die Zahl der hauptamtlich Beschäftigten von 6 über 1,5 Millionen (1975) auf weniger als 0,5 Millionen (2000) . Infolge der Maschinisierung, durch die auch das Futterland für Zugtiere zu anderweitiger Verwertung frei wird, der Vergrößerung der Wirtschaftsflächen (Flurbereinigung, Gesetz vom 14. 7. 1953), der Intensivierung der freilich zunehmend die Umwelt (Boden, Grundwasser) gefährdenden künstlichen Düngung, der Züchtung neuer Arten und Sorten (Gentechnik) sowie der Spezialisierung auf Monokulturen steigt der Ertrag erheblich an (1950 bis zu drei Tonnen Weizen pro Hektar, 1975 bis zu sieben Tonnen). Dennoch muss, da die Einkommenssteigerungen der Landwirtschaft immer stärker hinter denen anderer Berufsgruppen zurückbleiben, die Landwirtschaft zur Sicherung von Mindesterträgen subventioniert werden.
In der sowjetischen Besatzungszone werden zwischen 1945 und 1949 7100 Eigentümer und Pächter von Flächen von mehr als 100 Hektar und 4300 Eigentümer von Flächen von weniger als 100 Hektar entschädigungslos enteignet. In der DDR wird die Landwirtschaft in landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften kollektiviert (bis 1960 abgeschlossen) und ebenfalls vollständig maschinisiert. Nach dem Beitritt zur Bundesrepublik Deutschland werden die landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften bis Ende 1991 grundsätzlich aufgelöst (reprivatisiert), die Enteignungen vor 1949 aber nicht rückgängig gemacht.
2. Gewerbe
Das Gewerbe ist zunächst der hauptsächliche Träger des wirtschaftlichen Wachstums. Von 1950 bis 1970 steigt die Zahl seiner Beschäftigten von 9 auf 13 Millionen. Besonders kräftig wachsen Metallgewerbe, Chemiegewerbe, Elektrogewerbe und zunächst auch Baugewerbe, während Bergbau, Textilgewerbe und zuletzt auch Baugewerbe infolge des Übergangs zu neuen Energiequellen (Erdöl), der billigeren ausländischen Wettbewerber (Lohnvorteile) sowie der wirtschaftlichen Rezession und der Marktsättigung sowie des Geburtenrückgangs schrumpfen. Innerhalb des Gewerbes finden verstärkt Rationalisierung und Automatisierung statt (elektronische Datenverarbeitung). Viele Unternehmen schließen sich zusammen, wobei multinationale Konzerne in den Vordergrund treten. Beachtlich bleibt allerdings der Anteil des Handwerks von (1975) rund 35 %.
In der DDR, in der 1949 bereits die Hälfte der Wirtschaft zentral verwaltet wird, wird das Gewerbe weitgehend verstaatlicht (volkseigene Betriebe). Vor allem Chemiegewerbe und Metallgewerbe werden ohne Rücksicht auf Umweltschäden ausgebaut.
3. Tertiärer Sektor
Auf der Suche nach besseren Lebensbedingungen erreicht und überschreitet die Zahl der Beschäftigten des Dienstleistungssektors allmählich die des Gewerbes.
Das Verkehrswesen erlebt einen ungeahnten Aufschwung (1950 1 Million, 1975 mehr als 18 Millionen bislang unbekannte Bewegungsfreiheit verkörpernde Kraftfahrzeuge). Dementsprechend wird der Straßenbau (Autobahnbau) zunächst ausgedehnt, wegen der damit verbundenen Umweltschädigung aber wenig später gedrosselt. Umgekehrt muss das Eisenbahnnetz infolge ständig geringerer Auslastung und damit entstehender Verluste verkürzt werden.
Der Binnenhandel erhöht die Zahl seiner Beschäftigten und seinen Umsatz, während die Zahl der Unternehmen infolge des Vordringens der größeren Selbstbedienungsläden, Warenhäuser und Handelsmärkte sinkt. Der Außenhandel wächst parallel zum Gesamtwirtschaftswachstum und erfasst (1975) etwa ein Drittel der einheimischen Industrieproduktion.
Das Geschäftsvolumen der Banken weitet sich infolge der Verdichtung der Geldbeziehungen innerhalb der Volkswirtschaft erheblich aus. Dabei erfasst die Kreditwirtschaft verstärkt den Durchschnittsbürger. Das Buchgeld bzw. das elektronische Geld (Netzgeld) dringt vor.
Die öffentliche Verwaltung nimmt auf Grund der Vermehrung der öffentlichen Aufgaben und der fehlenden Wirtschaftlichkeitsprüfung zu, so dass sich die Zahl ihrer Beschäftigten (schon 1975) auf mehr als 3 Millionen erhöht.
In der DDR steigt die Bedeutung des tertiären Sektors ebenfalls. Der Handel wird überwiegend innerhalb des sozialistischen Lagers und nach planwirtschaftlichen Regeln abgewickelt. Die Banken sind verstaatlicht.
4. Öffentliche Haushalte
Die öffentlichen Haushalte erfassen einen immer größeren Teil des Bruttosozialproduktes (Bundeshaushalt 1976 allein 174 Milliarden DM von etwa 1000 Milliarden Bruttosozialprodukt, 2004 rund 200 Milliarden Euro Einnahmen). Die Einnahmen stammen überwiegend aus den laufend steigenden Steuern (1950 19 Milliarden, 1980 365 Milliarden, 1990 567 Milliarden), wobei Einkommensteuer und Lohnsteuer (35%) und Umsatzsteuer bzw. (seit 1968) Mehrwertsteuer (25%) voranstehen und sich die Steuern zu mehr alsder Hälfte auf den Bund, zu einem Drittel auf die Länder und zu weniger als einem Sechstel auf die Gemeinden verteilen. Diese Steuern reichen allerdings zur Finanzierung (z. B. der sozialliberalen Reformen) nicht aus, so dass eine großzügige Ausweitung der – anscheinend nur zeitweise durch Stabilitätskriterien der Europäischen Union in Grenzen gehaltenen Staatsverschuldung erfolgt (1970 rund 6 Mrd. DM Nettokreditaufnahme aller öffentlichen Haushalte, 1981 rund 64 Mrd. DM, 1993 -infolge des Beitritts der Deutschen Demokratischen Republik - rund 122 Mrd. DM, 2004 rund 57 Mrd. Euro), deren Konsolidierung auf beträchtliche Schwierigkeiten stößt. Die größten Ausgaben betreffen die soziale Sicherung, Schulen und Hochschulen, Verteidigung sowie Verkehrswesen und Wohnungswesen. Erhebliche Mittel verschlingt seit den 70er Jahren die Verzinsung der Staatsschulden.
In der DDR werden die Steuern und Abgaben im Wesentlichen unmittelbar bei den volkseigenen Betrieben und Genossenschaften erfasst.
Nach 1990 erfordert der Beitritt der Deutschen Demokratischen Republik wegen der gewünschten Angleichung der Lebensverhältnisse die Überweisung erheblicher Summen in die neuen Bundesländer.
Lit.: Abelshauser, W., Wirtschaftsgeschichte der Bundesrepublik Deutschland, 1983; Ambrosius, G./Hubbard, W., Sozial- und Wirtschaftsgeschichte Europas im 20. Jahrhundert, 1986; Nörr, K., Die Republik der Wirtschaft, 1999;
III. Gesellschaft
Gesetzlicher Grundsatz für die gesellschaftliche Ordnung ist nach dem Grundgesetz die rechtliche Gleichheit aller Staatsbürger. Wirtschaftlich bestehen dagegen erhebliche Unterschiede, indem zwar 85% Arbeitnehmer immerhin 60% des Volkseinkommens erhalten, aber das Volksvermögen zu 50% auf die etwa 15% Unternehmer und nur zu 20% auf die etwa 85 % Arbeitnehmer und im Übrigen auf die öffentliche Hand entfällt (1972). Andererseits ist seit 1800 eine Reallohnsteigerung von etwa 800 % und seit 1913 von etwa 300 % eingetreten und haben 40% aller Haushalte - und auch aller Arbeitnehmerhaushalte - (Hauseigentum und) Grundeigentum in irgendeiner Form, so dass es den Deutschen im Durchschnitt wirtschaftlich besser geht als jemals zuvor.
Auffällig ist der auf der Suche nach besseren Lebensbedingungen eintretende starke Rückgang des Anteils der Selbständigen an der Gesamtzahl der Beschäftigten (1950 ein Drittel, 1975ein Sechstel) vor allem in Landwirtschaft, Handwerk und Handel. Bei den Unselbständigen nimmt der Anteil der Angestellten (1987 11 Millionen bei noch 10,7 Millionen Arbeitern) und Beamten zu. Die Zahl der beschäftigten Frauen steigt im Zuge der Emanzipation und der Verkleinerung der Familien in Richtung Einkindfamilie deutlich an (1975 9 Millionen, 1987 38 % aller Erwerbstätigen, 1990 40 % aller verheirateten Frauen). Hinsichtlich des Tätigkeitsbereiches findet eine Verlagerung von der Landwirtschaft zum Gewerbe und von dort zum tertiären Sektor statt, was eine wachsende berufliche Mobilität bedingt. Seit den 60er Jahren werden niedere Tätigkeiten immer stärker auf die (1974 4 Millionen) ausländischen Arbeiter (sog. Gastarbeiter) abgeschoben. Gleichzeitig nimmt als Folge der Bildungspolitik die Zahl der akademisch ausgebildeten Arbeitskräfte sehr zu (1960 2,9 % der Erwerbstätigen, 1970 5,7 %, 1993 11,5 %).
Besondere Probleme im sozialen Bereich entstehen in der Form der Kriegsfolgelasten (Wiedergutmachung der Schäden aus politischer Verfolgung [bis 1987 rund 80 Milliarden DM], Versorgung der Kriegsopfer und Hinterbliebenen, Ausgleich der einseitig verteilten Kriegsverluste [bis 1974 rund 94 Milliarden Ausgleichsleistungen im sog. Lastenausgleich] sowie mit zeitlicher Verschiebung Aufnahme der Spätaussiedler). Im Übrigen werden als Hauptaufgaben die Korrektur der durch die Marktwirtschaft entstehenden sozialen Probleme,die Schaffung vermehrter sozialer Sicherheit und mit der immer klarer sichtbaren Vergreisung der Bevölkerung (Erhöhung der Lebenserwartung bei gleichzeitig zurückgehender Geburtenrate) die Sicherung der Altersversorgung angesehen. Durch die hierzu getroffenen Maßnahmen erhöht sich der Anteil der Ausgaben für die soziale Sicherung am Volkseinkommen schon von 1960 einem Sechstel auf 1975 ein Drittel (Sozialstaat, Wohlfahrtsstaat).
In der DDR ist die allgemeine Vereinheitlichung der Gesellschaft unmittelbares politisches Ziel. Theoretische Zentralfigur ist der Arbeiter und Bauer. Die völlige Gleichheit ist aber weder erreicht noch tatsächlich gewollt.
Seit 1990 ist die Angleichung der Lebensverhältnisse der sog. neuen Bundesländer (ehemalige Deutsche Demokratische Republik) an diejenigen der sog. alten Bundesländer eine besonders wichtige Aufgabe.
Lit.: Sozialgeschichte der Bundesrepublik Deutschland, hg. v. Conze, W./Lepsius, M., 1983
IV. Geistesleben
Die wissenschaftliche Erkenntnis schreitet auf allen Gebieten immer rascher fort.
Trotz der gewissen Steigerung der Ausbildung (1976 rund 840000, 1985 1336395 Studenten) steht der Einzelne als (»mündiger Bürger«) dem Informationswachstum (80000 neue Bücher pro Jahr) immer hilfloser gegenüber. Die allgemeine Informationsvermittlung erfolgt dabei durch ständig einflussreichere, jedermann grundsätzlich das gleiche Wissen zur Verfügung stellende Massenmedien (Fernsehen, Zeitung, Rundfunk, Internet). Wichtige einzelne technische Neuerungen sind etwa Atomenergie, Düsenflugzeug, Raumflug, Elektronik, Fotokopie, Personal Computer, Mobiltelefon (Handy), E-mail.
Die bisherigen Wertvorstellungen werden verstärkt in Frage gestellt. Mit wachsendem zeitlichem Abstand vom Krieg beschleunigt sich die innerliche Abwendung von den christlichen Kirchen. Gefordert und anerkannt wird ein weltanschaulicher Pluralismus auf unklarer sozialer und humaner Grundlage, von dem im tatsächlichen Alltagsleben freilich wenig zu spüren ist.
In den Vordergrund schiebt sich dabei die Frage nach dem Verhältnis von liberalen und sozialen Vorstellungen. Das Festhalten an liberalen Forderungen und Positionen wird zu einem neuen Konservativismus. Ihm treten vor allem an Marx orientierte sozialistische Ideen kleinerer Gruppen gegenüber, die zugunsten von mehr Gleichheit Teile der bürgerlichen Freiheiten aufheben wollen, wobei im Übrigen im Bereich des Materialismus selbst dogmatische Veränderungen (Verhältnis von Basis und Überbau) eingetreten sind. Als gewichtige Alternativen stehen sich bis zum Zusammenbruch der zentralistischen Planwirtschaften liberale Eigentumsordnung und sozialistischer Wohlfahrtsstaat gegenüber.
In der DDR ist der Sozialismus die einzig anerkannte Weltanschauung.
B) Recht
I. Allgemeines
1. Unmittelbar nach der bedingungslosen Kapitulation des Deutschen Reiches vom 8. 5. 1945 bestimmen die Besatzungsmächte über das deutsche Recht. Das Kontrollratsgesetz Nr. 1 des alliierten Kontrollrats für Deutschland vom 20. 9. 1945 hebt die nationalsozialistisch geprägten Gesetze (z. B. Ermächtigungsgesetz, Rassegesetze) auf. Dementsprechend wird beispielsweise das Ehegesetz 1946 neu erlassen und das Reichserbhofgesetz 1947 außer Kraft gesetzt. Mit der Begründung der Bundesrepublik und der Deutschen Demokratischen Republik geht die Gesetzgebungshoheit auf diese über, wobei in der Bundesrepublik altes Recht nach besonderen Vorschriften übergeleitet und im Übrigen die Gesetzgebungszuständigkeit auf Bund und Länder verteilt wird. Angesichts des Umfangs der in beiden Staaten neu erlassenen Gesetze nimmt der gemeinsame einheitliche Grundbestand bis 1990 ständig ab.
Vom Beitritt der Deutschen Demokratischen Republik zur Bundesrepublik Deutschland an gilt in den neuen Bundesländern und im Ostteil Berlins grundsätzlich Bundesrecht der Bundesrepublik Deutschland, soweit der Einigungsvertrag in seiner Anlage 1 (ausnahmsweise) nichts Anderes bestimmt.
2. Rechtsquellen sind Gesetze, Gewohnheitsrecht und Richterrecht (str.). Von ihnen nimmt das Gesetzesrecht laufend zu - zuletzt umfassen allein die neuen Bundesgesetze jährlich 3000 Druckseiten -, so dass es trotz sog. bereinigter Sammlungen immer unübersichtlicher wird. Ausgefüllt wird dabei das formelle Gesetz durch eine große Flut von Verordnungen. Sowohl Gesetze wie auch Verordnungen werden immer stärker von den Auswirkungen der Europäischen Gemeinschaft bzw. Europäischen Union beeinflusst.
Das Gewohnheitsrecht ist von geringer Bedeutung.
Das Richterrecht bleibt wegen des Grundsatzes der Gewaltenteilung umstritten. Ausdrücklich kommt nur bestimmten Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichtes Gesetzeskraft zu, doch findet auf zahlreichen Gebieten tatsächlich Rechtsfortbildung durch Richter statt.
Die Rechtswissenschaft, deren Vertreter infolge der Gründung zahlreicher neuer und des Ausbaues bisheriger Universitäten zahlenmäßig parallel zu den Studierenden (1974 rund 40000 Jurastudenten, 1981/1982 allein 15000-18000 Studienanfänger, 1985 86499 Jurastudenten) stark zunehmen, beteiligt sich vermehrt an der Erläuterung und Verbesserung der bestehenden und der Gewinnung neuer rechtlicher Regeln.
3. Allgemein beginnt nach dem Ende der nationalsozialistischen Herrschaft eine Rückbesinnung auf die inhaltliche Gerechtigkeit. Die negativen Folgen des Gesetzespositivismus aber auch eines rassistisch-nationalistischen Naturrechts werden von vielen Seiten hervorgehoben. Welche inhaltlichen Werte jedoch Geltung haben sollen, bleibt demgegenüber zweifelhaft.
Der Versuch, unmittelbar an die gesamte ältere abendländische Tradition anzuknüpfen, scheitert. Die Berufung des Bundesgerichtshofs auf die Schöpfungsordnung stößt auf verbreitete Kritik. Der um sich greifende Pluralismus erschwert einen Konsens.
Als Alternative bieten sich seit den 60er Jahren die Sozialwissenschaften an. Unter Berufung auf sie wird vereinzelt die Eigenständigkeit der Rechtswissenschaft überhaupt bestritten. Angesichts der Tatsache, dass die Sozialwissenschaften als solche im Grund zunächst nur tatsächlich ermitteln, nicht aber eine wertende Entscheidung treffen können, bleibt die Flucht in die Sozialwissenschaften problematisch. In dieser schwierigen Lage geht die Wertungsjurisprudenz davon aus, dass zum Wesen der Rechtswissenschaft der Bezug auf Werte gehöre. Sie werden außer in der einzelnen Bestimmung auch in der Gesamtheit der Rechtsordnung gesucht und ermittelt. Als tatsächlich hilfreich wird in diesem Zusammenhang die offene Erörterung möglicher Entscheidungsfolgen angesehen. Dies gilt auch für die aus den Vereinigten Staaten von Amerika übernommene ökonomische Analyse des Rechts, soweit sie über die Beurteilung der Wirklichkeit nach wirtschaftlichen Gesichtspunkten die Grundlagen der Rechtsordnung überhaupt zu verändern versucht.
4. In der Schweiz wird 1946 die Alters- und Hinterbliebenenversorgung geordnet (Invalidenversicherung 1959). 1948 wird ein Luftfahrtgesetz verabschiedet. Im Obligationenrecht werden Agenturvertrag (1949), Abzahlungsgeschäft (1962), Miete (1970) und Dienstvertrag (1972) geändert, im Zivilgesetzbuch 1963 das Stockwerkseigentum angefügt und 1973 das Adoptionsrecht sowie 1978 das Kindschaftsrecht (zugunsten des nichtehelichen Kindes) modifiziert. Daneben werden zahlreiche andere Angelegenheiten gesetzlich geregelt. 1974 tritt die Schweiz der Europäischen Menschenrechtskonvention bei. Dagegen scheitert ein Beitritt zum Europäischen Wirtschaftsraum oder zur Europäischen Union am Widerstand der Bevölkerung.
Lit.: Böckenförde, E., Die Rechtsauffassung im kommunistischen Staat, 2. A. 1967; Brunner, G., Einführung in das Recht der DDR, 2. A. 1979; Brunner, G., Was bleibt übrig vom DDR-Recht nach der Wiedervereinigung?, JuS 1991, 353; Das Zivilgesetzbuch der DDR, hg. v. Eckert, J. u. a., 1995; Deutsche Rechtspolitik seit 1949, hg. v. With, H. de, 2. A. 1980; Die Babelsberger Konferenz, hg. v. Eckert, J., 1993; Diestelkamp, B., Rechts- und verfassungsgeschichtliche Probleme zur Frühgeschichte der Bundesrepublik Deutschland, JuS 1980, 401ff., 1981, 96ff.; Dilcher, H., Bürgerliches Recht in den Westzonen 1945-1949, FS Paul Mikat 1989, 221; Eine Diktatur vor Gericht, hg. v. Weber, J. u. a. 1995; Engisch, K., Einführung in das juristische Denken, 8. A. 1983; Etzel, M., Die Aufhebung von nationalsozialistischen Gesetzen durch den Alliierten Kontrollrat 1945-1949, 1992; Groll, K., Die Flut der Gesetze, 1985; Horn, N., Zur ökonomischen Rationalität des Privatrechts, AcP 176 (1976), 307; Häberle, P., Europäische Rechtskultur, 1994; Kaufmann, A., Die Naturrechtsrenaissance der ersten Nachkriegsjahre, FS Sten Gagnér, 1991, 105; Kühl, K., Rückblick auf die Renaissance des Naturrechts nach dem 2. Weltkrieg, in: Geschichtliche Rechtswissenschaft, hg. v. Köbler, G., 1990, 331; Magnus, U., Deutsche Rechtseinheit im Zivilrecht - die Übergangsregelungen, JuS 1992, 456; Mayer-Maly, T., Werte im Pluralismus, Juristische Blätter 1991, 681; Rechtswissenschaft in der DDR 1949-1971, hg. v. Dreier, R. u. a., 1996; Rechtswissenschaft in der Bonner Republik, hg. v. Simon, D., 1994; Roggemann, H., Das Zivilgesetzbuch der DDR von 1975, NJW 1976, 393; Schmidt, K., Zur Zukunft der Kodifikationsidee, 1985; Schröder, R., Rechtsgeschichte der Nachkriegszeit, JuS 1993, 624; Sozialwissenschaften im Recht, Bd. 1ff. 1975ff.; Stürner, R., Die Rezeption U.S.-amerikanischen Rechts in der Bundesrepublik Deutschland, FS Kurt Rebmann 1989, 839; Vierzig Jahre Bundesrepublik Deutschland - Vierzig Jahre Rechtsentwicklung, hg. v. Nörr, K., 1990; Wiegand, W., The Reception of the American Law in Europe, The American Journal of Comparative Law 39 (1991), 229; Wiegand, W., Die Rezeption amerikanischen Rechts, in: Die Schweizerische Rechtsordnung in ihren internationalen Bezügen, 1988, 229; Zippelius, R., Juristische Methodenlehre, 5. A. 1990; Zivilrechtslehrer deutscher Sprache. Lehrer-Schüler-Werke, hg. v. Kim, H. u. a., 1988
II. Öffentlicher Bereich
1. Verfassung
Der Fortbestand des deutschen Reiches nach der (als rein militärisch eingeordneten) Kapitulation ist umstritten, wird aber überwiegend bejaht (nach Gründung der Bundesrepublik Deutschland als auf deren Gebiet beschränkt angesehen) und das deutsche Volk als (vorübergehend) handlungsunfähig eingestuft. Jedenfalls tasten die Besatzungsmächte den Bestand der Länder nicht grundsätzlich an, sondern beleben sie neu und bilden unter Zerschlagung des als zu groß und gefährlich angesehenen Landes Preußen (formelle Auflösung durch Kontrollratsgesetz Nr. 46 vom 25. 2. 1947) die neuen Länder (Nordrhein-Westfalen, Niedersachsen, Schleswig-Holstein, Hessen, Rheinland-Pfalz) und fördern deren Verfassungsgebung (1946 Württemberg-Baden, Hessen, Bayern, 1947 Baden, Rheinland-Pfalz). Auch das Grundgesetz geht auf eine Initiative der Besatzungsmächte zurück.
Dabei werden den damals 11 Ministerpräsidenten der Westzonen am 1. 7. 1948 von den Regierungen der Vereinigten Staaten von Amerika, Großbritanniens, Frankreichs, der Niederlande, Belgiens und Luxemburgs die sog. Frankfurter Dokumente übergeben, die unter Anderem die Einberufung einer verfassunggebenden Nationalversammlung vorsehen. Auf Grund der Gegenvorstellung der Ministerpräsidenten wird ein von ihnen berufener Verfassungskonvent nur mit der Ausarbeitung eines vorläufigen Organisationsstatuts betraut. Der vom 10. bis 23. 8. 1948 auf der Insel Herrenchiemsee von diesem Herrenchiemseer Konvent, in den jedes Land einen Vertreter entsendet, erarbeitete Entwurf wird seit 1. 9. 1948 vom Parlamentarischen Rat in Bonn, dem unter dem Präsidium Konrad Adenauers 65 von den 11 Landtagen gewählte Abgeordnete angehören (27 CDU, 27 SPD, 11 Angehörige kleinerer Parteien), überarbeitet (abschließende Formulierung unter dem Vorsitz Carlo Schmids) und am 8. 5. 1949 mit 53 zu 12 Stimmen angenommen. Nach der Genehmigung durch die 3 westlichen Militärgouverneure am 12. 5. 1949 stimmen bis 23. 5. 1949 die Vertretungen aller Länder (mit Ausnahme Bayerns) dem Entwurf zu.
Das Grundgesetz, das nach seiner Präambel dem staatlichen Leben für eine Übergangszeit eine neue Ordnung geben will, zerfällt in einen grundrechtlichen und einen organisationsrechtlichen Teil.
Die Grundrechte (Menschenwürde, allgemeine Handlungsfreiheit, Gleichheit, zahlreiche einzelne Ausprägungen der Freiheit wie Meinungsfreiheit, Religionsfreiheit, Lehrfreiheit, Vereinsfreiheit) wollen nicht nur Programmsätze sein, sondern grundsätzlich verbindliche Kraft entfalten und Gesetzgebung, vollziehende Gewalt und Rechtsprechung (des immer mächtiger werdenden Staates) als unmittelbar geltendes Recht (vielfach aller Menschen) binden. Eine Änderung der wichtigsten Grundsätze ist nach Art. 79 III unzulässig. Inhaltlich stellt der Katalog einen pluralistischen Kompromiss auf traditioneller Grundlage dar, wobei die Gewährleistung von Eigentum und Erbrecht ebenso wie die Möglichkeit der Vergesellschaftung von Boden und Produktionsmitteln festgelegt wird.
Neben diesen Grundrechten der Bundesverfassung gibt es eigene Grundrechtskataloge der Landesverfassungen, die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen vom 10. 12. 1948 und die Europäische Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten vom 4. 11. 1950 sowie die Charta der Grundrechte der Europäischen Union (7. 12. 2000).
Zur Abmilderung des Geburtendefizits und zur Erleichterung der Integration von Ausländern wird durch Gesetz vom 15. 7. 1999 der Erwerb der Staatsangehörigkeit von geringeren Voraussetzungen abhängig gemacht. Behinderte sollen besonders gefördert werden (19. 6. 2001, 27. 4. 2004).
An der Spitze des Organisationsteils steht die Entscheidung für den demokratischen und sozialen Bundesstaat (ursprünglich bestehend aus Baden, Württemberg-Baden, Württemberg-Hohenzollern, Bayern, Bremen, Hamburg, Hessen, Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen, Rheinland-Pfalz, Schleswig-Holstein, Westberlin), in dem alle Staatsgewalt vom Volk ausgeht (Volkssouveränität) und durch besondere Organe der Gesetzgebung, Vollzugsgewalt und Rechtsprechung (vom Volk nur mittelbar) ausgeübt wird und Parteien bei der politischen Willensbildung des Volkes mitwirken. Das Volk wählt in allgemeiner, unmittelbarer, freier, gleicher und geheimer Wahl nach einem gemischten Wahlrecht (Verhältniswahlrecht verbunden mit Zügen des Mehrheitswahlrechts), das Splittergruppen durch eine 5%-Sperrklausel ausschaltet, die Abgeordneten, die Vertreter des ganzen Volkes und nur ihrem Gewissen unterworfen sind. Volksentscheid, Volksbegehren und Volkswahl des Präsidenten sind wegen der damit verbundenen Gefahren im Grundsatz entfallen.
Der Bundestag ist das (in politische Parteien gegliederte, auch von Wirtschaftsverbänden beeinflusste) Gesetzgebungsorgan des Bundes. Seine Zuständigkeit ist teils ausschließlich, teils mit den Ländern konkurrierend. In einigen Bereichen hat der Bund eine Kompetenz für eine Rahmenregelung.
Durch den Bundesrat wirken die Länder bei der Gesetzgebung und Verwaltung des Bundes mit. Er besteht aus Mitgliedern der Regierungen der Länder, die zwischen drei und fünf (seit 1990 sechs) Stimmen haben. Zustimmungsgesetze bedürfen seiner Zustimmung, während sein bloßer Einspruch bei Einspruchsgesetzen überstimmt werden kann, wobei vermittelnde Verhandlungen in einem sog. Vermittlungsausschuss geführt werden können.
Der Bundespräsident wird von der besonderen Bundesversammlung gewählt, die aus den Mitgliedern des Bundestags und einer gleichen Zahl von durch die Volksvertretungen der Länder gewählten Vertretern besteht. Er vertritt den Bund völkerrechtlich. Ein Notmaßnahmerecht (Notverordnungsrecht) steht ihm im Gegensatz zur Weimarer Reichsverfassung nicht zu.
Der Bundeskanzler wird auf - mit den Parteien abgestimmten - Vorschlag des Bundespräsidenten von der Mehrheit des Bundestags gewählt. Er bestimmt die Richtlinien der Politik und schlägt die Bundesminister vor, die vom Bundespräsidenten ernannt werden und nicht des Vertrauens des Bundestags bedürfen. Der Bundestag kann ihn nur dadurch ablösen, dass er mit der Mehrheit seiner Mitglieder einen Nachfolger wählt (konstruktives Misstrauensvotum).
Neu ist ein besonderes Bundesverfassungsgericht (Karlsruhe 7. 9. 1951), dessen Mitglieder je zur Hälfte vom Bundestag und vom Bundesrat (bzw. von den dort bestimmenden politischen Kräften) gewählt werden. Es entscheidet (seit 12. 12. 1985 in Kammern [Dreierausschüssen] vorweg) u. a. über Verfassungsbeschwerden, die von jedermann mit der Behauptung erhoben werden können, durch die öffentliche Gewalt in einem seiner Grundrechte oder sonst besonders genannten Rechte verletzt worden zu sein. Daneben bestehen oberste Gerichtshöfe des Bundes.
Das Grundgesetz ist inzwischen mehrfach geändert worden, insbesondere anlässlich der Einführung der Wehrverfassung (1956) und der Notstandsverfassung (1968), des Beitritts der Deutschen Demokratischen Republik (1990) und der Bildung der Europäischen Union (1992). Als wichtigster unerledigter, inzwischen aber abgemilderter Verfassungsauftrag ist die Neugliederung des Bundesgebiets zu nennen. Das Bundesverfassungsgericht entwickelt das Verfassungsrecht nur behutsam fort.
In der DDR werden während ihres Bestandes zwei Verfassungen geschaffen.
Die Verfassung vom 7. 10. 1949 ist äußerlich ziemlich konservativ (z. B. Volkskammer), kennt aber weder eine Gewaltenteilung noch eine Opposition noch die Wahl in Form einer gesellschaftspolitischen Entscheidung. Sie wird durch die Beseitigung der Länder (13. 7. 1952/8. 12. 1958) und der Selbstverwaltung der Gemeinden sowie die Ersetzung des Präsidenten durch einen kollegialen Staatsrat (12. 9. 1960) verändert. Die zweite Verfassung vom 9. 4. 1968 will die inzwischen erreichten sozialistischen Errungenschaften absichern und gibt in der Neufassung vom 7. 10. 1974 die Vorstellung einer deutschen Nation auf.
In der Schweiz, die 1971 das Frauenstimmrecht bei gesamtschweizerischen Wahlen einführt und 1981 die Gleichberechtigung von Männern und Frauen in die Verfassung aufnimmt, verpflichtet 1990 das Bundesgericht in Lausanne den 13000 Einwohner umfassenden Halbkanton Appenzell-Innerrhoden zur Anerkennung des Frauenstimmrechts in der Landsgemeinde und bei kantonalen Wahlen.
Lit.: Stern, K., Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. 5 2000; Brunner, G., Einführung in das Recht der DDR, 2. A. 1979; Grimm, D., Das Grundgesetz nach vierzig Jahren, NJW 1989, 1305; Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, hg. v. Isensee, J. u. a., Bd. 1, 1987; Kröger, K., Einführung in die Verfassungsgeschichte der Bundesrepublik Deutschland, 1993; Maunz, T./Zippelius, R., Deutsches Staatsrecht, 29. A. 1994; Robbers, G., Die Änderungen des Grundgesetzes, NJW 1989, 1124f.; Wilms, H., Ausländische Einwirkungen auf das Grundgesetz, 1999
2. Verwaltung
Die Ausübung der staatlichen Befugnisse und die Erfüllung der staatlichen Aufgaben ist grundsätzlich Sache der Länder. Deswegen finden sich Bundesverwaltungsbehörden nur auf einigen Gebieten (auswärtiger Dienst, Finanzen, Eisenbahn [bis zu ihrer Privatisierung], Post [bis zu ihrer Privatisierung], Luftverkehr, Bundeswehr). Daneben bestehen zahlreiche bundesunmittelbare Körperschaften des öffentlichen Rechtes, Bundesanstalten und Bundesämter (z. B. Bundesagentur für Arbeit, Bundeskriminalamt, Bundeskartellamt). Außerdem wirkt der Bund auf Grund einer Verfassungsänderung nun auch bei bestimmten, für die Gesamtheit bedeutsamen Aufgaben der Länder mit (Gemeinschaftsaufgaben). Bei den Ländern, denen (wegen des freiwilligen Zusammenschlusses 1866/1870) alle übrigen Aufgaben, soweit sie nicht andererseits als Angelegenheiten der örtlichen Gemeinschaft den Gemeinden zustehen (vgl. Art. 28 GG, für Österreich ersetzt die Gemeindeverfassungsnovelle von 1962 das Reichsgemeindegesetz von 1862), ohne weiteres zufallen, ist die Verwaltungsorganisation im Wesentlichen unverändert. Je nach der Größe des Landes ist sie dreistufig (Oberbehörde, Mittelbehörde, Unterbehörde), zweistufig oder einstufig. Die in den 70er Jahren unternommene Verwaltungsreform hat daran nichts grundsätzlich verändert, sondern nur die einzelne Verwaltungseinheit gebietlich erweitert und dadurch die Gesamtzahl dieser Einheiten verringert.
Ausgeführt wird die Verwaltungstätigkeit außer durch Arbeiter und Angestellte des öffentlichen Dienstes durch Berufsbeamte. Ihre herkömmliche Rechtsstellung wird durch die Verfassung geschützt. Im Übrigen ist ihr Recht durch das Bundesbeamtengesetz (14. 7. 1953, 22. 10. 1965, 17. 7. 1971) und durch das Beamtenrechtsrahmengesetz (1. 7. 1957) einigermaßen vereinheitlicht. Durch Personalvertretungen wirken die öffentlichen Bediensteten an der Gestaltung ihrer Tätigkeit mit (für Österreich vgl. das Personalvertretungsgesetz von 1967). Der Umfang der Verwaltungsaufgaben hat sich insgesamt stark ausgeweitet. Auf immer mehr Lebensbereichen sorgt der Staat für den Bürger vor (Leistungsverwaltung, Daseinsfürsorge). Wegen der Vielfalt und Kompliziertheit der dafür geschaffenen Regelungen wird die Verwaltungstätigkeit immer schwieriger und für den Bürger belastender.
Für das Handeln der Verwaltung sind zunächst von der Wissenschaft allmählich gewisse allgemeine Regeln erarbeitet worden, die über einen Entwurf des Jahres 1963 und ein Landesverwaltungsgesetz Schleswig-Holsteins (1967) zum großen Teil in das Verwaltungsverfahrensgesetz (des Bundes 25. 5. 1976, daneben besondere Verwaltungsverfahrensgesetze der Länder) Eingang gefunden haben. Dieses gilt für Bund, Länder und Gemeinden sowie die juristischen Personen des öffentlichen Rechts bei Anwendung von Bundesrecht. Es regelt insbesondere die neben der Rechtssetzung (durch Rechtsverordnung) wichtigsten verwaltungsrechtlichen Handlungsformen des öffentlichen Vertrags und des Verwaltungsakts. Auch für den Vollzug des Verwaltungsakts sind bestimmte Regeln entwickelt worden. Bedeutsam sind daneben noch die Staatshaftungsansprüche, von denen die Entschädigung bei Enteignung (Art. 14 GG, Art. 5 österreichisches Staatsgrundgesetz) und der Ersatz bei Amtspflichtverletzung (Art. 34 GG, für Österreich vgl. das Amtshaftungsgesetz von 1948) unmittelbar in der Verfassung angeordnet worden sind und der Ausgleich bei rechtswidrigem enteignungsgleichem Eingriff (1952) und Aufopferung durch die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs Anerkennung erlangt hat.
In Österreich wird 1983 das Verwaltungsverfahrensrecht abgeändert.
Von den besonderen Gebieten der Verwaltung kommt dem Gemeinderecht, Polizeirecht, Baurecht, Steuerrecht und Sozialrecht Bedeutung zu.
Das Gemeinderecht ist, von der Selbstverwaltungsgarantie des Grundgesetzes abgesehen, Landesrecht. Seine Regelung ist unterschiedlich nach den einzelnen Ländern. Sie alle haben nach dem Krieg neue Gemeindeordnungen erlassen und durch die Verwaltungsreform der siebziger Jahre die Zahl der Gemeinden (der alten Bundesländer) insgesamt von etwa 24000 auf 8000 verringert.
Im Polizeirecht ist der materielle Polizeibegriff weitgehend aufgegeben. Der Polizei steht - in den meisten Ländern - nach der durch die Besatzungsmächte eingeleiteten Entpolizeilichung nicht mehr die gesamte Gefahrenabwehr zu, sondern hierfür sind meist fachspezifische Ordnungs- und Sicherheitsbehörden zuständig. Nach dem sog. institutionellen Polizeibegriff bedeutet Polizei nur noch die im Vollzugsdienst tätigen Dienstkräfte, die im Wesentlichen lediglich ausführende Aufgaben haben.
Das Baurecht ist auf Grund der in einem Gutachten des Bundesverfassungsgerichts (1954) geklärten Kompetenzverteilung des Grundgesetzes zwischen Bund und Ländern aufgespalten. Die Bauleitplanung und die bauliche Nutzung werden durch das Bundesbaugesetz (23. 6. 1960), das 1986 in das umfassendere Baugesetzbuch überführt wird, vereinheitlicht. Darüber hinaus schaffen weitere Gesetze zur Sicherung der geordneten Stadtplanung Eingriffsmöglichkeiten und fördern den Wohnungsbau (Wohnungsbaugesetz 26. 4. 1950, Wohnungsbauprämiengesetz 17. 3. 1952, Baulandbeschaffungsgesetz 3. 8. 1953, Städtebauförderungsgesetz 27. 7. 1971, vgl. Österreich 1974). Das die Sicherheit und die ästhetische Gestaltung baulicher Anlagen wahrende Bauordnungsrecht ist in den einzelnen Landesbauordnungen geregelt.
Zur Abwehr ungewollter Einwanderung wird mehrfach das Ausländerrecht geändert (z. B. 1990). Das Asylrecht wird zur Abhaltung von Wirtschaftsflüchtlingen eingeschränkt.
Durch das Bundesdatenschutzgesetz (1977) wird der Schutz der personenbezogenen Daten vor Missbrauch bei ihrer Speicherung, Übermittlung, Veränderung und Löschung gesichert (für Österreich vgl. das Datenschutzgesetz von 1978).
Im Wirtschaftsrecht werden unter dem Druck hoher Arbeitslosigkeit Handel und Gewerbe liberalisiert. Die gesetzlichen Ladenschlusszeiten werden durch Gesetz vom 15. 5. 2003 und durch eine Neufassung des Ladenschlussgesetzes vom 2. 6. 2003 eingeschränkt. Die Führung eines Handwerksbetriebs wird durch Gesetz vom 24. 12. 2003 erleichtert. Minijobs und Ich-AG (Gesetz vom 20. 12. 1999) sollen die öffentlichen Kassen bei durch hohe Arbeitskosten mitverursachter Arbeitslosigkeit entlasten. Dem dient auch die Einführung einer Maut für Lastkraftwagen auf Autobahnen zum 1. 1. 2005 (Gesetz vom 5. 4. 2002), deren Ausdehung uaf Personenkraftwageb absehbar sein wird.
In Österreich wird 1981 ein Mediengesetz erlassen.
Im Steuerrecht erhöhen zunächst die Besatzungsmächte zur Bekämpfung des Währungsverfalls die Steuern sehr stark.
In den folgenden Jahren werden zwecks Förderung bestimmter Bereiche die Steuern teils gesenkt und Steuervergünstigungen geschaffen, wegen des wachsenden Finanzbedarfs diese aber teils wieder aufgehoben und die Steuern erhöht, so dass das Steuerrecht sehr unübersichtlich wird. Wesentlichere Veränderungen betreffen die Ehegattenbesteuerung (18. 7. 1958), die Umgestaltung der Allphasenumsatzsteuer zur Nettoumsatzsteuer (Mehrwertsteuer, 29. 5. 1967) und die Übertragung der Zuständigkeit für Kriminalstrafen in Steuersachen auf die ordentlichen Gerichte (10. 8. 1967). Das Zinsabschlaggesetz vom 9. 2. 1992 führt eine 25 %ige Quellensteuer auf Zinserträge mit Grundfreibeträgen ein. Eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom August 1995 fordert die Besteuerung des Grundeigentums durch Erbschaftsteuer und Vermögensteuer nach Maßgabe seines Ertrags.
Die am 16. 3. 1976 verkündete neue Abgabenordnung fasst die verstreuten Vorschriften des allgemeinen Steuerrechts zusammen.
1988 wird eine Steuerreform mit dem Ziel der Stärkung des Leistungswillens und der Vereinfachung des Steuersystems beschlossen. Zur Finanzierung bestimmter Steuersenkungen werden dabei andere Steuern erhöht.
Im Sozialrecht wird die Sozialversicherung weiter ausgebaut.
In der Krankenversicherung werden die Arbeiter den Angestellten hinsichtlich der Lohnfortzahlung im Krankheitsfall gleichgestellt (Lohnfortzahlungsgesetz 27. 7. 1969/1. 1. 1970, 1994 Entgeltfortzahlungsgesetz) und die selbständigen Landwirte sowie die Studenten in die gesetzliche Krankenversicherung aufgenommen. In der Unfallversicherung werden Schüler und Studenten erfasst (1971) und der Unfallschutz auf Fahrten von und zur Arbeitsstätte ausgedehnt. Die Rentenversicherung wird dynamisiert und damit laufend an die allgemeine Einkommensentwicklung angepasst (23. 2. 1957, in Österreich, wo 1955 die allgemeine Sozialversicherung eingeführt wird, 1965) sowie durch die flexible Altersgrenze verbessert (16. 10. 1972). 1994 beträgt die gesamte Beitragsbelastung der Arbeitgeber und Arbeitnehmer 39,2 % des Bruttoarbeitsentgeltes (mit einem geschätzten Wachstum auf rund 50 % im Jahre 2040). Zum 1. 4. 1995 wird eine besondere Pflegeversicherung eingeführt. 2001 wird die private Zusatzaltersversorgung gefördert (Riesterrente). Ab 2005 wird die gesetzliche Altersrente schrittweise versteuert und dafür der eigene Beitrag zur Altersversorgung schrittweise steuerfrei. Mit zahlreichen Maßnahmen werden Arbeitslosigkeit und Schwarzarbeit ohne durchschlagenden Erfolg bekämpft.
In der Schweiz werden Alters- und Hinterlassenenversicherung 1946 und Invalidenversicherung 1959 geregelt.
Daneben werden ein allgemeines, später einkommensunabhängiges Kindergeld (15. 11. 1954, 31. 1. 1975), eine verbesserte allgemeine Ausbildungsförderung (26. 8. 1971) und ein der finanziellen Sicherstellung des angemessenen Wohnens dienendes Wohngeld (23. 6. 1960, 29. 3. 1963, 1. 4. 1965) eingeführt. Die früheren Reichsgrundsätze öffentlicher Fürsorge gehen im Wesentlichen in das Bundessozialhilfegesetz (30. 6. 1961) ein. Zum 1. 1. 1976 tritt der allgemeine Teil eines die Reichsversicherungsordnung ablösenden Sozialgesetzbuchs (11. 12. 1975) in Kraft, durch den das Sozialrecht übersichtlicher werden soll. Weitere Teile folgen (II Grundsicherung für Arbeitssuchende 2004, III Arbeitsförderung 1997, IV Gemeinsame Vorschriften für die Sozialversicherung 1977, V Gesetzliche Krankenversicherung 1989, VI Gesetzliche Rentenversicherung 1992, VII Gesetzliche Unfallversicherung 1996, VIII Kinder- und Jugendhilfe 1991, IX Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen 2001, X Verwaltungsverfahren 1980, XI Soziale Pflegeversicherung 1995, XII Sozialhilfe 2005). 1985 werden zur Förderung der Familien Erziehungsgeld und Erziehungsurlaub gewährt. Andererseits werden zur Sicherung der öffentlichen Haushalte öffentliche Sozialleistungen auch gekürzt (z. B. 1988 Gesundheitsreform) und Maßnahmen zur Bekämpfung der abgabenschädlichen Schwarzarbeit verabschiedet (1981, 1982).
In der DDR beruht die Verwaltung auf der Grundlage des demokratischen Zentralismus, zu dessen Gunsten das föderalistische Prinzip und die kommunale Selbstverwaltung beseitigt werden. Ein Berufsbeamtentum gibt es nicht mehr. Die Sozialversicherung wird bereits 1945 verstaatlicht.
3. Verfahren
a) Organisation
Die bisherige Gerichtsorganisation wird im Wesentlichen beibehalten (ausgenommen der aufgelöste Volksgerichtshof). Die meisten Juristen werden trotz ihrer früheren Zugehörigkeit zur NSDAP (z. B. am OLG Celle 90 % der Richter und Staatsanwälte) weiterverwendet.
Schon die Besatzungsmächte ordnen die Wiedererrichtung von Verwaltungsgerichten an (10. 10. 1946) und schaffen eine besondere Arbeitsgerichtsbarkeit (30. 4. 1946). Außerdem wird für die britische Zone ein oberster Gerichtshof errichtet.
Danach legt bereits das Grundgesetz fest, dass die Einhaltung der Verfassung durch ein Bundesverfassungsgericht gewährleistet wird und dass gegen jede Verletzung von Rechten durch die öffentliche Gewalt der Rechtsweg offensteht (Rechtsweggarantie), wobei subsidiär der ordentliche Rechtsweg gegeben ist. Die ordentliche Gerichtsbarkeit ist in Amtsgerichte, Landgerichte, Oberlandesgerichte(, bis 2005 ein bayerisches oberstes Landesgericht) und den Bundesgerichtshof in Karlsruhe (8. 10. 1950) eingeteilt. In Arbeitssachen sind nach dem Arbeitsgerichtsgesetz (3. 9. 1953) Arbeitsgerichte, Landesarbeitsgerichte und das Bundesarbeitsgericht in (früher Kassel bzw. nach 1990) Erfurt (mit jeweils Berufsrichtern und ehrenamtlichen Richtern) zuständig. Als Obergericht in Verwaltungsstreitigkeiten wird durch Gesetz vom 23. 9. 1952 das Bundesverwaltungsgericht in (früher Berlin bzw. durch Gesetz vom 21. 11. 1997) Leipzig geschaffen und außerdem werden durch die Verwaltungsgerichtsordnung (21. 1. 1960) einheitlich Verwaltungsgerichte und Oberverwaltungsgerichte bzw. Verwaltungsgerichtshöfe vorgesehen sowie als Folge eines Gesetzes vom 9. 7. 2001 die besonderen Disziplinargerichte in die Verwaltungsgerichte eingegliedert. Das Sozialgerichtsgesetz vom 3. 9. 1953 legt für die Sozialgerichtsbarkeit die Gliederung in Sozialgerichte, Landessozialgerichte und das am 11. 9. 1954 in Kassel eröffnete Bundessozialgericht fest. Außerdem entstehen für Steuerstreitigkeiten die Finanzgerichte, an deren Spitze der seit dem 1. 9. 1950 tätige Bundesfinanzhof in München steht.
An die Stelle des ursprünglich vom Grundgesetz vorgesehenen Obersten Bundesgerichts ist durch Gesetz vom 18. 6. 1968 der Gemeinsame Senat der genannten Bundesgerichte getreten, welcher der Wahrung der Einheitlichkeit der Rechtsprechung der verschiedenen Gerichtszweige dienen soll.
Dem Bundesverfassungsgericht entsprechen auch in den Ländern Verfassungsgerichte. Außerhalb des staatlichen Rechts stehen der europäische Gerichtshof und zu seiner Entlastung das Gericht erster Instanz der Europäischen Gemeinschaften (bzw. besondere Fachgerichte) in Luxemburg sowie (früher die europäische Menschenrechtskommission bzw. jetzt) der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg, die unter bestimmten Voraussetzungen ebenfalls (teils nur von Staaten, teils auch von Einzelnen) angerufen werden können.
Die Zahl der (wissenschaftlich ausgebildeten) Volljuristen steigt bis 1990 auf mehr als 100000 und bis 1995 auf mehr als 150000 an, wovon der zunehmend größere Teil als Rechtsanwalt (u. a. auch als Fachanwalt für besonders ausgewählte Fachgebiete) tätig ist. 2001 wird die Ausbildung in Richtung auf mehr Praxisnähe abgeändert. Zum 1. 7. 2004 wird das Gebührenrecht der Rechtsanwälte umgestellt. Durch Gesetz vom 18. 10. 1996 werden die besonderen Gerichtsferien als Einrichtung abgeschafft.
Die DDR, in der die Rechtsprechung zur Lösung der Aufgaben der sozialistischen Staatsmacht beitragen soll, kennt weder eine Verfassungsgerichtsbarkeit noch eine Verwaltungsgerichtsbarkeit (seit 1. 7. 1989 Möglichkeit, behördliche Entscheidungen [u. a. in Reiseangelegenheiten, Bauangelegenheiten, bei Gestattung von Veranstaltungen oder Anerkennung von Vereinigungen] einer kreisgerichtlichen Überprüfung zuzuführen). Im Übrigen ist die Gerichtsbarkeit in das Oberste Gericht, die (15) Bezirksgerichte, die Kreisgerichte und die besonderen gesellschaftlichen Gerichte (Konfliktkommissionen in Betrieben, Schiedskommissionen in Wohngebieten) gegliedert. Die Richter werden durch Volksvertretung oder die Bürger (auf 6 Jahre) gewählt und können jederzeit abberufen werden (Volksrichter).
b) Ablauf
aa) Zivilverfahren
Die Zivilprozessordnung wird auch nach der Neubekanntmachung durch das Gesetz zur Wiederherstellung der Rechtseinheit auf dem Gebiet der Gerichtsverfassung usw. (12. 9. 1950), durch das nationalsozialistisches Gedankengut entfernt und die inzwischen eingetretene Rechtszersplitterung aufgehoben wird, vielfach geändert. Besonders bedeutsam sind dabei die zur Anpassung an den Währungsverfall und zur Entlastung erfolgenden Erhöhungen der Zuständigkeitsgrenzen des Amtsgerichts und der Revisionssummen sowie die dem Schuldnerschutz dienenden Verschiebungen der Pfändungsgrenzen. Durch das Gesetz zur Entlastung der Landgerichte (20. 12. 1974) werden unter dem Druck der leeren öffentlichen Kassen außerdem die Rechte des Einzelrichters wesentlich erweitert. 1980 wird das Armenrecht durch die Beratungshilfe und die Prozesskostenhilfe ersetzt. Durch Gesetz vom 15. 12. 1999 soll die außergerichtliche Streibeilegung durch Vorschaltung einer Schlichtungseinrichtung vermehrt werden, doch ist dieser Maßnahme kein sichtbarer Erfolg beschieden. 2001 wird im Rahmen des Gesetzes zur Reform des Zivilprozesses vom 27. 7. 2001 die Revision überwiegend von einer besonderen Zulassung abhängig gemacht.
Zum 1. 1. 1999 tritt an die Stelle des Konkursverfahrens das Insolvenzverfahren, das die Sanierung insolventer Unternehmen erleichtern soll und auch für Nichtunternehmer ein erleichtertes Involvenzverfahren mit anschließender Restschuldbefreiung eröffnet.
In Österreich wird 1983 die Entlastung der Gerichtsbarkeit durch eine Novelle zur Zivilprozessordnung angestrebt (Beschränkung der Senatsgerichtsbarkeit und der Revisionsmöglichkeit).
bb) Strafverfahren
Auch die Strafprozessordnung wird vielfach abgeändert, wobei zunächst die Beseitigung des nationalsozialistischen Gedankenguts angestrebt und dann 1965 und 1969 auch die Verfolgungsverjährung für nationalsozialistische Verbrechen eingeschränkt wird. Daneben dient eine Reihe von Reformen der Verbesserung der Stellung der Beschuldigten, die im Interesse einer funktionstüchtigen Strafrechtspflege wenig später wieder verschlechtert wird (1974 Beseitigung der gerichtlichen Voruntersuchung und des sog. Schlussgehörs, Möglichkeit des Verteidigerausschlusses und der Verhandlung in Abwesenheit des Angeklagten, Möglichkeit des Absehens von der Verfolgung geringfügiger Vergehen, 1978 Einführung der Trennscheibe). Darüber hinaus wird die Einführung der gesonderten Entscheidung über die Schuld (Schuldinterlokut) erwogen. 1987 werden verschiedene Einzelheiten mit dem Ziel geändert, umfangreichere Strafverfahren zu beschleunigen und die Strafjustiz zu entlasten. 1998 werden alle nationalsozialistischen Unrechtsurteile aufgehoben.
1974 wird die Bezeichnung Geschworene aufgegeben. Seit 1976 verpflichtet ein Gesetz den Staat zur Entschädigung von Opfern von Gewaltverbrechen. Vom Tatsächlichen her erleichtert die seit 1984 entdeckte, 1988 in Großbritannien erstmals angewandte Untersuchung der Desoxyribonukleinsäure des menschlichen Zellkerns (DNA-Analyse, genetischer Fingerabdruck) den Nachweis der Täterschaft eines Individuums auch bei geringsten Spuren (z. B. Speichelspur an Zigarettenkippe).
cc) Verwaltungsgerichtsverfahren
Eine einheitliche Neuordnung des Verwaltungsstreitverfahrens erfolgt durch die Verwaltungsgerichtsordnung (21. 1. 1960), die das Verwaltungsgerichtsgesetz der amerikanischen (und französischen Zone) sowie die Militärverordnung Nr. 165 der britischen Zone ablöst. Sie kennt vor allem Anfechtungsklage, Verpflichtungsklage, Feststellungsklage und allgemeine Leistungsklage. Außerdem regelt sie für die Anfechtungsklage und Verpflichtungsklage das Vorverfahren einheitlich, in dem vor Erhebung der Klage Rechtmäßigkeit und Zweckmäßigkeit des Verwaltungsakts bzw. seiner Ablehnung von Verwaltungs(ober)behörden nachzuprüfen sind. Dieses Vorverfahren beginnt grundsätzlich einheitlich mit der Erhebung eines Widerspruchs.
dd) Sonstige Verfahren
Die übrigen Streitverfahren sind in besonderen Verfahrensgesetzen, die vielfach auf die Zivilprozessordnung Bezug nehmen, geregelt (Bundesverfassungsgerichtsgesetz 1951, Arbeitsgerichtsgesetz 1953, Sozialgerichtsgesetz 1953, Finanzgerichtsordnung 1965). Wegen der ständigen Zunahme der Belastung dieser Gerichte bemüht sich der Gesetzgeber um Vereinfachung und Beschleunigung der Verfahren (z. B. seit 1. 12. 2004 elektronischer Zugang). Die Erfolge sind begrenzt.
In der DDR wird das Verfahrensrecht neu geordnet in der Zivilprozessordnung vom 19. 6. 1975 und der Strafprozessordnung vom 12. 1. 1968. Wesentlich ist die Beteiligung des Staatsanwalts, dessen Stellung 1977 neu geordnet wird, in allen Verfahren. Ihm steht als besonderes Rechtsmittel der Protest zu. Der Verteidiger darf nicht einseitig die Interessen des Mandanten vertreten.
Lit.: Freudiger, K., Die juristische Aufarbeitung von NS-Verbrechen, 2002; Fricke, K., Politik und Justiz in der DDR, 2. A. 1990; 25 Jahre Bundesarbeitsgericht, hg. v. Gamillscheg, F. u. a., 1975; Das Oberste Gericht der DDR-Rechtsprechung im Dienste des Volkes, 1989; Pflüger, A., Die Prozessflut bei deutschen Zivilgerichten (1921-34), 1992 (Diss. Berlin); Prozessflut? Studien zur Prozesstätigkeit europäischer Gerichte, hg. v. Blankenberg, E., 1988; Reiland, W., Die gesellschaftlichen Gerichte der DDR, 1971; Schröder J., Das Bundesministerium der Justiz und die Justizgesetzgebung 1949-1989, in: 40 Jahre Rechtspolitik im freiheitlichen Rechtsstaat, 1989; Zimmermann, R., Der oberste Gerichtshof für die britische Zone (1948-1950), ZNR 3 (1981)
4. Strafe
Das Strafrecht wird zunächst vom nationalsozialistischen Gedankengut gereinigt. Danach werden zahlreiche Reformgedanken aufgenommen. Sie führen zu einer Neufassung des Strafgesetzbuchs (2. 1. 1975, weitere Neufassung am 13. 11. 1998).
a) Strafzweck ist demnach, wie es der von 14 Strafrechtslehrern 1966 vorgelegte sog. Alternativentwurf fordert, vor allem die Resozialisierung des Täters. Durch den Strafvollzug soll der Täter gebessert werden (Spezialprävention). Ziel ist, dass er künftig keine Straftaten mehr begeht und die Gemeinschaft vor weiteren Straftaten geschützt ist.
b) Eine Tat kann nur bestraft werden, wenn die Strafbarkeit bereits vor der Tat gesetzlich festgelegt ist, womit Analogie und Rückwirkung grundsätzlich ausgeschlossen sind. Da weiter Schuld Voraussetzung einer Strafe ist, sind alle durch einen schuldlos herbeigeführten Erfolg qualifizierten Tatbestände aufgegeben. Strafbar sind nur noch Verbrechen und Vergehen, während die früheren Übertretungen zwecks Entkriminalisierung von Bagatellfällen in das Ordnungswidrigkeitenrecht überführt sind (1968/1969).
Hinsichtlich des allgemeinen Aufbaues des Straftatbestands besteht in der Wissenschaft vielfältiger Streit. Insgesamt wird zunächst die früher vorherrschende kausale Handlungslehre von der sog. finalen Handlungslehre zunehmend zurückgedrängt. In der sozialen Handlungslehre kommt es zu einem Ausgleich.
Danach gehört der Vorsatz als subjektiver Tatbestand zum Tatbestand im engeren Sinn und auch zur Schuld. Der Verbotsirrtum schließt nunmehr, wenn er unvermeidbar ist, die Entstehung von Schuld aus. Er führt, wenn er vermeidbar ist, zur Möglichkeit der Milderung der Strafe.
c) Bei den einzelnen Delikten des besonderen Teiles (1993 rund 6,75 Millionen erfasste Straftaten, davon rund 4 Millionen Diebstähle) wirkt sich die seit den 60er Jahren stattfindende Liberalisierung aus. 1969 werden einfache Homosexualität, Unzucht mit Tieren und Ehebruch (Österreich 1996) straflos, 1973 Missbrauch von Abhängigen und Zuhälterei zum Vergehen zurückgestuft und Kuppelei und Pornographie entschärft, 1995 Homosexualität straffrei. Bei der Abtreibung wird nach dem Scheitern der sog. Fristenlösung (1974), die einen Schwangerschaftsabbruch generell innerhalb einer 12-Wochen-Frist zulassen will, eine Indikationslösung, die dafür bestimmte Voraussetzungen erfordert, eingeführt (18. 5. 1976), die das Bundesverfassungsgericht jedoch für verfassungswidrig erklärt. 1995 wird eine abgeänderte Fristenlösung beschlossen. Die Vergewaltigung in der Ehe wird 1997 strafbar.
Umgekehrt werden zunächst zur Bekämpfung des Terrorismus neue Straftatbestände geschaffen (1971, 1976). Ebenso wird gegen Wirtschaftskriminalität entschiedener vorgegangen (1976 Subventionsbetrug, Konkursstraftaten, Geldwäsche). Außerdem verschärft sich allmählich die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs zur Trunkenheit am Steuer. 1980 wird das Umweltstrafrecht umfassend in das Strafgesetzbuch einbezogen. 1990 wird ein Embryonenschutzgesetz geschaffen. Danach werden Strafbestimmungen gegen die mit Hilfe des Internet weit verbreitete Kinderpornographie erlassen.
d) Von den Strafen wird die Todesstrafe durch das Grundgesetz (1949) beseitigt. Im Zuge der späteren Reformen wird 1969 die (besondere) Zuchthausstrafe abgeschafft (einheitliche Haftstrafe), die kurze Freiheitsstrafe wegen ihrer schädlichen Folgen eingeschränkt und werden für die Geldstrafe nach skandinavischem Vorbild durch Verhängung von Tagessätzen die persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse des Täters berücksichtigt (1969/1975). Den Resozialisierungsbestrebungen dienen neben der schon 1953 zugelassenen Strafaussetzung zur Bewährung von Freiheitsstrafen bis zu 9 Monaten und bedingten Entlassung zur Bewährung die Unterbringung persönlichkeitsgestörter Täter in einer sozialtherapeutischen Anstalt (1969) sowie die Verwarnung mit Strafvorbehalt. Bedeutung gewinnt auch ein unmittelbarer Ausgleich zwischen Täter und Opfer. Der Strafvollzug, der aber in vielen Fällen den Rückfall nicht verhindern kann, wird gesetzlich geregelt (16. 3. 1976).
In der DDR löst das Strafgesetzbuch vom 12. 1. 1968 zum 1. 7. 1968 das Reichsstrafgesetzbuch des Jahres 1871 ab. Es betont die Spezialprävention, beruht auf dem Schuldprinzip und scheidet die Übertretungen aus dem Strafrecht aus. Die besonderen Tatbestände werden zum Teil neu gefasst. Zu den Strafen zählt (wie beispielsweise auch in Belgien bis 1996) bis 1987 auch die Todesstrafe. Im Strafvollzug, der in einem Gesetz vom 12. 1. 1968 geregelt wird, soll vor allem gesellschaftlich nützliche Arbeit geleistet werden. Zum 1. 7. 1989 werden in das Strafgesetzbuch neue Formen von Eigentumsdelikten sowie Tatbestände von Verstößen gegen Umweltschutz und Datenschutz aufgenommen.
In Österreich wird 1950 (im standgerichtlichen Verfahren 1968) die Todesstrafe abgeschafft. 1973/1975 wird das Strafrecht reformiert, nachdem bereits 1969 ein Strafvollzugsgesetz geschaffen worden war. Das Strafrechtsänderungsgesetz von 1987 ordnet das Umweltstrafrecht neu und führt den Strafbestand der Vergewaltigung in der Ehe ein. Ab 1. 7. 1989 ist die körperliche Züchtigung als Mittel der Kindererziehung verboten (§ 146a ABGB).
Lit.: Das Strafgesetzbuch, hg. v. Vormbaum, T. u. a., 1999; Kloepfer, M., Zur Geschichte des deutschen Umweltrechts, 1995; Schuller, W., Geschichte und Struktur des politischen Strafrechts in der DDR bis 1968, 1980; Schünemann, B., Die deutschsprachige Strafrechtswissenschaft nach der Strafrechtsreform, GA 1985, 341, 1986, 293; Tiedemann, K., Stand und Tendenzen von Strafrechtswissenschaft und Kriminologie in der Bundesrepublik Deutschland, JZ 35 (1980), 489
5. Kirche
Das Recht der katholischen Kirche wird am 27. 11. 1983 in einem neuen Codex iuris canonici neu geordnet (Allgemeine Normen, Kirchenverfassung, Verkündigungsdienst der Kirche, Sakramente, Kirchenvermögen, Strafen, Prozessrecht).
III. Privater Bereich
Im Privatbereich ergeben sich die Veränderungen aus einer Vielzahl von Einzelgesetzen (Neufassung des Bürgerlichen Gesetzbuchs durch Gesetz vom 2. 1. 2002), Entscheidungen und wissenschaftlichen Arbeiten.
Lit.: Bedau, M., Entnazifizierung des Zivilrechts, 2004; Larenz, K., Kennzeichen geglückter Rechtsfortbildung, 1965; Das neue Zivilrecht der DDR, hg. v. Westen, K., 1977; Zöllner, W., Zivilrechtswissenschaft und Zivilrecht im ausgehenden 20. Jahrhundert, AcP 188 (1988), 85
1. Allgemeiner Teil
a) Im Recht der natürlichen Personen setzt das Gesetz vom 31. 7. 1974 das Volljährigkeitsalter und damit zugleich die grundsätzliche Ehemündigkeit auf das vollendete 18. Lebensjahr fest (in Österreich 1973 Volljährigkeit mit 19 Jahren, später ebenfalls mit 18 Jahren). Daneben erkennt die Rechtsprechung auf Grund der Art. 1, 2 des Grundgesetzes auch über die bisherigen Einzelausprägungen hinaus ein allgemeines Persönlichkeitsrecht an. Das im Dritten Reich aus dem Bürgerlichen Gesetzbuch entfernte Verschollenheitsrecht wird gesetzlich neu gefasst (1951).
Bei den Personenverbänden setzt sich die Gleichstellung des nichtrechtsfähigen Vereins mit dem rechtsfähigen Verein weiter durch und wird durch Entscheidung des Bundesgerichtshofs vom 29. 1. 2001 die Parteifähigkeit der Gesellschaft des bürgerlichen Rechts anerkannt. Umgekehrt wird die strikte Trennung zwischen juristischer Person und ihren Mitgliedern in einzelnen Fällen in der Form der sog. Durchgriffshaftung aufgegeben. Das Umwandlungsgesetz (12. 11. 1956/6. 11. 1969) lässt die einfache Umwandlung zwischen juristischen und natürlichen Personen des Wirtschaftsrechts zu.
Um privates Kapital allgemein nutzbar zu machen, werden durch Gesetz vom 14. 7. 2000 Stiftungen erleichtert und außerdem steuerlich gefördert.
b) In der Rechtsgeschäftslehre werden die Figuren der Duldungsvollmacht und Anscheinsvollmacht weiterentwickelt. Daneben werden die allgemeinen Geschäftsbedingungen, die zwar die Rationalisierung des Massengeschäfts fördern, aber zugleich vielfach den wirtschaftlich Schwächeren benachteiligen, einer gesetzlichen Regelung unterworfen (1. 4. 1977), die in erster Linie den Verbraucher schützen soll. Das Haustürgeschäftswiderrufgesetz vom 16. 1. 1986 bestimmt, dass eine auf Abschluss eines Vertrags über eine entgeltliche Leistung gerichtete Willenserklärung eines Kunden in bestimmten Fällen erst wirksam wird, wenn sie der Kunde nicht binnen einer Frist von einer Woche schriftlich widerruft. Das Verbraucherkreditgesetz löst zum 1. 1. 1991 das Abzahlungsgesetz ab. Durch Gesetz vom 20. 12. 1996 wird ein besonderes Teilzeitwohnrecht gesetzlich geregelt, durch Gesetz vom 27. 6. 2000 der Fernabsatzvertrag. 2002 werden die Verbraucherschutzgesetze in das Bürgerliche Gesetzbuch eingearbeitet.
In Anpassung an die tchnische Entwicklung werden durch Gesetz vom 13. 7. 2001 neue Formvorschriften für den elektronischen Rechtsverkehr geschaffen.
Durch Gesetz vom 20. 12. 2001 ist Prostitution nicht mehr rechtlich sittenwidrig (ProstG).
In Österreich schützt das Konsumentenschutzgesetz vom 8. 3. 1979 in ähnlichen Fällen den Verbraucher gegenüber Unternehmern.
In der DDR wird das Personenrecht nach früheren Einzelgesetzen durch das Zivilgesetzbuch vom 19. 6. 1975, welches das zunächst noch geltende Bürgerliche Gesetzbuch zum 1. 1. 1976 ablöst, neu festgelegt (Handlungsunfähigkeit bis 6, unbeschränkte Handlungsfähigkeit ab 18, Einschränkung des Vereins, Beseitigung der Stiftung).
Lit.: Kastl, K., Das allgemeine Persönlichkeitsrecht, 2004
2. Familie
Das Familienrecht unterliegt umfassenden Wandlungen.
a) Ehe
Das nationalsozialistische Ehegesetz bleibt nach einer gewissen Bereinigung zunächst unverändert erhalten. Dagegen tritt nach einer Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts schon zum 31. 3. 1953 alles dem Gleichberechtigungsgrundsatz der Verfassung entgegenstehende Recht von selbst außer Kraft. Da der Gesetzgeber längere Zeit untätig bleibt, ist der daraus folgende Rechtszustand streitig. Allmählich setzt sich die Ansicht durch, dass die Gütertrennung der gesetzliche Güterstand sein müsse. Das Gleichberechtigungsgesetz vom 18. 6. 1957 bringt dann eine Neuregelung, welche die gegenseitige Verpflichtung der Eheleute zum angemessenen Unterhalt der Familie begründet und die Zugewinngemeinschaft (Gütertrennung mit Wertausgleich der Zugewinne beider Ehegatten nach Auflösung der Ehe) beim Fehlen einer abweichenden ehevertraglichen Regelung zum grundsätzlichen Güterstand (Regelgüterstand) erhebt und daneben Gütertrennung und Gütergemeinschaft als durch abweichende Vereinbarung mögliche Wahlgüterstände zulässt. Eine weitere Veränderung folgt aus der Familienrechtsreform vom 14. 6. 1976, die das Namensrecht stärker egalisiert (Name der Frau kann Familienname werden, seit 1995 ist überhaupt kein gemeinsamer Familienname von Mann und Frau mehr nötig) und das seit etwa 1956 durch die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs und 1961 durch § 48 II EheG im Sinne grundsätzlicher Unauflöslichkeit eingeschränkte Ehescheidungsrecht unter Rückführung in das Bürgerliche Gesetzbuch liberalisiert (Zerrüttungsprinzip mit verbessertem Vermögensausgleich, der den Partner an den Rentenansprüchen des Ehegatten teilhaben lässt).
1979 wird weltweit eine Vereinbarung zur Abschaffung aller Formen der Diskriminierung von Frauen beschlossen. 1996 wird in den Niederlanden vom Parlament die Eheschließung zweier Personen gleichen Geschlechts befürwortet. In Deutschland wird durch Gesetz vom 16. 2. 2001 die eingetragene (gleichgeschlechtliche) Lebenspartnerschaft zugelassen und ihr Recht 2004 noch stärker dem Eherecht angeglichen.
b) Verwandtschaft
Die ebenfalls durch das Gleichberechtigungsgesetz getroffene Regelung der elterlichen Gewalt, welche die Vertretung der Kinder dem Vater überträgt und ihm auch einen Stichentscheid bei fehlender Einigung der Eltern einräumt, wird vom Bundesverfassungsgericht für nichtig erklärt (29. 7. 1959). Am 18. 7. 1979 wird die elterliche Gewalt durch die elterliche Sorge ersetzt, durch welche die Pflichtigkeit der Eltern besonders betont werden soll. Im Rahmen der elterlichen Sorge sind die Kinder in gewissem Umfang an wichtigen Entscheidungen zu beteiligen. Durch Gesetz vom 30. 11. 2000 wird der Eltern gewährte Erziehungsurlaub in Elternzeit umbenannt.
Für die nichtehelichen Kinder besteht die erste Verbesserung nur darin, dass die Unterhaltsverpflichtung des Erzeugers bis zur Vollendung des 18. Lebensjahrs des Kindes verlängert wird (11. 8. 1961). Nach einer Fristsetzung durch das Bundesverfassungsgericht wird dann entsprechend dem Verfassungsauftrag das Gesetz über die rechtliche Stellung der nichtehelichen Kinder beschlossen (19. 8. 1969), das die unehelichen Kinder in nichteheliche Kinder umbenennt und die Verwandtschaft zwischen Kind und Erzeuger anerkennt. Der Unterhaltsanspruch wird erweitert und durch die Regelunterhaltsverordnung (27. 6. 1970) präzisiert. Gegenüber dem ehelichen Kind bleiben aber Unterschiede bestehen (Feststellung der Vaterschaft, Name, elterliche Sorge, Unterhalt, Erbrecht). Am 12. 6. 1991 entscheidet das Bundesverfassungsgericht, dass den Eltern eines nichtehelichen Kindes gemeinsam das Sorgerecht zustehen kann. Durch Gesetz vom 16. 12. 1997 werden nichteheliche Kinder mit ehelichen Kindern erbrechtlich vollständig gleichgestellt.
In mehreren Schritten wird auch die Adoption vereinfacht (1961, 1969, 1973, 1976).
Im Vormundschaftsrecht wird die Entmündigung beseitigt und zum 1. 1. 1992 durch die Betreuung ersetzt.
In der DDR wird das Familienrecht durch das Familiengesetzbuch vom 20. 12. 1965 völlig neu geordnet (Egalisierung im Namensrecht, erleichterte Scheidung ohne Unterhaltsansprüche, Errungenschaftsgemeinschaft, Erziehung der Kinder zu aktiven Erbauern des Sozialismus) (Jugendgesetz von 1964).
In Österreich werden 1975 die Eheleute hinsichtlich des Erwerbs, des Unterhalts und der Haushaltsführung gleichgestellt. 1977 erhalten sie gleiche Zuständigkeiten gegenüber ihren Kindern. 1978 wird das Güterrecht im Sinne der Zugewinngemeinschaft geordnet, erhält der überlebende Ehegatte ein Pflichtteilsrecht und wird durch § 55a EheG eine einvernehmliche Scheidung vor dem Außerstreitrichter zugelassen. Nach sechsjähriger Auflösung der ehelichen Gemeinschaft endet die Widerspruchsmöglichkeit eines nicht schuldigen Ehegatten (z. B. Ehesache Klestil). 1984 ersetzt das Gesetz über die Sachwalterschaft für behinderte Personen die Entmündigungsordnung des Jahres 1916. 1970 wird die Stellung des unehelichen Kindes verbessert. § 166 ABGB überträgt der Mutter 1989 die Obsorge (Pflege, Erziehung, Vertretung, Vermögensverwaltung) und beseitigt für den Regelfall die gesetzliche Amtsvormundschaft. Nach § 167 ABGB kann auf gemeinsamen Antrag beider Elternteile eines unehelichen Kindes diesen die Obsorge erteilt werden, wenn sie mit dem Kind in dauernder häuslicher Gemeinschaft leben. § 186a ABGB verbessert schließlich auch die Rechtsstellung von Pflegeeltern.
Lit.: Blasius, D., Ehescheidung in Deutschland im 19. und 20. Jahrhundert, 1992; Bosch, F., Entwicklungslinien des Familienrechts in den Jahren 1947-1987, NJW 1987, 2617; Gernhuber, J., Neues Familienrecht 1977; Haibach, U., Familienrecht in der Rechtssprache, 1991; Mitterauer, M./Sieder, R., Vom Patriarchat zur Partnerschaft, 2. A. 1980; Offen, J., Von der Verwaltungsgemeinschaft des BGB von 1896 zur Zugewinngemeinschaft, 1994; Vaupel, H., Die Familienrechtsreform in den fünfziger Jahren, 1999
3. Erbe
Die nationalsozialistischen Eingriffe werden rückgängig gemacht durch Aufhebung des Reichserbhofgesetzes (20. 2. 1947) und Wiedereinfügung des Testamentsrechts in das Bürgerliche Gesetzbuch (5. 3. 1953). Die damit beseitigte Sondererbfolge für Erbhöfe wird in der britischen Zone durch eine Höfeordnung (24. 4. 1947/26. 7. 1976) zur Sicherung bestimmter wirtschaftlicher Betriebe wieder eingeführt. Daneben lässt die Rechtsprechung im klaren Widerspruch zum Bürgerlichen Gesetzbuch auch eine Sondererbfolge eines von mehreren Erben in Gesellschaften und Gesellschaftsanteile zu.
Die Erbfolge ändert sich vor allem auf Grund der familienrechtlichen Neuordnung. Nach dem Gleichberechtigungsgesetz (1957) erhöht sich der Erbteil des überlebenden Ehegatten im Falle der Zugewinngemeinschaft um ein Viertel (erbrechtliche Lösung im Gegensatz zur sog. güterrechtlichen Lösung). Erzeuger und nichteheliches Kind erhalten ein gegenseitiges Erbrecht (1969), das zunächst im Fall der Beerbung des Vaters durch nahe Verwandte zu einem Erbersatzanspruch (Wertanspruch) schwindet, zum 1. 4. 1998 aber uneingeschränkt gewährt wird. Das nichteheliche Kind kann außerdem statt dessen schon zu Lebzeiten des Erzeugers einen vorzeitigen Erbausgleich verlangen.
In der DDR wird das Erbrecht ebenfalls durch das Zivilgesetzbuch (1975) neu geregelt. Wegen der umfassenden Beseitigung des Privateigentums und der konfiskatorischen Erbschaftssteuer (45-80 %) ist es aber praktisch bedeutungslos.
In Österreich wird 1970 das Erbrecht der unehelichen Kinder verbessert und 1991 das uneheliche Kind dem ehelichen gleichgestellt, wenn auch der Pflichtteil nach dem Vater testamentarisch halbiert werden kann, wenn zwischen Vater und unehelichem Kind nie ein familiäres Naheverhältnis bestand.
4. Sachen
Seit 1988 wird in Österreich (§ 285 ABGB) und seit 1990 in Deutschland (§ 90a BGB) das Tier nicht mehr als Sache, sondern als Mitgeschöpf bzw. schmerzempfindendes Lebewesen angesehen, wenngleich im Zweifel (in Ermangelung besonderer Vorschriften) das Sachenrecht weiter entsprechend auf Tiere angewendet wird.
Die Stellung des Eigentümers wird zwar auf Grund der im Grundgesetz niedergelegten Sozialbindung diskutiert, aber außer durch das Baurecht und vielleicht Wirtschaftsrecht nicht stärker angegriffen. Das Grundstücksverkehrsgesetz (28. 7. 1961) fordert in Fortführung der Grundstücksverkehrsbekanntmachung von 1918 eine staatliche Genehmigung für die Veräußerung landwirtschaftlicher und forstwirtschaftlicher Grundstücken. Außerhalb des Bürgerlichen Gesetzbuchs wird (aus sozialpolitischen Erwägungen [Eigentum macht frei]) ein besonderes Eigentum an Wohnungen (Wohnungseigentumsgesetz 15. 3. 1951, in Österreich 1948) sowie ein Dauerwohnrecht zugelassen.
Neben dem Eigentum gewinnt wegen des immer weiter verbreiteten Eigentumsvorbehalts die Anwartschaft als eine mit dem Eigentum wesensgleiche Vorstufe, auf die das Eigentumsrecht entsprechend anzuwenden ist, erhebliche Bedeutung.
Sicherungsübereignung und (Sicherungs-)Grundschuld drängen das Pfandrecht und Hypothekenrecht weiter zurück. Die Rechtsprechung lehnt die Anerkennung des gutgläubigen Erwerbs gesetzlicher Pfandrechte (Werkunternehmer) ab.
In der DDR ist der Eigentumsbegriff aufgespalten. An dem die wesentlichen Vermögensgüter erfassenden sozialistischen Eigentum ist nur eine Nutzung des Bürgers möglich. Das auf Arbeitseinkünfte, Erfinderrechte, Wohnungsausstattung, Gegenstände des persönlichen Bedarfs sowie der Befriedigung der Wohnbedürfnisse und Erholungsbedürfnisse dienende Grundstücke und Gebäude beschränkte persönliche Eigentum darf nur unter Beachtung gesellschaftlicher Interessen benutzt werden. Das Zivilgesetzbuch (1975) gibt Abstraktionsprinzip, gutgläubigen Erwerb, Besitzrecht, Grunddienstbarkeit, Erbbaurecht und Grundschuld weitgehend auf und führt ein besitzloses Pfandrecht ein.
5. Schulden
a) Grundsatz bleibt die Privatautonomie, die allerdings außer durch die nachkriegsbedingte Zwangswirtschaft auch durch die zunehmende Konzentration in der Wirtschaft und die dadurch verursachte Ungleichheit der Rechtssubjekte beeinträchtigt und außerdem insbesondere durch allgemeine Geschäftsbedingungen in weiten Bereichen fast ganz beseitigt wird. Andererseits führt die wissenschaftliche Diskussion dazu, dass der auch vom Bundesgerichtshof zeitweise anerkannte, bloß tatsächliches Verhalten erfordernde faktische Vertrag wieder zurückgedrängt wird. Die Formfreiheit wird wegen der Missstände auf dem der Hochkonjunktur unterworfenen Bausektor insoweit eingeschränkt, als auch die Verpflichtung zum Erwerb des Eigentums an Grundstücken der Beurkundung, die im übrigen seit dem 28. 8. 1969 generell den Notaren vorbehalten ist, bedürftig gemacht wird (30. 5. 1973).
Daneben wird der allgemeine Teil des Schuldrechts von Rechtsprechung und Rechtswissenschaft weiter ausgebaut. Insbesondere wird der Anwendungsbereich des Grundsatzes von Treu und Glauben erweitert. Außerdem wird etwa der Wegfall der Geschäftsgrundlage stärker beachtet, der Schadensbegriff, bei dem eine eindeutige Tendenz zur Kommerzialisierung von Nichtvermögensschäden sichtbar wird, vertieft, beim Rücktritt ein Rückgewährschuldverhältnis anerkannt, der Vertrag mit Schutzwirkung zugunsten leistungsnaher schutzbedürftiger Dritter herausgearbeitet und werden die Globalabtretung und Sicherungsabtretung zugelassen.
1998 wird die Haftung Minderjähriger auf das bei Eintritt der Volljährigkeit vorhandene Vermögen beschränkt. 2002 wird der Schmerzensgeldanspruch deutlich verallgemeinert und aus Anlass einer Veränderung des europäischen Gewährleistungsrechts außer den Verjährungsfristen (regelmäßige Verjährung binnen dreier Jahre) durch Gesetz vom 26. 11. 2001 das gesamte Leistungsstörungsrecht neugestaltet (Nichterfüllung statt Unmöglichkeit und positiver Forderungsverletzung, Nacherfüllung). Bei Geldschulden tritt nach einem Gesetz vom 30. 3. 2000 Verzug auch ohne Mahnung 30 Tage nach Rechnungsstellung ein.
b) Bei den einzelnen rechtsgeschäftlichen Schuldverhältnissen finden sich vor allem beim Kauf, der Miete und dem Dienstvertrag Veränderungen.
Im Kaufrecht führen soziale Überlegungen zu mehreren Reformen des Abzahlungsgesetzes. 1969 werden die Schriftform und die Klarlegung des tatsächlichen Ratenzuschlags verbindlich und wird die Möglichkeit der Gerichtsstandsvereinbarung eingeschränkt. 1974 erhält der Käufer ein befristetes unverzichtbares Widerrufsrecht. 1990 wird das Abzahlungsgesetz durch das weiterreichende Verbraucherkreditgesetz gänzlich beseitigt. Daneben wird der internationale Kauf von beweglichen Sachen in zwei auf internationalen Vereinbarungen beruhenden Kaufgesetzen (17. 7. 1973) völlig neu geordnet, ohne dass sich dies allerdings stärker auswirkt.
Das Mietrecht unterliegt nach dem Krieg der Zwangsbewirtschaftung und dem Preisstopp, die im Wohnraumbewirtschaftungsgesetz (1953) und im Bundesmietengesetz (1955) neu geregelt werden. Mit dem Wiederaufbau wird in der Folge die Zwangswirtschaft eingeschränkt (1960 Gesetz über den Abbau der Wohnungszwangswirtschaft und über ein soziales Miet- und Wohnrecht) und dann grundsätzlich völlig aufgegeben (31. 12. 1967). Der Mieter wird aber durch soziale Regelungen neuer Gesetze geschützt (1971/1974 Wohnraumkündigungsschutzgesetze, 19. 6. 2001 Mietrechtsreformgesetz).
In Österreich will das Mietrechtsgesetz marktwirtschaftliche Aspekte einbringen.
Das Darlehensrecht wird 2002 in den Darlehensvertrag (für Gelddarlehen) und das Sachdarlehen aufgetrennt.
Das Dienstvertragsrecht spaltet sich endgültig in das Recht der selbständigen und unselbständigen Dienste auf, wobei das letztere sich in der Form des Arbeitsrechts weitgehend verselbständigt.
1979 wird der Reisevertrag als besonderer Vertragstyp des Werkvertrags gesetzlich geregelt.
c) Für die ungerechtfertigte Bereicherung werden die beiden Typen der Leistungskondiktion und der Nichtleistungskondiktion grundsätzlich unterschieden. Bei der unerlaubten Handlung wird eine Auseinandersetzung mit den neuen strafrechtsdogmatischen Erkenntnissen gefordert. Als neues deliktisch geschütztes Rechtsgut wird das allgemeine Persönlichkeitsrecht angenommen. Der Einschränkung der Schadensersatzpflicht dient die Figur des Schutzbereichs der Norm, die außerhalb des Schutzbereichs einer Norm liegende Schäden von der Ersatzpflicht ausschließt. Von der Rechtsprechung wird das Schmerzensgeld entgegen der gesetzlichen Vorschrift und unter Berufung auf das Grundgesetz auch bei bisher nicht erfassten Rechtsgüterverletzungen gewährt. Bei allen deliktisch geschützten Rechtsgütern kann außer Unterlassung von Störungen auch Beseitigung von Schäden verlangt werden.
Die Haftung des Geschäftsherrn für Verrichtungsgehilfen wird als unbefriedigend angesehen, doch scheitert eine gesetzliche Neuregelung. Die Haftung des Produzenten gegenüber dem Endverbraucher wird gefordert, aber erst nach einiger Zeit grundsätzlich anerkannt und danach nur unbefriedigend geregelt (Produktionshaftungsgesetz 1990 aufgrund einer EG-Richtlinie, Österreich 1988). Die Gefährdungshaftung wird in Einzelgesetzen weiter ausgedehnt (Atomgesetz [1959, in Österreich 1964], Wasserhaushaltsgesetz [1957], Produkthaftungsgesetz [1990], Umwelthaftungsgesetz [1991]).
In der DDR wird zunächst durch das unter Betrieben geltende Vertragsgesetz (11. 12. 1957/25. 2. 1965) die Vertragsfreiheit beseitigt und das Arbeitsrecht durch ein Gesetz über Arbeit (12. 4. 1961) und ein Arbeitsgesetzbuch (1977) besonders geregelt. Im Übrigen bieten die positivistischen Generalklauseln des Bürgerlichen Gesetzbuches bis zu seiner Ablösung durch das Zivilgesetzbuch (1976) hinreichende Möglichkeiten zur Verwirklichung sozialistischer Vorstellungen. Das neue Gesetzbuch ordnet dann das Schuldrecht relativ knapp und unter gewisser Bewahrung (z. B. Leistungsstörungen), aber auch erheblicher Abänderung (z. B. Nichtigkeit bei Verstoß gegen die sozialistische Moral) der traditionellen schuldrechtlichen Institute.
Lit.: Ranieri, F., Europäisches Obligationenrecht, 2. A. 2003
6. Handel, Wirtschaft, Arbeit
a) Das Handelsrecht wird 1953 den Handwerkern und 1976 auch den Landwirten eröffnet. Weiter wird das Handelsvertreterrecht unter Ersetzung der Bezeichnung Handelsagent (1953) neu geregelt und ein positiver Schutz des Vertrauens auf die Richtigkeit einer registergerichtlichen Bekanntmachung (1969) eingeführt. Durch Gesetz vom 22. 6. 1998 werden unter Aufgabe der Unterscheidung zwischen Vollkaufmann und Minderkaufmann, Musskaufmann und Sollkaufmann Kaufmann und Handelsgewerbe vereinfacht (Handelsgewerbe ist jeder Gewerbebetrieb, es sei denn, dass das Unternehmen einen in kaufmännischer Weise eingerichteten Geschäftsbetrieb nicht erfordert). Zugabeverordnung und Rabattgesetz werden aufgehoben (23. 7. 2001), die Buchpreisbindung wird aber beibehalten (30. 11. 2000). Das Recht der zahlenmäßig zunächst immer wenigeren (1975 ca. 2200), machtmäßig aber immer bedeutsameren Aktiengesellschaften wird 1959 (Kapitalerhöhung aus Gesellschaftsmitteln, Ausgabe eigener Aktien, Verschärfung der Publizitätsvorschriften), 1965 (Herabsetzung des Mindestnennbetrages, stärkerer Schutz der Aktionäre, Verstärkung der Stellung der Hauptversammlung und der Kontrolle der laufenden Verwaltung, weitere Verschärfung der Publizitätsvorschriften, Regelung des Konzernrechts) und 1979 im Rahmen der Europäischen Gemeinschaft geändert. Durch Gesetz vom 25. 3. 1998 werden Stückaktien zugelassen und durch Gesetz vom 18. 1. 2001 Namensaktien besonders geregelt. Das Genossenschaftsgesetz wird 1973, das Recht der Gesellschaft mit beschränkter Haftung 1981 überarbeitet (Mindeststammkapital 50000 DM, Zulassung der Gründung einer Einmann-GmbH) (in Österreich Reform 1980).
In der DDR ist das Handelsrecht infolge der Verstaatlichung der Privatbetriebe und der Schaffung des Vertragsgesetzes (1957/1965) weitgehend bedeutungslos.
In Österreich ersetzt 1991 ein auf die automatische Datenverarbeitung gestütztes Firmenbuch das Handelsregister. Als kleine eintragbare Gesellschaftsformen werden offene Erwerbsgesellschaft und Kommanditerwerbsgesellschaft eingeführt.
Im Bereich der Wertpapiere gewinnen die Investmentgesellschaften, deren Recht im Gesetz über Kapitalanlagegesellschaften geordnet wird (1957/1970), an Gewicht. Das Pflichtversicherungsgesetz (1965) gibt dem Geschädigten einen Direktanspruch gegen den Versicherer eines auf Schadensersatz haftenden Kraftfahrzeughalters. Das Urheberrecht wird 1965 und auch später unter erheblicher Verbesserung der Stellung des Urhebers reformiert (22. 3. 2002, 20. 9. 2003). 1994 wird ein neues Markenrecht geschaffen.
b) Das Wirtschaftsrecht wird zunehmend durch das europäische Gemeinschaftsrecht beeinflusst. Daneben ist der nationale Gesetzgeber schon früher gezwungen, die aus der steigenden Machtkonzentration in der Wirtschaft erwachsenden Gefahren durch das Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen (Kartellgesetz 27. 7. 1957) zu bekämpfen, das später noch verschärft wird (3. 8. 1973 vorbeugende Fusionskontrolle, Beseitigung der vertikalen Preisbindung für Markenartikel, Verstärkung der Missbrauchsaufsicht). Darüber hinaus räumt das während der Rezession von 1967 verabschiedete Gesetz zur Förderung der Stabilität und des Wachstums der Wirtschaft (8. 6. 1967) dem Staat die Befugnis ein, die Abstimmung der wesentlichen Wirtschaftsmächte anzuregen. Nicht verwirklichte Pläne sehen eine allgemeine Investitionslenkung vor.
In der DDR herrscht die staatliche zentrale Planungswirtschaft.
c) Das Arbeitsrecht wird nach Aufhebung des nationalsozialistischen Arbeitsrechts und Wiederherstellung der älteren Regelungen durch eine Fülle von Einzelgesetzen und höchstrichterlichen Entscheidungen weiter verbessert.
Im Individualarbeitsrecht wird die Vorstellung des Arbeitsvertrags als eines personenrechtlichen Gemeinschaftsverhältnisses aufgegeben. Weiter verlagert die Rechtsprechung das Schadensrisiko zugunsten des Arbeitnehmers, der bei schadensgeneigter Tätigkeit, seit 1994 bei jeder Tätigkeit im Arbeitsverhältnis nicht jeden schuldhaft verursachten Schaden zu ersetzen hat, bei Schäden Dritter vom Arbeitgeber dementsprechend freigestellt werden muss und eigene Schäden auch ohne Verschulden des Arbeitgebers (von diesem bzw. seiner Berufsgenossenschaft) ersetzt erhält (vgl. für Österreich Dienstnehmerhaftpflichtgesetz vom 31. 3. 1965). Außerdem befasst die Rechtsprechung sich intensiv mit der Verbindlichkeit von Gratifikationen. Das Lohnfortzahlungsgesetz (27. 7. 1969) sichert bis zu sechs Wochen den Lohn trotz Nichtleistung von Arbeit infolge Erkrankung (1994 Entgeltfortzahlungsgesetz), das Gesetz über das Konkursausfallgeld (17. 7. 1974) den Lohn trotz Konkurses (bzw. Insolvenz) des Arbeitgebers. Das Bundesurlaubsgesetz (8. 1. 1963) gewährleistet wie ältere Landesurlaubsgesetze einen Mindesturlaub. Das Kündigungsschutzgesetz vom 10. 8. 1951 schreibt für die Kündigung, deren Fristen im Übrigen 1969 neu und 1993 einheitlich geregelt werden, eine soziale Rechtfertigung vor. Das Ausbildungsplatzförderungsgesetz (7. 9. 1976) regelt die finanzielle Förderung der wegen der Kosten und der Einschränkung der Rechte des Ausbildenden unerwartet knapp gewordenen Ausbildungsplätze.
Im Arbeitsschutzrecht werden Heimarbeiterschutz (14. 3. 1951), Jugendschutz (9. 8. 1960, 12. 4. 1976 Jugendarbeitsschutzgesetz), Mutterschutz (24. 1. 1952) und Schwerbeschädigtenschutz (16. 6. 1953, 21. 4. 1974, Schwerbehinderte) neu geordnet. 1979 erhalten Mütter einen Anspruch auf Mutterschaftsurlaub gegen den Arbeitgeber bis zu dem Tag, an dem das Kind 6 Monate alt wird. Das Ladenschlussgesetz (28. 11. 1956) verhindert ungünstige Arbeitszeiten für Ladenangestellte, wird aber auf Anforderung der Wirtschaft deutlich liberalisiert. Die Arbeitsstättenverordnung (20. 3. 1975) stellt bestimmte Anforderungen an die Gestaltung der individuellen Arbeitsstätte.
Für das kollektive Arbeitsrecht sichert nach der Beseitigung nationalsozialistischen Rechts das Grundgesetz die Koalitionsfreiheit. Der Arbeitskampf, als dessen Mittel Streik, Aussperrung und Boykott gelten, ist anerkannt. Das Tarifvertragsrecht wird durch das Tarifvertragsgesetz (11. 1. 1952/25. 8. 1969) geordnet (für Österreich vgl. das Kollektivvertragsgesetz von 1947). Betriebsräte sind schon durch das Betriebsrätegesetz des Kontrollrats (17. 4. 1946) wieder zugelassen (für Österreich vgl. das Betriebsrätegesetz von 1947). Ihr Recht wird erst von Landesgesetzen, dann vom bundeseinheitlichen Betriebsverfassungsgesetz (11. 10 1952/15. 1. 1972) geregelt, das die Arbeitnehmer über den Betriebsrat an der Organisation des Betriebs und des Arbeitsablaufs beteiligt. Durch Gesetz vom 28. 10. 1996 wird dabei eine Regelung für europaweit tätige Unternehmen geschaffen.
Im Bereich der Montanindustrie bringt dagegen schon das Gesetz über die Mitbestimmung der Arbeitnehmer in den Aufsichtsräten und Vorständen der Unternehmen des Bergbaus und der Eisen und Stahl erzeugenden Industrie vom 21. 5. 1951 eine paritätische Mitbestimmung, indem es den Aufsichtsrat im Verhältnis von fünf Arbeitgebervertretern, fünf Arbeitnehmervertretern und einem gemeinsam bestimmten weiteren Mitglied besetzt. Das Mitbestimmungsgesetz vom 4. 5. 1976 führt danach überhaupt für Unternehmen in der Rechtsform einer juristischen Person mit mehr als 2000 Arbeitnehmern die paritätische Besetzung des Aufsichtsrates durch Anteilseigner einerseits und Arbeiter, Angestellte und besondere leitende Angestellte andererseits ein, wobei im Falle mangelnder Einigung der Aufsichtsratsvorsitzende letztlich von den Anteilseignervertretern bestimmt werden kann.
In der DDR ist das Dienstrecht im Gesetz über Arbeit bzw. Arbeitsgesetzbuch vom 12. 4. 1961/23. 11. 1966/1977 geregelt. Es versteht Arbeit als Mitarbeit an der Entwicklung der sozialistischen Gesellschaft. Ein Arbeitskampfrecht ist deshalb überflüssig. Die Mitbestimmung erfolgt als Mitwirkung, wobei die betrieblichen Gewerkschaftsleitungen an der Ausarbeitung und Erfüllung der Pläne sowie an der Leitung des Betriebes mitwirken und die Werktätigen zu einem hohen sozialistischen Bewusstsein erziehen. Besondere Einzelarbeitsvereinbarungen spielen für den Arbeiter und Bauern keine Rolle. 1977 wird das Arbeitsgesetzbuch neu gefasst.
In Österreich wird 1973 ein Arbeitsverfassungsgesetz geschaffen.
7. Internationales Privatrecht
Das im Einführungsgesetz des Bürgerlichen Gesetzbuchs geordnete internationale Privatrecht, das bestimmt, welche von mehreren konkurrierenden nationalen Rechtsordnungen auf einen Einzelfall (z. B. Deutscher heiratet Türkin in Spanien, Schweizer testiert über ein Grundstück in Florida) Anwendung finden soll, wird wegen der sich ständig mehrenden Zahl solcher Fällen am 25. 7. 1986 neu geregelt und durch Gesetz vom 21. 5. 1999 um Vorschriften für außervertragliche Schuldverhältnisse und Sachen ergänzt (Österreich 1978, Schweiz 1989 Internationales Privatrechtsgesetz).